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Um dieselbe Stunde ritten drei Reiter durch die Taiga: Anna, Prow, Dascha … Dascha hatte Prow Michailitsch händeringend gebeten, sie mitzunehmen; es war Feiertag, und sie wollte so gern ein wenig herauskommen.
Vater und Tochter ritten voran, Dascha war weit zurückgeblieben: ihr Pferd war störrisch, und Dascha, die lange nicht mehr im Sattel gesessen hatte, fürchtete sich.
Vater Prows Seele ist im siebenten Himmel, er betrachtet den Rücken seiner Tochter, ihre wohlgeformte kräftige Figur mit den bloßen weißen Waden und freut sich: die Tochter redet ganz vernünftig, weiß über alles Bescheid, fragt nach allem, und von der Krankheit ist nichts mehr zu merken.
Auch Dascha seufzt froh aus voller Brust, als sie in die Taiga hinreitet.
Sie war lange nicht in der Taiga gewesen, hatte ihr lustiges Geschwätz, ihren herben Harzgeruch vergessen, aber einstmals, vor nur fünf Jahren, in der goldenen Zeit der Jugend … Ech, Matuschka Taiga! …
Dascha fühlt: es wächst etwas in ihrer Seele, Gedanken, Worte formen sich auf ihrer Zunge … und das Herz war ihr schwer. Still für sich reitet Dascha, ganz in sich selbst versunken, und ängstlich betrachtet sie ihr bisheriges Leben als Soldatenweib. Seit sie mit dem Kaufmann bekannt geworden war und sich mit Fedenjka eingelassen hatte, war ihr Leben wüst geworden, sie war in Schande geraten: bald trieb sie sich mit Borodulin herum, bald mit dem Sträfling, sie teilt sich in zwei Teile. So lange sie trunken war, so lange ihr Blut rauschte, war das nicht gefährlich, aber wenn sie sich dann schlafen legte – das Schlafenlegen und Einschlafen war immer noch ganz lustig – dann kamen ihr im Schlaf schreckliche Träume: sie stöhnt, sie schreit, sie weckt sich selbst auf. Sie dreht das von nächtlichen Tränen nasse Kopfkissen auf die andere Seite, faltet die Hände unter dem Kopf und denkt nach. Sie will ihre Gedanken in andere Richtung lenken, sie kann es nicht, ihre Seele nimmt sie nicht an, sie ist verdorben, verlangt andere Gedanken: trunkene und ausschweifende wie ihr, Daschas, ausschweifendes Leben.
»Ech, ganz egal«, winkt sie mit der Hand und läßt den verderblichen eigenwilligen Gedanken ihren Lauf. Aber wenn sie ihnen genugsam nachgegangen ist, dann schläft sie wieder froh und lustig ein. Erwacht sie aber am Morgen, dann ist ihr Herz wieder voll Kummer.
Und jetzt war es für Dascha sogar unerträglich geworden: Fedenjka drohte mit dem Messer, vor dem Volke schämte sie sich, sie wagte nicht, sich in Gottes freier Welt zu zeigen, aber vor ihr das reine Entsetzen: kam ihr Mann, der Soldat nach Hause, dann würde er kurzen Prozeß mit ihr machen.
Dascha sucht Vergessen, sie trinkt bis zur Bewußtlosigkeit, oft betrachtet sie in der Scheune den Querbalken, und nimmt Maß für den Strick, den sie braucht, aber vorläufig jagt sie diese Gedanken immer noch von sich und befiehlt sich selbst: nein! Mit der Wange an die Wand gepreßt, heult sie aus vollem Halse.
»He, Darja!«, ruft Prow.
Darja fährt auf, blickt sich in der Taiga um und gibt ihrem Pferd die Hacken. Ihr Gesicht ist rot vor Erregung, und in den Augen stehen Tränen.
»Gottesmutter! … Ihr Engel! …«, flüstert Dascha und preßt die Hand auf ihre Brust.
»Bleib' nicht so zurück!«, ruft Prow von neuem. Sein grauer Bauernkittel verschmilzt mit den Zweigen der Bäume zu einer Farbe, er ritt voraus, hinter ihm im weißen Kleide – Anna. Dascha blickt ihr nach, und da überfällt ihr offenes Herz ein starkes Verlangen nach dem unschuldigen Mädchen, wie es den Rauch zum Himmel zieht. Sie fühlt irgendwie blutverwandtes in dem Mädchen.
