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19.

Tulja und Wanjka schliefen, und deshalb vernahmen nur Anton und Lechman das Todesurteil. Sie verstummten beide und lagen beide regungslos im Dunkel, ohne zu denken, ja ohne zu seufzen.

Als Erster erwachte Lechman aus seiner Betäubung: »Anton, hörst Du es?«

Keine Antwort.

»Schläfst Du, Anton?«

»Ich hörte es«, antwortete Anton nach einer Weile und erkannte selbst seine Stimme nicht wieder. Lange lagen sie wieder schweigend und dachten nach. Ein Mondstrahl kroch durch das Gitter des Fensters.

»Das alles wegen Dir, Anton … Alles wegen Deines Geldes.«

Anton schwieg, seufzte und sprach etwas leise vor sich hin.

»Du müßtest die Schuld auf Dich nehmen, Anton … Müßtest Buße tun: ich habe das Geld gestohlen … Vielleicht begnügen sie sich dann mit Dir und werden die Andern dann …« Lechman sprach den Satz nicht zu Ende.

In Anton's Brust gluckst und pfeift es.

»Weshalb redest Du nicht, Anton? … Immer das Schweigen … Sag' doch etwas!«

Ein langes trockenes Husten, und dann sagte er: »Ich will es auf mich nehmen.«

Lechman in freudiger Erregung: »Das ist eine Sache, so ist's recht von Dir … Du hast sowieso nicht mehr lange zu leben … Auch mir bleibt nicht mehr viel Zeit … Aber Wanjka und Tulja tun mir leid. Vielleicht kann man sie von ihnen ablenken … Was?«

»Ich will es auf mich nehmen.«

Mit großen Unterbrechungen führen sie ihre Unterhaltung weiter, als ob sie jedes einzelne Wort lange überlegen müssen.

»Also Du mußt Buße tun und sagen … Die Gelder habe ich gestohlen, auch die Zügel habe ich entwendet … Sodann haben sie noch bei Tulja den Fuchs gefunden … Auch den Fuchs habe ich gestohlen … Und Du hast noch neue Stiefel, auch die Stiefel sind natürlich gestohlen … A?«

An der Tür macht sich Keschka zu schaffen, er treibt ein Pferd davon, das Pferd läuft nur auf drei Beinen, man hört wie es lahmt und hüpft.

»Oder, Anton, ich kann es ja auf mich nehmen … Ich stehe auf, reiße das Hemd auf der Brust auf und sage ihnen: So, Burschen, jetzt tötet mich … Was meinst Du?«

Schweigen.

Lechman drehte sich auf die Seite und rutschte zu Anton.

»Weißt Du, Anton, mich fesselt sowieso nichts mehr auf der Erde … Ich bin mutterseelenallein … wie ein verbrannter Baumstumpf auf freiem Felde steht … Ich bin ein alter Kerl … Hab' mich genug geplagt.«

Nach einer Pause fügte er hinzu: »Dich hält doch immer noch etwas am Leben, Du hast eine Frau … hast eine Tochter …«

Anton unterbricht ihn weinerlich: »Ich habe einmal gesagt, daß ich es auf mich nehmen will, verstehst Du? Ich will es auf mich nehmen … Dann laß' mich doch!«

Und, wie sich plötzlich besinnend, fügte er leise hinzu: »Bei mir brennt alles im Innern … Die Krankheit verzehrt mich, Väterchen … Verzeih mir … Ich muß mich jetzt vorbereiten. Auf den Tod.«

Anton wendet sich von Lechman ab und gibt sich ganz seinen Gedanken hin. Angestrengt schaut er in die Zukunft, sucht den morgigen letzten Tag, der so unbegreiflich aber doch seltsam und bedeutungsvoll ist.

