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Um die Dämmerstunde, als in Kodrowka die Lampen angezündet wurden, umzog sich der ganze Himmel mit Wolken. Von allen Seiten zogen aus der Taiga schwere Wolkengebirge heran, als ob sie sich auf das Dorf herabstürzen wollten. Mit einem Male war alles still. Alle schwiegen, es bedrückte sie, es war ihnen so seltsam zu Mute. In ihren Hütten sprachen sie nur halblaut, blickten immer wieder zum Fenster hinaus auf die Straße und hörten auf das wachsende Rauschen der Taiga. Vielen war es, als ob sich jemand für den Tod Lechman's an ihnen rächen wollte. Wenn er ein gerechter Mensch war, dann würde Gott sie nicht schonen, wenn er ein sündiger Mensch war, kam es vielleicht doch schlimmer: dann strafte die Taiga sie mit Finsternis, mit Wolkenbruch und Donnerschlägen. Nicht umsonst hörten die alten Leute in dem Rauschen der Taiga das Stöhnen eines verfluchten Zauberers, sein Fluchen, sein Drohen. Es gab bestimmt einen solchen Waldzauberer, daran war kein Zweifel, hört er wie die Taiga rauscht. Herr Gott, bewahre uns … Seht, nur, wie finster es auf einmal wird …
Um die Dämmerstunde, als in Kedrowka die Lampen angezündet wurden, trat der alte Ustin zusammen mit dem Waldbauer Naumenko im Schein ihrer kleinen selbstgemachten Laterne zu dem Leichnam Lechman's, der noch immer unter der Fichte lag.
»Hier liegt er«, sagte Naumenko und hielt die Laterne dem Toten vor das Gesicht.
Lechman lag regungslos mit halboffenen Augen, über seine Wangen und auf seinem zittrigen Bart liefen eilig Ameisen. Ustin und Naumenko bekreuzigten sich lange und ließen sich auf die Kniee nieder.
»Ich werde morgen früh wieder herkommen, Ustin … Ich bringe auch einen Kameraden mit«, sagte Naumenko. »Wir werden dann, weißt Du, Väterchen, morgen früh … sozusagen … einen Sarg zimmern, oder wenigstens etwas ähnliches … Und legen ihn dann in die Erde«. Seine Stimme zitterte.
Es rauschte in den Wipfeln der Bäume, ein wilder Wind trieb da oben sein Spiel, schüttete Berge von Fichtennadeln herab und lachte höhnisch.
»Würdet Ihr mir hier, Kinder, eine kleine Hütte bauen?«
»Was meinst Du?« fragte Naumenko laut und richtete sich auf.
»Eine Hütte, mit Moos ausgestopft … Oder so was wie eine Erdhütte«, bat Ustin und strengte sich an laut zu sprechen, damit Naumenko ihn im Rauschen der Taiga verstand.
»Nun ja … Warum nicht.«
»Ich möchte in Zukunft an diesem Grabe hier leben.«
»Ach, Du mußt lauter schreien! Es rauscht so in der Taiga.«
»Ja, ich habe so ein Gelübde abgelegt. Ich möchte meine letzten Tage hier verleben, um Seelenfrieden für ihn beten.«
»Nun, nun … Das ist ein gutes Werk.«
Naumenko zündet ein Feuer an und begann ein notdürftiges Zelt aus Fichtenästen zu bauen.
»Nun, leb wohl, Ustin … Ich geh jetzt … Hör nur, wie es braust! … Solche Gewalt!«
Aus der Ferne hörte ihn Ustin rufen: »Hast Du keine Angst? So allein?«
»Warum?« rief Ustin zurück. »Wir sind unserer doch zwei,« und warf einen mitleidigen Blick auf die verkrampften Finger Lechmans.
Es war unheimlich im Dorfe, als es zur Nacht ging. Am Himmel standen ganz schwarze Wolken. Man konnte schon nicht mehr unterscheiden, wo die Taiga aufhört und wo der Himmel begann. In der Ferne rollte ununterbrochen der Donner. Irgendwo heult ein Hund auf.
Die Lichter im Dorfe erloschen. Aber niemand schloß ein Auge. Nur bei Prow flackerte noch ein Lämpchen und bei Fedot im Hause. Auch die alte Moschna zündet jetzt eine Viertelpfundkerze vor dem Heiligenbilde an und betet. Vor dem Gewitter hat sie Angst, sie wollte noch nicht sterben, sie wollte noch erst mehr Geld zusammenraffen und dann in ein Kloster gehen … Bei Prow in der Hütte herrscht drückende Stimmung. Prow saß unter den Heiligenbildern, auf derselben Bank, auf der Borodulin gelegen hatte, der erst am Morgen in sein Dorf geschafft worden war.