»Was habe ich nur mit ihr vorgehabt? Ihr Engel!«, machte sie sich bittere Vorwürfe. Das erste Mal tat ihr Anna wirklich leid, sie verglich sie mit sich selbst, sie dachte daran, wie sie ihr hatte Gift eingeben wollen, und die stille und unschuldige Anna tat ihr noch viel mehr leid.
Ganz außer sich vor Erregung, und das Pferd unaufhörlich antreibend, erreicht sie Anna. Sie wollte vor ihr auf die Knie fallen, ihr alles offen erzählen, aber irgend etwas hält sie doch zurück.
»Anna!«, rief sie. »Annuschka … Väterchen Prow!«
Schweigen, keine Antwort. Die Taiga ist schweigsam. Es wurde ihr unheimlich.
Prow hatte unterdessen sein Pferd angehalten:
»Nu-ka, wir vertrocknen ja …« Sie stiegen von den Pferden und bereiteten sich Tee. Anna sammelte rasch trockenes Holz, froh ging sie zwischen den Bäumen umher, machte ein Feuer und blickte den Vater zärtlich an. Dascha steht betrübt daneben, beißt sich in die Lippen, denkt wieder an ihr verpfuschtes Leben und denkt an den Beginn ihrer Tage zurück, als sie noch ein Kind war.
Prow verwöhnt seine Tochter: er schiebt ihr Brot zu und wedelt ihr mit einem Faulbaumzweig die Mücken vom Gesicht: »Du bist doch meine Kluge … Meine Hilfe, mein Trost …«
Nach allem fragt Anna: nach ihrer Mutter, nach Großväterchen Ustin, nach dem Braunen. Der Vater antwortet, scherzt mit ihr, macht Späße.
Anna lächelt, der Vater ist überglücklich, und plötzlich, ganz unerwartet fällt Anna ihm um den Hals: »Ach, lieber Vater … Ich werde Dir alles ganz offen erzählen … ganz offen werde ich es … Nur eins nicht …«
»Ni-tsche-wo, Töchterchen«, tröstet sie Prow und schielt auf ihren Leib.
»Vä-ter-chen!«
Eben hatten sie sich wieder auf ihre Pferde gesetzt, da kam der Pope den Weg daher geritten und hinter ihm, pfeiferauchend, die vollbrüstige Awdocha.
»Guten Tag, Prow Michailytsch!«
»Ach, das Väterchen!«, ruft Prow. »Eben haben wir Tee getrunken …«
»So ein Spaß … Ich wußte es leider nicht … Ich habe nämlich ebenfalls gar nicht weit von hier mit der Base da, mit Awdotja Terentjewna dasselbe … das heißt wir haben uns an … Tee … gelabt … He, he …«
Awdocha wurde feuerrot, strich ihren roten Sarafan zurecht und schielt ängstlich auf den Popen.
»Nun, wie ist es bei uns in Kedrowka? Hast Du den Gottesdienst abgehalten?«
»Ja, ja, ich habe ihn abgehalten«, lächelte der Pope. Awdocha nahm die Pfeife aus dem Munde, lachte vor sich hin, rümpfte die Nase und hustete verächtlich.
»Nun, leb wohl, Väterchen,« sagte Prow, trieb sein Pferd an und schreit nochmals zurück: »Borodulin ist doch bei uns?«
»Ich hab' ihn nicht gesehen!«, schreit der Pope. »Hör' mal, Onkel Prow, hast Du gar keinen Schnaps bei Dir?«
Aber Prow ist schon weitergeritten, seiner Tochter und Dascha nach.
Wieder reiten alle drei durch die Taiga, die schon still und dämmrig geworden ist. Der Abend kam. Die Taiga schloß ringsum ihren grünen Zauberkreis um die Reiter.
Annas Seele ist gespannt. Sie lauscht dem Rauschen des unhörbaren Windes, fühlt Unsichtbares und verwandelt Sichtbares in Märchengestalt.
Schon huschen blitzende Waldgeister zwischen den Stämmen der Bäume einher, tauchen Schatten auf und verschwinden, leuchten Feuerchen auf und verlöschen, geht ein Schlürfen durch das Laub, pfeift im Sumpf der Waldteufel.
Prow sieht nichts von alledem, hört nichts, hat die Mütze tief in die Stirn gedrückt und reitet schweigend.