»Jetzt kommt also das Ende.« So sehr Anton seine Gedanken anstrengt, so sehr er auch versucht, zu Ende zu denken, seine Gedanken bleiben doch immer wieder stecken. Schließlich verlor Anton den Faden seiner Todesgedanken und vergrub sich ganz in die Vergangenheit. Ljubotschka stand plötzlich vor ihm, seine Frau beugte sich über ihn, seine Freunde und Bekannten. Alle lächelten ihm freundlich zu, flüsterten etwas, riefen ihn irgend wohin. Aber Anton fühlt und weiß, daß das etwas Unwirkliches, etwas Irdisches und Trügerisches ist, – er braucht es nicht mehr! Er brauchte überhaupt nichts, mag alles verfaulen und verschwinden, wenn nur seine Seele Ruhe findet. Anton erzittert, bewegt den Kopf und stöhnt: »Nicht mehr … nötig …«

Da entflammt plötzlich in einer hellen Flamme sein ganzes früheres Leben und verbrennt zu Asche. Nichts bleibt davon übrig. Tiefes Dunkel umgibt jetzt Anton. Es gibt für ihn keine Erde mehr, nichts, rein gar nichts, alles ist stehen geblieben, alles schweigt. Anton erschauert, sperrt den Mund auf und hört auf zu atmen! »Ich sterbe« …

Er fühlt nichts mehr, er erinnert sich an nichts mehr: war er ein Mensch oder ein Hund, war er ein Teufel oder ein Engel, war er ein Stein oder ein Nichts, er weiß auch nicht mehr, wo er sich befindet: in der Erde oder in der Luft, auf dem Gipfel eines Berges oder auf dem Grunde des Meeres. Alles war zu Ende, der letzte Faden riß ab, der Tod kam … War das der Tod? Dann war er wirklich leicht … Ade, Ljubotschka, Heimat, schöne Welt …

»Lieber Tod … warte doch noch ein wenig.«

Nackt und bloß stand Antons Seele da, ihr Gehör ist ganz fein geworden. In Gedanken segnet sich Anton mit einem großen Kreuz …

»Gospodi, Gospodi«, betet er ersterbend und wartet. Eine menschliche Stimme klingt ihm ins Innere, jemand spricht mit ihm, jemand spricht seinen Namen sehr laut aus: »Jammere nicht, Anton … Nimm Dich zusammen!«

Das war Lechman, der das sagte. Er nahm seine trockene fiebernde Hand und strich mit seiner großen verschrumpften Handfläche darüber.

»Mein Stündchen ist gekommen«, sagte Anton stockend mit einer kindlich fröhlichen Stimme. »Ach, was für ein Stündchen, Großväterchen … Ein goldenes Stündchen …«

Er lächelt und schweigt. Er kann Lechman's Worte nicht mehr verstehen, er fühlt nur, wie Lechman seine Schulter schüttelt und ihm etwas vorschlägt.

»Ja, ja«, flüstert Anton, und taucht wieder in dem heranwogenden Nebel unter. Aber durch den Nebel wetterleuchtet es doch in seiner Seele, und er sagt: »Großväterchen, hab keine Angst … Er ist so gut … wie ein Vater …«

»Wer? Von wem sprichst Du?«

Aber Lechman wartet die Antwort nicht ab, ballt die Fäuste und schreit mit halber Stimme: »Ach, Ihr Teufel … Ihr Teufel!«

Aus dem Dorfe antworten aber nur die Stimmen der Betrunkenen, die auf und ab wogen und dann wieder verschwinden.

»Ich sterbe … Zu trinken!«, stöhnt Anton nach langem Schweigen.

Lechman bewegt sich stöhnend und ächzend, erhebt sich mit Mühe auf alle vier Gliedmaßen und kriecht, die Beine nach sich schleppend, durch das Mondlicht zum Fenster. Um die am Fenster schlafenden Wanjka und Tulja nicht zu stören, tastet er nach ihren Beinen und schiebt sich zwischen sie und ruft zu dem Fenster in die blaue Nacht hinaus:

»Karaùlschtschik?! Hörst Du! Rasch hier her!« Keschka kam heran.

»Brüderchen, bring' uns Wasser!«

»Wo soll ich denn Wasser hernehmen? Es ist doch Nacht!« antwortete Keschka unwirsch.