Andrej ging in der Hütte auf und ab und griff sich ab und zu verständnislos an den Kopf: »Entsetzlich, entsetzlich ist das alles … Und was soll jetzt werden, Prow Michailytsch? … Überleg' Dir doch!«
In der Ofennische saß Matrëna, ganz zusammengesunken, ihre Tränen waren längst versiegt und das Herz tat ihr schon nicht mehr weh: »Tu, Herr mit uns, was Du willst!«
»Matuschka,« sagte Anna leise, die auf zwei Pelzen lag, »Matuschka, sag' doch Väterchen, daß er … Nun, Du weißt doch, eben das …«
Der Sturm zerrt plötzlich an dem Dache, daß er fast die Hütte umwarf.
»So eine Gewalt, mein Gott!« jammerte Prow, vor Verzweiflung wackelt er mit dem Kopfe, schlug mit der Faust auf den Tisch und warf Andrej, der in der Hütte unruhig auf und ab ging, einen haßerfüllten Blick zu.
Der bemerkte es und ging auf die Straße hinaus. Er fühlte es, daß es in seiner Seele wüst aussah. Er wollte am liebsten alles vergessen, einen langen Schlaf tun, aus dem Leben scheiden. Aber die Sünde der Bauern folgte ihm wie ein schwarzer Schatten auf dem Fuße, lachte giftig über ihn, schreckte ihn wie ein Henker sein Opfer, stellte sich vor ihm auf und verlangte kategorisch eine Antwort. Andrej überlief es kalt und heiß. Wie sollte er sich zu den Bauern stellen? Schweigen wie ein Toter, ihre Scheußlichkeiten auf sich beruhen lassen? Er fand keine Antwort und das quälte ihn nur erst recht. Aber das Gedächtnis erinnerte ihn an einen längst vergessenen Vorfall: irgendwo hatte er vor Jahren von einem scheußlichen Mord gehört oder gelesen, den die Bauern an einem unfreiwilligen Zeugen wie ihm begangen hatten, um ihn aus der Welt zu schaffen.
Sie werden auch mich totschlagen, dachte er. Er sah die haßerfüllten Augen Prow's vor sich. Wieder überfiel ihn abwechselnd Hitze und Kälte. Er preßte die Hände an die Schläfen und spürte einen bohrenden Schmerz im Scheitel.
Das Brausen der Taiga wuchs und wuchs. Es war stockfinster. Der Wind jagte die Straße entlang, wirbelte große Staubwolken auf und überschüttete Andrej mit Sand. Andrej zog den Kopf ein und setzte sich auf einen Balken.
»Ach, lehre mich doch … Ich quäle mich so, Mitritsch … Es ist mir alles überdrüssig,« sagte Prow, als er jetzt plötzlich auf Andrej zutrat.
Andrej hörte den Gram, die Verlassenheit und die Wut in seiner Stimme. Prow stöhnte und setzte sich zu ihm. Beide schwiegen lange. Andrej seufzte. Er mußte Prow beruhigen, aber er verstand, daß die Ereignisse stärker waren, als seine Worte.
»Werden sie mich umbringen oder nicht?« zuckte es ihm durch den Sinn.
»Nun, also wie?« fragte Prow. Er saß da, den Rücken gekrümmt und die gefalteten Hände hilflos zwischen den Knien liegend. »Werden sie uns verurteilen?«
»Das ist nicht so wichtig,« sagt Andrej. »Aber daß Eure Kinder und Eure Enkel es einmal besser haben, das ist die Hauptsache.« Er stand auf und hielt sich an der Hausecke fest, damit der rasende Wind ihn nicht zur Erde warf.
»Und wie denkst Du selbst?« fragte Prow mürrisch. »Bist Du für uns?«
Aber der Wind entführte die Worte ehe sie Andrej erreichten. Er hörte sie oder verstand sie wenigstens nicht.
»Sieh Dir zum Beispiel mal die Taiga an,« sagte Andrej, der wieder Mut faßte. »Die wilde Taiga, menschenleer, unwegsam, nur von wilden Tieren und Ungeziefer bewohnt, aber wieviel Reichtum wohnt in ihr … So ist es auch mit unserem Leben bestellt, wie mit der Taiga …« Er atmete schwer und blickte durch das Dunkel der Nacht auf den breiten gekrümmten Rücken Prow's.
»Was müssen wir unternehmen, daß das Leben in der Taiga nicht mehr so schrecklich ist, das alles zum Guten hinausführt, den Leuten zu Nutze? Verstehst Du? Darüber mußt Du nachdenken, Prow Michailytsch!«
»Nun, Mitritsch, nicht darüber … Die Taiga kann nichts dafür.«
»Warte mal, hör' zu!« rief Andrej. »An alles kommt einmal die Reihe!« rief er heftig, seine Rede mit der freien linken Hand unterzeichnend, aber Prow räusperte sich ärgerlich und schüttelte den Kopf.