Darja ist ganz in sich versunken: sie hat die Läden vor den Fenstern ihrer Seele geschlossen, die Wachhunde ausgestellt. Es ist nichts mehr von Darja, der leichtsinnigen, der lustigen Dascha, der Schwätzerin und Sängerin übrig geblieben, es war nur noch die taubenhafte weibliche Seele da.
Die Dämmerung verschwamm im Dunkel, es wurde kalt und feucht. Die Nacht kam herauf.
»Nun, Mädchen, jetzt ist es nicht mehr weit!«, ruft Prow, und prüft aufmerksam bekannte Stellen.
Die Hündin Lyska läuft schon lange nicht mehr zu jedem Stamm und Strauch auf Besuch. Sie trabt vielmehr vor dem Pferde ruhig geradeaus, und die Zunge hängt ihr vor Müdigkeit weit heraus.
Geradeaus schimmert irgend etwas, die Bäume treten auseinander, der Pfad führt in ein Tal hinab: weißer Nebel wogt an den Ufern des Flusses, im Dorfe schimmern Lichter. Anna entdeckt bekannte Stellen, bekreuzigt sich, sie kann ihre Augen nicht von den schimmernden kleinen Lichtern losreißen.
»Mütterchen!«, ruft sie. »Eh, Mütterchen! Komm uns entgegen!!«
Sie reiten hinunter zur Furt, kein Mütterchen zu sehen, sie reiten in das Dorf ein, kein Mütterchen, und auf der Straße auch sonst kein Mensch.
Nur in dem Teil des Dorfes, wo das Haus Prow Michailowitsch's steht, ist es unruhig.
»Oi, es ist was bei uns passiert!«, dämmert es in Prow, wagt es Anna nicht auszusprechen.
Dem Bauern fiel das Herz in den Sack.
Sie ritten rascher. Vor dem offenen Tor ihres Hofes steht eine dicht gedrängte Menge. Als die die Reiter sah, wurde es laut: »Nun, wir gratulieren Dir zur glücklichen Heimfahrt, Prow Michailytsch … Auch zum Besuch gratulieren wir Dir … Komm erst mal in Deine Hütte, Brüderchen, sieh erst mal! … Da ist eine Geschichte passiert!«
Prow vergaß alles um sich, Entsetzen erfüllte ihn, er fürchtete sich, seinen Hof zu betreten.
Matrëna kommt heraus, läuft Anna entgegen, küßt sie, weint, und unter Tränen und Küssen ruft sie Prow zu: »Borodulin … Och, Ihr Heiligen!«
Aber schon ist Prow in der Hütte, die Hütte ist voll Volkes, es ist schwül darin, aber still und feierlich.
Auf der Bank liegt mit geschlossenen Augen Borodulin. Schon zum zwanzigsten Mal erzählt Matrëna: »Und wie er wiederkam, Väterchen, von der Prügelei, da sind seine Augen ganz weit hervorgequollen, und er zitterte am ganzen Leibe. »Oi«, sagt er, »Matrënuschka, etwas hat mir den Atem verschlagen« … Lehnt sich an den Zaun und stürzt hin! … In einem Augenblick lebendig und tot …«
Den halbtoten, schwerverletzten Landstreichern dröhnten Trommeln, klirrten Schellen in den Ohren, funkelte es vor den Augen, brüllten und quietschten vor ihnen schwarze Schnauzen, alles in ihnen brannte wie Feuer und ihr Atem ging schwer. Es war gerade so, als ob irgendwelche Teufel sie in einem wilden Tanze umhergewirbelt und sodann in einen stinkenden Abgrund hinabgeschleudert hatten.
Anton lag auf Ellenbogen und Knien auf dem schmutzigen Erdboden, gerade als ob er Wasser aus einer Quelle trinken wollte. Er stöhnte dabei in einem fort.
Wanjka Swistopljas, dessen grobknochiges Gesicht ganz mit Blut beschmiert war, bemühte sich immerfort, sein abgerissenes Ohr, das nur noch an einem Hautfetzen hing, wieder anzukleben. Er saß ganz zusammengekrümmt wie ein Häufchen Unglück unter dem einzigen Fenster, und knirschte unaufhörlich mit den Zähnen, um seinen Schmerz zu überwinden.
Tulja lag neben Wanjka, hielt die Arme unter dem Nacken verschränkt und blickte schweigend mit verquollenen blutunterlaufenen Augen zur Decke. Die Landstreicher fühlten genau: das eigentliche Gewitter kam erst, mit dem Politischen war die Sache nicht abgetan, auch sie würden noch an die Reihe kommen.