»Da sollen wir wohl lieber krepieren, was?!«

»Nun, das ist schon Eure Sache!«

»Ihr Teufel! … Was quält Ihr uns, Ihr Teufel?! Weshalb wollt Ihr uns durchaus umbringen?!«, schrie Lechman und speit Stücke von Blut zum Fenster hinaus auf die Straße.

»Das ist schon Sache der Bauern … Das geht den Mir an«, antwortet Keschka gleichgültig, aber fügt mit Zittern in der Stimme hinzu: »Die halbe Herde habt Ihr abgestochen.«

»Was für eine Herde?!«, dröhnt Lechman, ächzt, hustet, greift sich an die Brust und läßt sich schwer zu den auf der Erde Liegenden nieder. Die schlafen ganz fest, redeten nur etwas im Schlaf und bewegten sich.

Lechman konnte sich nicht sofort beruhigen. Aber als sein Herz ruhiger geworden war, ging er wieder zu Anton und rief ihn bei Namen. Anton antwortete nicht. Lechman fürchtete in dieser Nacht die schweigende Dunkelheit, und um sich nicht so einsam zu fühlen, breitete er seine Seele vor dem schweigsamen Gefährten aus.

»Was ist der Tod? Spuck' drauf! Dasselbe wie der Schlaf … Du machst die Augen zu, streckst die Beine aus und dann liegst Du da! … Schluß! … Das ist meine Meinung, Anton! … Niemand kann Dir mehr wehtun – keine Mücke, keine Laus, keine Bauern, kein Gendarm … Die Würmer sagst Du? Nun, wenn schon … Spuck' drauf … Sollen sie Dich ruhig zerfressen … Du liegst ja sowieso in der Erde, wie ein Aas, wenn sie Dich zu Pulver zerrieben, Du würdest nichts davon merken … Stimmt's? Und die Seele … Ha-ha! … Wir haben keine Seele, Anton … Mit der Seele ist das bei uns nämlich so … Du hast doch gehört, wie Tulja sagt: ›Komm herausgefahren, Du Seele, aus dem Bäuchlein!‹ Du hast es doch manchmal gehört? Nun ja, Anton, so ist das mit der Seele … Ich habe mal in der Taiga zwei Skelette gefunden, die einander umschlungen hielten: das eine war von einem Menschen, das andere von einem Bären … Ja, ja … Aber neben ihnen auf der Erde ringelten sich zwei Schlangen … Vielleicht waren das ihre Seelen? Was denkst Du, was ich mit ihnen gemacht habe, ich habe sie totgetreten … Ha-Ha … Guck' nicht immer auf den Himmel … Dort gibt es wirklich nichts … Ein ewiges Leben kannst Du doch nicht gebrauchen. Ich habe das Leben wenigstens elend satt … Ja, ja … Wenn Du Dich in alle Ewigkeit so weiterquälen sollst … Nein, streite mir das nicht ab, Anton … Du hast nicht recht!«

Aber Anton dachte gar nicht daran, es ihm abzustreiten, er lag in tiefem Vergessen und phantasierte.

Draußen machte sich jemand an der Tür zu schaffen, das Schloß schnappte, die Tür wurde einen Spalt geöffnet und Keschka's behaarte Hand schob einen Eimer hinein.

»Da ist was zu trinken!« brummte Keschka und schlug die Tür hinter sich zu.

Lechman kroch gierig zum Eimer. Als er getrunken hatte, tastete er im Dunkel nach einem Sack, tauchte ihn in das kalte Wasser und legte ihn Anton als Umschlag auf den Kopf. Anton erwachte, bat zu trinken, und als er seinen Durst gesättigt hatte, bekreuzigte er sich und murmelte ein Gebet.

Lechman wurde es jetzt etwas leichter ums Herz, er legte sich wieder in seinen Winkel und versuchte etwas von den Worten des Gebets zu erfassen.

Aber der Worte waren wenige, und es waren ganz gewöhnliche und einfache Worte. Trotzdem fraßen sie sich in seine Seele und schienen ihn zu rufen.

Lechman lag mit weit offenen Augen, es wurde ihm seltsam zu Mute.