Andrej verwirrte sich, er hatte es aufgegeben seiner Rede zu folgen, weil seine Gedanken, die Worte überspringend ganz plötzlich zu der dunklen, noch immer nicht entscheidenden Frage zurückgekehrt waren, was er Prow für eine Antwort geben sollte. Wie würde man den Bauern und ihrem Unglück helfen können? Mußte man bleiben oder fliehen? Wenn sie ihn plötzlich umbringen? – fuhr es ihm wieder in die Seele. Jetzt lauschte er nur noch mit dem Rande seines Ohres auf den Fluß seiner Rede und hatte die ärgerliche Empfindung, daß er sehr gequält, sehr geziert und bruchstückweise sprach.
»Klug … sehr klug, Mitritsch … Aber so allgemein …« unterbrach ihn Prow und seufzte ärgerlich. »Sie werden uns verurteilen, sie werden uns alle auspeitschen, wenn sie davon erfahren … Sprich doch lieber davon. Und wie denkst Du selber darüber?« fragte er mit dumpfer Stimme, zog die Mütze in die Stirn und stand auf. »Komm, wir gehen lieber in die Hütte und sprechen uns dort aus. Bei dem Winde kann man ja kein Wort verstehen.«
»Prow Michailytsch!« rief Andrej mit einem Male aus, als ob ihm eben die Hauptsache eingefallen sei. »Was machen wir mit Anna? Sie muß sofort in die Stadt, morgen schon.«
»Warte Du – in die Stadt …« unterbrach ihn Prow. »Wir haben jetzt ganz andere Sorgen!«
In der Ferne flammte ein greller Blitz auf, alle Hütten tauchten gleichsam aus der Erde empor, sprangen in das helle Licht, blitzten auf und versanken sofort wieder.
»Das Gewitter kommt«, sagte Prow ängstlich und schlug hinter sich die Tür der Hütte zu.
Irgend eine geheime Kraft hielt Andrej zurück.
»Hör' mal!« hörte er hinter sich eine heisere Stimme. »He, Du Fremder!«
Andrej trat von der Stufe herab, ging der Stimme entgegen und stand bald Stirn an Stirn mit einem ungeschlachten schweratmenden Menschen.
»Erkennst Du mich? Ich bin der Wächter,« flüsterte Keschka und umgab Andrej mit einer Wolke von Faulbaumdüften.
»Hörst Du, Fremder … Entflieh' von hier, Väterchen. Verstehst Du? Sobald das Dorf fest schläft, gehe in die Taiga … Die beiden Anderen werde ich, falls es dazu kommt, beerdigen … Ich weiß nicht, wo sie sind … Wenn ich sie sehe, werde ich sagen: Flieht … Verstehst Du? Wenn Du hier bleibst, werden Dich die Bauern morgen früh … es geht wenigstens so ein Gerücht.«
»Andrej!« riß Prow das Fenster auf. »Komm doch 'rein. Es ist Zeit, das Licht auszulöschen.«
Der Sturm braust über die Taiga, erschüttert sie von den Wipfeln bis zu den Wurzeln. Die Taiga ächzt, stöhnt, jammert, heult in tausend Stimmen: Alle Schrecken des Waldes sind erwacht und treiben ihr Unwesen, alle Teufel sind aus den Sümpfen herausgekrochen, pfeifen durcheinander und rasen bockspringend durch den Wald. Der Waldgeist selbst hat eine Zeder am Wipfel erwischt, sie mit der Wurzel ausgerissen, schwingt sie und brüllt dazu. Wo er mit der Zeder hintrifft, da splittern krachend die Bäume und stürzen zur Erde. Aber der Waldgeist liebt es so: »Ho – ho – ho – ho!«
Väterchen Ustin machte das alles nichts aus. Er hält in den Händen das heilige Buch und auf einem Baumstumpf zu Häupten des getöteten Landstreichers brennt eine Wachskerze: hier ist geheiligter Boden.
Aber der Sturm fegt auch dicht über der Erde dahin, bläst die Flamme des Feuers nach allen Seiten und verlöscht die Wachskerze. Ustin liest Lechman einen Abschiedssegen, singt mit brüchiger Stimme das »Heiliger Gott«, aber das Dunkel stört ihn, er blickt sich ängstlich um. Jemand hat sich dort verborgen und wartet auf ihn.
Plötzlich erhellt ein Blitz die Finsternis. Ustin legte das Buch beiseite, bekreuzigte sich und kriecht in sein grünes Häuschen.