Sie mußten unbedingt fliehen, aber wo sollten sie sich verstecken? Sie würden sie bald einholen, würden sie in Stücke reißen, in die Erde stampfen. Wo sollten sie auch hin? In die Taiga? Sie hatten ihnen ja alles weggenommen. Auch das Gewehr. Sollten sie den Wächter erstechen? Den roten Hahn aufsetzen? Aber die Tür war fest verschlossen und das kleine Fenster mit eisernen Gittern zugeschmiedet. Nein, hier kamen sie nicht mehr hinaus: noch dazu mit ausgerenkten Gelenken und gebrochenen Rippen … Es hatte gar keinen Zweck, sich darüber den Kopf zu zerbrechen … Schwamm drüber …
So blieben sie in ihrer Ecke und starrten stumpfsinnig vor sich hin. Nur Lechman, dessen mächtiger Leib ausgestreckt auf der Erde lag, stöhnt plötzlich auf, greift sich an die mit einem Ziegelstein eingeschlagene Brust und fängt an, auf seine Kameraden zu schimpfen. Auf Swistopljas, auf den grobknochigen Tulja mit dem blauunterlaufenen Auge und auf Anton. Auch ihnen ging es hundeelend, aber trotzdem schimpft er ohne Unterlaß auf sie und auf seine Mutter, daß sie ihn in diese Welt geboren hat, auf die Taiga, auf das ganze verfluchte Leben und auf den Tod, der ihn immer noch nicht holen will.
»Wir können doch wirklich nichts dafür«, stöhnt Tulja.
»Nichts da-a-a-für!!«, dröhnt Lechman, und spuckt wütend in die Luft. Er weiß selbst ganz genau, daß sie nichts dafür können, daß das Schicksal sie hierher verschlagen hat, unter den Pantoffel gestellt hat, aber kannst du deinem Schicksal entgehen, kannst du ihm eins in die Fresse hauen? Es juckt einen allerdings gewaltig in den Fäusten!
Schnell sprang Lechman ächzend und fluchend auf wie ein Junger, sein Gesicht ist wutverzerrt, er ergriff einen eisernen Ofen am Fuß und schleudert ihn mit aller Gewalt an die Wand. »Kamerad! … Was tust Du?«, beschwört ihn Anton.
Lechman knirscht mit den Zähnen: »Halt's Maul, Du Heiliger!« und stürzt sich wie ein Bär auf Anton, ebenso ungeschlacht, schrecklich und zornig. Anton bleibt ganz ruhig auf der Erde liegen und blickt ihn mit großen Augen mitleidig an.
Lechman bleibt stehen, als ob er in seinem Lauf an eine unsichtbare Wand rennt, sein Kopf erzittert, sein Bart bewegt sich. »Kinder!«
Dann greift er sich an den kahlen Schädel und stöhnt unaufhörlich, wie ein Wolf, der heult, setzt sich dann nieder und kriecht auf allen Vieren in eine Ecke, sein langer wilder Bart schleift über die Erde, kehrt den vollgespuckten Boden.
»Kameraden, Ihr lieben!«, stöhnt Lechman, und bohrt das Gesicht in die Erde.
Schon ist Anton neben ihm und streichelt seinen dürren Rücken: »Ach, Väterchen, Du warst immer gut zu uns.«
Wanjka und Tulja, denen immer noch die Zähne klapperten, schielen immer noch auf Lechman, bald auf die Tür, vor der immer noch das Volk lärmt. Sie können allerdings die einzelnen scharfen Reden und die Flüche nicht verstehen, die von der Dorfstraße her durch das Gitterfenster hereindringen, zusammen mit dem Purpurrot des Sonnenuntergangs.
»Tulja«, flüstert Wanjka, »hörst Du, wie sie schreien?«
Wirklich lärmte das Volk jetzt viel lauter, aber auf einmal ist es still: mit einem Schlage waren alle Geräusche abgebrochen, wie fortgeflogen, und es war ganz still.
»Wer?« ruft verwundert der Wächter, der vor der Tür auf der Straße steht. »Borodulin?! Nein, so was!«
Man hört in der Stille, wie er auf dem Stiefelabsatz die Pfeife ausklopft und sich halblaut mit sich selbst unterhält.
