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Ungefähr anderthalb Stunden von Baden liegt das Dorf Haueneberstein (eigentlich Aueneberstein), in dessen Nähe noch die spärlichen Ruinen des ehemaligen Frauenklosters Natthausen sichtbar sind. Von der Entstehung dieser Zelle geht folgende Sage um.
Ein junger lustlebiger Ritter, der in der Nachbarschaft auf einer Burg, die mit ihrem Namen verschwunden, seinen Sitz hatte, ging Abends von einem Trinkgelage nach Hause. Der Wein hatte sein Blut mehr als gewöhnlich aufgeregt. Sein Weg führte ihn an einem steinernen Kreuze vorbei, das dem Wanderer andeuten sollte, hier sei ein Mensch durch Mord gefallen. An dem Kreuze sass eine weibliche Gestalt. Sie schien jung und schön. Er redete sie an: »Wer bist du und was machst du hier?« »Ich besuche allnächtlich dieses Grab«, war ihre Antwort, »denn es schläft hier ein Mann, dem ich verlobt war, und der durch die Hand eines Nebenbuhlers fiel.«
Da sah sich der junge Ritter das wundersame Geschöpf näher an. Keck wie er war zog er den Schleier, der das Gesicht und die schlanke Gestalt zum Theil verhüllte, vollends hinweg. Wie ward ihm da, als er ein Mädchen, schön, wie er all sein Lebtag keines gesehen, vor sich sah! Da umschlang er sie und drückte sie an sich und bat, ob er sie nicht zu seiner nahen Burg geleiten dürfe. Willig liess sie's geschehen, willig verblieb sie bei ihm und liess sich herzen und küssen ohne Ende.
Das Mädchen hatte mehrmals geäussert, sie müsse um Mitternacht zu Hause sein. Der Ritter verhehlte ihr darum die Stunde und suchte sie auf alle Weise zu zerstreuen. Als die Uhr im Nebenzimmer Mitternacht ankündigte, schloss er sie, damit sie den Schlag der Uhr nicht hören solle, in seine Arme und bedeckte ihren Mund mit Küssen. Aber mit einem Male wurden ihre Lippen kalt wie Eis, die Rosen ihrer Wangen verschwanden, Todtenfarbe überzog das blühende Antlitz, die glänzenden Augensterne sanken tief in ihre Höhlen, und der Ritter hielt eine Leiche in seinen Armen.
Die Nacht, in der das Entsetzliche geschehen, verging und der Tag folgte ihr mit seinen Vorbereitungen zum Begräbnisse der Todten. Man hatte das Mädchen in reichem Schmuck auf eine Bahre gelegt. Als aber der Abend hereinbrach und die Todte in die Kapelle getragen werden sollte, siehe, da sass das Mädchen aufgerichtet mit allen Zeichen eines frischen, kräftigen Lebens. Der Ritter schrack zusammen, als er dies hörte; doch fasste er Muth und trat zu ihr: »Erkläre mir, du Wundersame, das Räthsel deines plötzlichen Todes und deines ebenso schnellen Wiedererwachens ins Leben«, sagte er.
»Ich gehöre längst den Toten an«, antwortete das Mädchen; »aber der Spruch des ewigen Richters hat mich verurtheilt, ich solle keine Ruhe finden in meinem Grabe, weil ich leichtsinnig den Tod meines Verlobten verursacht. Jeglichen Tag, sobald die Sonne hinter die westlichen Berge gesunken ist, erwache ich in meiner engen Behausung und gehe hervor und treibe mich herum bis Mitternacht, dann schliesst sich plötzlich wieder mein Auge und ich muss in mein Grab zurück. Wollt Ihr mich Irrende zur Ruhe bringen, Herr Ritter, so baut ein Kloster auf der Stelle, wo Ihr mich zuerst gefunden, und wendet Euch selbst von den müssigen Freuden des Lebens zu Gott.«
Der Ritter gelobte, ihren Wunsch zu erfüllen; er baute ein Frauenkloster, von dessen Dasein nur noch eine dunkle Tradition sich erhalten, und besserte seinen Wandel.
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