»Ho – ho – ho – ho« …
Ustin bekreuzigt sich. Er liegt auf dem grünen Fichtenreisig und deckt sich den Pelz über, das Geschenk Naumenkos. So liegt er da, blickt zu Lechman hinüber und denkt nach. Das Feuer brennt wieder hell, Naumenko hatte zwei harzige Baumstämme aufgelegt, sie werden bis zum Morgen glimmen. Der Wind bläst das Feuer immer wieder an und läßt es nicht einschlafen. Lechman bewegt sich in dem flackernden Schein des Feuers wie ein Lebender, der vor Kälte zittert, bewegt die Hände, zuckt mit den Füßen, nickt mit dem Kopfe …
»Nein, das stimmt ja gar nicht …« flüstert Ustin und bekreuzigt sich, aber er ist müde und der Schlaf ist ihm nahe.
Der Orkan rast durch die Taiga. Die Bäume ächzen und knirschen vor unerträglichem Schmerz mit den Zähnen.
Da schließt Ustin doch die Augen, bekreuzigt sich und zieht sich den Pelz über den Kopf. Da hört er, es ist ganz still geworden in der Taiga, aber zwei Stimmen reden miteinander. Sie führen eine richtige Unterhaltung, reden bald freundlich und friedlich, bald streiten sie und schreien auf einander ein.
Die eine Stimme klingt ihm sehr bekannt. Wem mag sie wohl gehören? Ach, Borodulin ist es, er spricht vom Popen, richtig, vom Popen … Vom Popen muß man viel erzählen, von Väterchen Alexej … Das ist gut … »Aber was bist Du für ein Greis, so graubärtig? so zerlumpt und zerzaust?« fragt Borodulin. »Und was liegst Du hier? Komm, wir wollen weggehen«, – sagt Borodulin. »Wahrscheinlich ist es nötig«, antwortete die Stimme »das ist klar.«
Ustin lief es kalt über den Rücken. Er zog die Beine an. Wollte nicht unter dem Pelz hervorkriechen. Aber jetzt spricht nicht mehr Borodulin sondern die unbekannte Stimme: »Wo ist denn Ustin? Er saß doch eben hier, bei mir.« – »Er ist fortgegangen. Von Dir ist er fortgegangen und von der Welt fortgegangen, er ist ein Teufel.« – »Nein, das stimmt nicht!« Aber plötzlich schlägt ihn jemand mit der Handfläche auf die Schulter: »Steh' auf, Alter … Ich danke Dir.«
Irrsinnig vor Schrecken springt Ustin auf: »Herr Gott!«
Ein Blitzstrahl. Ein Donnerschlag. Ustin sieht in den blauen Schein: er sitzt nicht mehr in seiner Hütte, sondern neben Lechman.
Kalkweiß und gekrümmt sitzt Lechman neben ihm.
»Heilig, heilig!« schreit Ustin mit entstellter Stimme.
Wieder ein betäubender Donnerschlag. Ustin wird niedergeworfen, aber er kommt zu sich, springt auf und flieht. Er flieht schweigend, in tierischem Schrecken, und es ist ihm, als ob sie alle hinter ihm herjagen, Borodulin und die Räuber und der lebendig gewordene Lechman und alle Bäume des Waldes, die ganze Taiga jagt hinter ihm her: sie wollen ihm die Seele aus dem Leibe ziehen.
»Heilig, heilig, heilig …«
Aber Schlag auf Schlag übertönt die Stimme der Taiga, dröhnt über das ganze Land, dringt in die tiefsten Winkel, rollt und knurrt gar böse.
Unaufhörlich leuchten Blitze. Ein tierischer Instinkt treibt Ustin den Weg entlang, dem heimatlichen Kedrowka zu.
»Ich habe gesündigt … Ich habe die armen Bauern in ihrem Elend verlassen … Ich will zurückkehren,« stöhnt Ustin. Er kann kaum noch seine alten Beine weiterschleppen.
»Ich habe gesündigt, habe gesündigt!« – triumphiert die Taiga, pfeift, heult und lacht hinter ihm und verjagt ihn aus ihrem Reiche.
Plötzlich blendende Helle.
»Laßt ihn nicht aus!« Ustin wirft die Arme hoch und schlägt tot zu Boden. Bei diesem Schrei dröhnen und beben die Himmel. Ein riesiger Blitz hat sein flammendes Schwert in die Erde gebohrt, hat das Dunkel verschlungen, die ganze Taiga entflammt und alles erstarrt.
Jetzt schweigt die Taiga. Sie fürchtet sich vor dem Drohen des Himmels. Es ist ganz still und feierlich. Aber mitten in dem Dunkel der tief hängenden Wolken brennen lichterloh, wie Totenkerzen, drei hohe Lärchen.
Erst nach einer Weile setzt der Sturm wieder ein.