Die Sonne geht unter und verabschiedet sich mit einem letzten Schein von den Landstreichern: ihr waren sie alle gleich, waren Blutsverwandte. Anton scheint sie freundlich ins Gesicht, er kneift die Augen etwas zusammen, blickt zum Fenster hinaus, seufzt und verfolgt ihre letzten Strahlen, vielleicht sah er sie morgen nicht wieder.
Lechman war eingeschlafen, aber stöhnt und seufzt im Schlaf.
»Anton«, fragt Wanjka, »willst Du etwas zu Essen haben?«
»Nein, mein Lieber … Ist es Dir wie essen? … Aber trinken möchte ich gern.«
Es war still im Raum, Dunkel wuchs von Minute zu Minute. Irgendwo brüllt eine Kuh, weint ein Kind, kläfft ein Hund.
»Ich möchte ihn gern um Wasser bitten, aber ich habe Angst«, sagt Wanjka.
»Wovor hast Du Angst?«
Wanjka seufzt, schweigt eine Weile und antwortet dann: »Wenn sie uns nun totschlagen?«
Bald war es in der Zelle ganz finster und still. Entweder schliefen sie, oder sie schwiegen wenigstens.
Irgend jemand kommt auf einem Pferde vorbeigeritten.
»Mütterchen, komm uns entgegen!«, ruft eine Mädchenstimme.
Wieder war alles still. Nur der Wächter summt sich ein Liedchen, und Lechman hustet und redet ab und zu im Schlaf.
Wanjka und Tulja befinden sich am Fenster. Sie reden ganz leise miteinander. Manchmal sagt einer ein paar Worte etwas lauter, aber verfällt dann sofort wieder in Flüsterton.
»Anton!«, ruft Wanjka leise.
Keine Antwort.
»Großväterchen!«
Auch Lechman schweigt sich aus.
»Sie schlafen«, sagt Tulja.
Wanjka Swistopljas kratzt sich im Dunkeln, dreht sich auf die andere Seite herum und murmelt mit zitternder Stimme: »Och, Kamerad … Gott behüte, daß die Bauern jetzt in Wut geraten.«
»Ja, ja, ja«, antwortet Tulja gedehnt.
»Dann brauchen wir bloß Amen zu sagen … Aber hab ich Dir mal erzählt, wie wir Arrestanten im Zuchthaus vier Aufseher erledigt haben … Die ganze Horde … Das war schon so ein Abend wie heute und eben so dunkel. Sie hatten uns ja niederträchtig gequält, richtige Bestien … Da hatten wir uns schließlich zusammengetan und verabredet … Wie sie nun die Runde machen, stürzen wir uns plötzlich auf sie … Wie die Hasen haben sie geschrien, weißt Du, wenn der Hund einen Hasen zerreißt, dann kann er schreien wie ein kleines Kind … Sie fallen vor uns auf die Knie, bitten um Gnade. Da hatten sie sich aber geirrt. Drei haben wir gleich kalt gemacht, mit den Köpfen an die Wand gehauen, bis sie tot waren. Aber den Vierten, den Vierten, Tulja, den haben wir … den …«
Tulja seufzte, wurde dann ärgerlich und gab Wanjka einen Rippenstoß: »Quäke nicht so … Du Teufel … Speichellasser!«
Wanjka richtete sich auf: »Wir haben ihn, Tulja, hingeschmissen, mit einer Schlinge die Füße zusammengebunden und das andere Ende des Strickes über den Rücken an den Hals, dann haben wir angefangen, ihn wie ein Krummholz zu biegen, bis die Fersen an den Scheitel kamen. Erst hat er wahnsinnig geschrien, wie ein Ferkel unter dem Messer, dann hat er nur noch gewinselt. Aber wir Teufel haben dazu nur gefeixt … Der Mensch stöhnt, aber wir haben immer fester gezogen, haben ihn dann mit der Brust auf die Erde gestellt wie ein Rad, da hat er gekrächzt, als ob er schnarchte … Schließlich erwiesen sich die Beine doch stärker, aber die Gurgel hielt es nicht aus, es gab einen Knacks, und die Wirbelsäule war gebrochen … Das knirschte vielleicht … Und wir dann fort …«
»Hol' Dich der Teufel!«, sagte Tulja, und spie aus.
Lange lagen sie beide schweigend und schlossen ab und zu die Augen.
Ängstlichkeit übermannt Wanjka, und in seinem Innern war es abwechselnd kalt und heiß. Aber doch noch konnten sich seine Gedanken nicht von dem bisherigen Lebensweg lösen, sie zogen immer wieder die Taigawege entlang, zu den Gruben der Tiere und zu schwarzen Untaten. Hatte er sie getan? … Ja, er, damals noch ein junger Mensch, Wanjka Swistopljas.