Anton spricht jetzt ganz laut leidenschaftliche Worte, in die er die ganze Kraft seines Leides und seines Glaubens hineinlegt, und als ob er mit einem verwandten Wesen spricht, das neben ihm stände.

»Spottest Du etwa mir? … Du wirst mich nicht täuschen, Herr und Gott?«

Lechman hört es: alles in seinem Innern zittert. Er fühlt, wie ihm Tränen in die Augen steigen. Jetzt war es still in der Zelle. Nur eine Grille zirpte im Dunkel. Eine ganze Fuge silberner Töne.

»Anton«, sagte Lechman nach längerer Zeit mit gebrochener Stimme. »Anton! … Wenn ich auch an keinen Gott glaube … An welchen Gott sollte ich denn glauben? An welchen denn? Ich glaube eben nicht daran … Trotzdem könntest Du auch etwas über mich, über Peter, in Dein Gebet aufnehmen«, seufzte er und trommelte mit den Fingern auf der Erde. »Ich heiße nämlich gar nicht Lechman, sondern heiße in Wirklichkeit Peter.« Und fügte dann rasch und bestimmt hinzu: »Ich bin nämlich ein Mörder.«

Wieder tiefes Schweigen. In der Zelle wurde es mit einem Mal ganz unheimlich. Aber plötzlich erzitterten die Wände von einem unwahrscheinlichen wilden Geheul des erwachenden Wanjka:

»Tulja! Tul-ja! … Sie schlagen uns tot … Sie töten uns!«

Auch Tulja sprang auf, sie blickten einander an, blickten auf ihre stillen Kameraden Anton und Lechman, und heulten aufs neue los.

Lechman bewegte sich und blickte scharf zu ihnen hinüber. In seinem Herzen war eine ihm bis dahin ganz unbekannte Wehleidigkeit, er mußte unbedingt ein warmes Wort sagen, hätte am liebsten diese beiden jungen Burschen umarmt und ihnen in dieser dunklen Stunde gut zugeredet, aber irgend etwas hielt diese weichen Gefühle in ihm zurück, alles blieb in seinem Innern wie ein verhexter Schatz im Berge. Die Lage wurde außerordentlich qualvoll für ihn, er bewegte sich noch einmal ruckartig, stieß mit dem Fuß an die Wand, wendet sich ab und hustete und räusperte sich mit einer ihm sonst fremden Stimme. Aber die beiden, von dem Schreck ergriffenen, Kameraden begannen jetzt, als ob sie später keine Zeit mehr dazu hätten, wetteifernd ihre Sünden zu bekennen.

Wanjka hatte viel solcher Sünden auf dem Kerbholz, aber da es ihm nicht genügte, erfand er noch viel schwerere. Tulja dagegen hatte ein reines Gewissen, aber auch er beichtete, um die Angst seiner Seele zu übertönen.

»Ich habe zwar niemand getötet, aber trotzdem bin ich ein schlechter Mensch, ein Dieb … Ein Scheusal … Och, Väterchen, och, Ihr meine Kameraden!«

»Laßt doch den Quatsch!«, fuhr sie Lechman an, der sich jetzt wieder ganz in der Gewalt hatte. »Nicht wahr, das Leben ist doch süß?! Meint Ihr nicht?!«

Anton versuchte die Anderen leise zu trösten: »Ich werde alles auf mich nehmen … Macht Euch keine Sorgen.«

Wanjka und Tulja schwiegen.

»Man müßte das Licht wieder anblasen«, bat Wanjka kläglich.

»Nein, Ihr Lieben, der Stumpf ist ganz ausgebrannt«, sagte Anton bedauernd, und als es still geworden war, redete er mit großen Atempausen, wie mit sich selbst weiter: »Ich fürchte den Tod nicht, Ihr Lieben … Ich fürchte die Menschen, das Tierische … Ich weiß ja noch nicht, wie sie mich umbringen werden, ob mit einem Strick um den Hals oder mit einem Beil … Oder aus einem Gewehr … Aus einem Gewehr wäre es mir am liebsten … Aber mit dem Beil, davor habe ich Angst … Ihre Gesichter dabei fürchte ich, ihre tierische Wildheit, ihre Augen … Wie sie auf einen zuspringen und wie sie ausholen … Dieses Tierische fürchte ich am allermeisten …«

Wanjka und Tulja vermochten nicht weiter zuzuhören, wieder stießen sie ein wildes Geheul aus, und wenn sie auch Lechman tadelte, und wenn der Wächter Keschka fluchte und mit dem Fuß an die Tür trat, so heulten sie eng umschlungen immer weiter, bis sie schließlich in einen schweren schmerzhaften Schlaf fielen.

Die Nacht war kalt geworden. Der Wächter Keschka, ein dreißigjähriger Riese, dessen Gesicht durch unzählige Blatternnarben, dem sowohl Augenbrauen wie Schnurrbart fehlte, entstellt war, saß frierend auf seiner Rasenbank. Er wäre am liebsten mit auf den Berg gelaufen, mit den jungen Mädchen zu scherzen und zu spielen, mit den jungen Burschen Schnaps zu trinken, aber er konnte die Gefangenen nicht allein lassen, Väterchen Prow hatte ihm einen ganz strengen Befehl gegeben. So konnte Keschka nur aus der Ferne an dem lustigen Treiben der Jugend teilnehmen: der frohe Berg lenkte seine Augen nach rechts zum Fluß hin, und wenn er auch dort die Leute nicht sehen konnte, so blinkten doch verlockend ihre leuchtenden Feuer. Und die Lieder mit Pfeifen und Johlen und Harmonikaspiel hoben seine Stimmung mächtig: er lächelte über sein ganzes breites Gesicht, schiebt die Mütze flott auf das linke Ohr, stampft mit den Füßen und singt sich eins: »Ech-ty, no-o-o …«

Aber Keschka fühlt, in dem wilden Geschrei ist kein Feuer, ist keine rechte Begeisterung, sondern eher Wut und Wildheit. Er bricht plötzlich ab, der lustige Berg verschwindet, tiefe Stille herrscht ringsum. Keschka blickt sich um, irgend jemand steht hinter ihm und flüstert ihm etwas zu von dem kommenden schrecklichen Tag. Keschka zittert, es schauert ihn und er schiebt die Hände so tief als möglich in die Ärmel.

Keschka weiß, daß der Tag morgen bestimmt kommen wird, daß er kein Traum ist, sondern Wirklichkeit, tatsächliche Wirklichkeit, aber er kann es nicht ändern, der Mir hat ihn hier hingestellt, und was vermochte er gegen den Mir. Vielleicht wachten die Bauern morgen nüchterner auf und kamen zur Besinnung. Ihm, Keschka, taten die Landstreicher leid, er hätte sie am liebsten sämtlich laufen lassen … Wie die armen Kerle jammerten … Uch ty, Gospodi!

Keschka fuhr geschickt mit zitternden Händen auf dem Erdboden hin und her, langte eine kalte Schnapsflasche aus den Brennnesseln und trank mit gierigen Schlucken. Als er wieder absetzte, räusperte er sich schuldbewußt: »Och, die Sünde!«

Und um seine Gedanken abzulenken, sammelt er schließlich ganze Taschen voll Steine, stellt die leere Flasche auf einen Baumstumpf, zählt zehn große Schritte mit Anlauf und schmiß mit Steinen nach dem im Mondlicht blau schimmernden Glase. Keschka hatte sich das Orakel gestellt: wenn er mit dem fünften Steine traf, dann erfüllte sich seine Frage: er setzte auf einen glücklichen Ausgang, zielte scharf, warf ohne Hast, biß sich auf die Zungenspitze und zeigte einen freudigen Eifer. Aber seine trunkene Hand traf vorbei, sämtliche Steine warf er daneben und suchte schnaufend schließlich neue: »Ech, man müßte jetzt zu Moschna, die den Spitznamen ›Geldsack‹s führt, gehen und ein neues Fläschchen Schnaps besorgen oder zu der Witwe kriechen, zu der fetten fleischigen, zu Tykwa. Bums, endlich getroffen!«, bestätigte er seinen letzten Wurf.