»Ja, ich war damals eben noch ein dunkler, unaufgeklärter Mensch, ich konnte ja nichts dafür«, versuchte er sich vor sich selbst zu rechtfertigen. »Zudem war ich Waise … Väterchen hat mich mal mit der Mörserkeule auf den Kopf geschlagen … Väterchen hat auch Mütterchen erstochen und hat sich selbst erhängt …« Aber das Gewissen will nicht schweigen, es beunruhigt Wanjka immer wieder mit seinen eigenen Gedanken: Wanjka sieht eine gemordete Frau im roten Kleide, sieht ein hingeschlachtetes junges Mädchen und hört, wie in der Schlinge des Gefängnisaufsehers Wirbelsäule knirschend bricht.
»Ich … Ich … Meine Sünde.«
»Du Teufelskopf, woran denkst Du schon wieder?«, fragte ihn Tulja streng. »Winselst Du schon wieder?!«
»Nein, ich denke an gar nichts … Ich möchte bloß … Bloß ein bißchen … Na, was denn gleich … Tabak.«
Da hören beide den Atem eines Menschen, der draußen vor dem Fenster stehen muß.
»He, ist hier noch einer lebendig?«
Wanjka erhob sich. Zwei Flaschen Milch schoben sich durch das Gitter, ein Weizenkalatsch, Kartoffeln und Zwiebel.
»Da, nehmt Ihr es, Ihr Unglücklichen!«, sagte eine Frau und ging seufzend und murmelnd von dannen.
Wanjka drückt den Kopf an das Gitter, hielt sich das abgerissene Ohr und rief ihr hinterher: »Verzeih' uns Sündern, Großmütterchen … Seist Du nun ein Großmütterchen oder ein Tantchen.«
Gierig saugte Wanjka die herbe Nachtluft ein und lauschte auf jeden Ton, jedes Geräusch. In der Nähe war es ganz still, nur in der Ferne hörte man kaum vernehmliche menschliche Stimmen.
Tulja kaute Brot und trinkt von der frischen Milch.
»Man müßte Licht machen,« sagte Wanjka, als er sich niederließ.
»Hast Du Streichhölzer?«, fragte der bisher schweigsame Anton, »ich habe ein Lichtstümpfchen … das Letzte.«
Wanjka freute sich an seiner ruhigen Stimme.
Sie zündeten den Lichtstumpf an und befestigten ihn an der Wand, an einem abgerissenen Span.
Die Flamme flackerte trübe und zitternd.
»Genau so ist auch unser Leben … wie dieser Lichtstumpf«, sagte Wanjka nachdenklich, »es brennt zu Ende und dann kommt nur noch das Amen.«
»Fängst Du schon wieder an zu quäken«, knurrte Tulja.
Wanjka saß mit blutbeschmiertem Haar und Gesicht auf der Erde, die Knie angezogen, gegenüber Anton, und blickte ihn trübsinnig an.
»Geh lieber in Deine Ecke: Du siehst zu schrecklich aus«, sagte ihm Anton, »aber ich werde beten, bei mir langt nur die Luft nicht mehr, die Kerle haben mich so zertrampelt.«
Wanjka kroch gehorsam in eine Ecke und sagte von dort: »Eigentlich könntest Du mich beten lernen … Es könnte nichts schaden … Sonst schicke ich ja doch einen Mutterfluch dem andern hinterher.«
Anton zog ein in Lumpen gewickeltes kupfernes Heiligenbild aus seinem Sack und stellte es auf die Erde.
Plötzlich heulte Lechman so durchdringend im Schlaf, daß alle erschrocken auffuhren und fragten: »Großväterchen, Großväterchen!«
Der erhob sich rasch, rieb sich die Augen, runzelte die Brauen und blickte sich verwundert im Kreise um.
»Was ist mit Dir?«
»Nichts weiter … Nur so …«, antwortete Lechman in seinem Baß und legte sich wieder.
»Hilf uns … Stärke uns … Mach' uns fest«, flüstert Anton deutlich und eindringlich, liegt hingegossen vor seinem Heiligenbilde und zittert am ganzen Leibe.
Die Flamme schwingt und spielt. Anton betet für alle zusammen. In der Seele der Landstreicher ward es wärmer.