Von dem Hügel der Jugend ertönte Geschrei und Fluchen, offensichtlich hatten sich die Burschen wegen der Mädchen in die Haare gekriegt … Ho-ho!

Keschka schmiß die Steine wieder weg, steckte die Hände in die Taschen, sperrte den Mund auf und lauschte.

Währenddessen kam, sich bekreuzigend und mit den großen Stiefeln knirschend, Großväterchen Ustin heran. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und ging gebeugt bis fast zur Erde. In der einen Hand hielt er sein Buch, in der anderen eine Wachskerze.

»Bist Du als Wächter hierhergestellt, Okentij?«, fragte Ustin und versuchte leise stöhnend seinen Rücken zu strecken.

»Jawohl, ich derselbige …«

»Höre, mein Bürschchen!«, trat er dicht an Keschka heran. »Wenn morgen früh die Bauern zum Gefangenenhaus kommen, dann hole mich rasch … Hast Du mich verstanden? Ich bin zu müde, ich komme von dem Verstorbenen, sonst verschlafe ich es gewiß … Sei so gut und hole mich, es ist eine wichtige Sache!«

Er legte die Hand auf die Schulter des verstörten Keschka, holte ein paar Mal tief Atem und murmelte mit rascher, gerührter Stimme: »Weißt Du, Keschka, mein Sohn … In dem Falle, daß sie ihnen etwas antun wollen … Sie, die Landstreicher, sind nämlich auch Kinder Gottes … Das ist es … So liegt die Sache …«

Keschka hätte am liebsten alles erzählt, was er wußte: »Weißt Du, Väterchen, der Mir hat es so beschlossen«, aber er dachte an das strenge Verbot und biß sich auf die Zungenspitze.

Ustin legte die Hand auf die Brust, schüttelte den Kopf und klagte leise: »Es geht mir wirklich schlecht in meinem Herzen … Meine Seele, Keschka, verschmachtet geradezu, wenn sie die Bauern ansieht … Wie die reinen Tiere … Es ist eine Sünde und Schande mit ihnen … Ja, ja«.

Aber dann nahm er eine drohende Haltung ein und rief: »Und ich werde es nicht zulassen! Nein, ich werde der Schlange den Kopf abreißen! … So gewiß ich hier stehe!«

Keschka bildete sich ein, daß nicht Ustin, sondern er selbst die Bauern so anschrie. Er ballte die Fäuste, räusperte sich und warf einen wilden Blick auf das schlafende Dorf.

»Und wenn sie meine Stimme nicht hören, dann werde ich sie verlassen …«, schlug Ustin mit der Hand auf sein Buch. »Ich werde meine Seele nicht beschmutzen und verfinstern … Das ist mein Wort … Wißt es!«

Wieder krümmte sich Ustin und hinkte seiner Hütte zu, mit seinen großen Stiefeln gemächlich über den Erdboden schlürfend und in den Knien wankend.

Keschka blickte ihm unverwandt nach, dann ging er auf die Flasche zu, schleuderte sie mit der Fußspitze zur Seite, seufzte, versuchte ein Liedchen anzustimmen, aber die Zunge wollte nicht, spuckte aus, schlug mit der Hand durch die Luft: »Hole Euch alle zusammen der Teufel!«, setzte sich schließlich wieder auf die Erde und zündete sich eine Pfeife an.

Keschka wußte nicht, wem er nachfolgen sollte, auf wen hören, er begriff auch nicht ganz, was Ustin von ihm forderte. Mitleid mit den Landstreichern haben … Aber wie? Sie etwa freilassen? Sich auf ein Pferd setzen und in die Kreisstadt reiten? Das und das ist bei uns geschehen … Aber würde es einen Zweck haben? Er kannte sich schließlich nicht aus noch ein und zündete sich eine Pfeife nach der anderen an.

Es schläferte ihn mächtig. Im Halbschlaf sah er bald die schieläugige Tykwa, bald einen mächtigen Bären, der mit einer Keule in der Pfote gerade auf ihn losging, dann warf er den vornübersinkenden Kopf zurück, rieb sich die schlaftrunkenen Augen, blickte unruhig auf das Schloß der Zelle und gab sich schließlich wieder seinen Träumen hin.

Alles schlief einen festen Morgenschlaf. Das ganze trunkene festtäglich gestimmte, durch den Tod Borodulin's erschütterte Dorf war längst in seine Hütten gekrochen, hatte die Augen zugekniffen, redete schlaftrunken im Dunst der Hütte und schnarchte mit Ausdauer.

Sogar dort oben auf dem Hügel der Jugend waren die Lieder und die Flüche verstummt.

Da hört Keschka durch den Halbschlaf: ein Weib rennt den Berg hinunter und schreit dabei aus Leibeskräften. Er sperrt die Augen auf, wendet den Kopf nach der Richtung und lauscht. Die verzweifelte Mädchenstimme rennt den Weg entlang und kreischt: »Ich werde es Dir heimzahlen, Du Zigeuner! … Ach, Du Schuft … Oi, Ma-a-a-mynjka!«

»Warjka, bist Du's?!«, ruft Keschka.

Aber die hört nichts, sie jammert wie irrsinnig, spuckt um sich und flucht und überschüttet ihre Verfolger mit den unflätigsten Worten – keine Worte einer Jungfrau, einer Frau, eines Menschen, vielmehr dem Abschaum aller Worte, sogar Keschka wird es zu viel, er spuckt aus. Aber das Mädchen rennt die Straße weiter, schlägt einen Haken nach dem anderen und schreit durch das ganze Dorf: »Ich werde es anzeigen, Du Verfluchter … Werde es melden … Alles werde ich Prow erzählen, alles! … Ich werde Dir beweisen, Du Luder, die Kühe abstechen … Du Schlange! Du Bestie!! A-a-a … Hast wohl mit Tanjka angebändelt?! Mich in die Fresse zu schlagen?! Mir helfen wollen?! Nun, warte, Senjka … Ich werde Dir Deine … lehren … Oi, Ma-a-a-mynjka!«

In ihr Geschrei fielen die Hunde ein, die ihr mit heiseren Stimmen hinterher heulten.

Keschka kratzte sich träge an der Hüfte, gähnte ausgiebig und streckte sich.

Die kurze Sommernacht war vorüber, die Sterne erlöschten, der Mond erbleichte, von Osten her breitete sich mählig ein rosiger Schein. Weiße Nebel hüllten das ganze Tal in ihre Schleier, zog über die Taiga und bedeckte sie bis zu ihren höchsten Gipfeln mit einem milchigen See.

Aber über den Nebelzonen war alles klar und freudig gestimmt. Eine feurige Brücke schlug sich über das Nebelmeer, aber es gelang der Sonne nicht so rasch, die Morgenwolken zu vertreiben. Keschka betrachtete den Sonnenaufgang ohne jede Empfindung. Ihn quälte der Schlaf. Er sagte sich weiter nichts als: »Na, es wird ja endlich Tag … Keschka, jetzt kannst Du schlafen …« Dann legte er sich auf ein Stück Woilach, wickelte sich hinein, zog sich den Schafpelz über den Kopf und schloß die Augen. In den Gesträuchen am Ufer erwachten die Vögel, schlugen einmal, zweimal, begrüßten die Morgensonne und schmetterten ihr Lied … Auf dem Flusse begannen die Enten ihr Geschnatter. In der Taiga rief der Kuckuck, und irgendwo sang eine erste Amsel.

Keschka dachte im Einschlafen: »Das ist's bloß, nicht einschlafen … Daß ich nur Ustin wecke … Nein, Prow, diesmal kommst Du nicht durch, Brüderchen … Prrrr … Du bringst es nicht dahin … Sie ist wirklich ein feines Weib, ordentlich fleischig … Die Tykwa … Wen? … Was? …? Nein, nur so … Nicht das … Totschlagen? Aha … Dann wecke ich Ustin … Ich halte doch zu ihm … ja–a–a … Ach, verflucht … eine Wanze!«


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