Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Jetzt erst fühlte Anna, wie sehr sie mit Andrej eins war. Als sie mit ihm ins Reine gekommen war – war sie lustig und guter Dinge gewesen, keine Arbeit geschah ohne ein Lied, jetzt aber war sie wie ausgewechselt: verschlossen und schweigsam lebte sie still für sich. Oft steht sie ganz in ihre Gedanken versunken, steht starr wie eine Bildsäule am Herd, ist wie tot. Ruft man sie – zuckt sie zusammen. Borodulin wird anscheinend ärgerlich.
»Ich werde Dir, Anna, eine Strafe auferlegen … Ich werde Dich, Mädel, einmal zu mir in die Schlafkammer schleppen!«
Aber Anna löschte das Feuer im Blute des Kaufmanns mit einem strengen, vorwurfsvollen Blick. Schon lange hatte Borodulin ein Auge auf sie geworfen: nur so, er wollte nur mit ihr spielen. Man müßte Daschka im Herbst den Laufpaß geben, Anna zahm machen und dann – es würde ein leichtes sein, hatte der Kaufmann gemeint, aber jetzt … Der Kaufmann schnalzte mit den Fingern: Tatsache, der Andrej hatte ein auffallend schönes Gesicht, war intelligent … hatte zwar keine anständigen Hosen, aber trug einen Hut.
»Du hast Dich wohl mit Waschlauge überfressen?« fragte Iwan Stepanytsch Borodulin eines Tages Anna.
Anna schwieg.
»Oder hast Du gar Sehnsucht nach Andrej? … Nimm Dich in acht, Mädel!« drohte er ihr scherzend mit dem Finger und betrachtete sie mit einem begehrenden Blick. Als sein Blick aber länger auf Anna ruhte, sproß in seiner Seele neben diesem sündhaften Gedanken ein Neues, wie ein grünes Grashälmchen sich durch die verhärtete Erdkruste emporzwängt.
»Wenn ich sie nun?« sprach der Kaufmann zu sich selbst. »Das wär' eine Sache!« lächelte er. Und er lächelte noch den ganzen Tag.
Andrej hätte längst zurück sein müssen. Anna machte sich schon verschiedene Gedanken: sollte er sich verirrt haben, war er gar einem Bären unter die Tatze gekommen? Oder sollte er – schrecklicher Gedanke – plötzlich geflohen sein! Anna schläft nicht mehr, aber wenn sie doch einschläft – quälen sie schwere Träume, sie fährt auf und sitzt in schweren Ängsten zitternd und frierend in der Finsternis. So hatte er da gestanden, hatte sich über sie gebeugt, hatte sie gestreichelt … Und jetzt war er nicht mehr da. Schreien hätte sie können, weinen … bitter, bitterlich weinen … Aber es fehlten ihr die Tränen. Die zweite Hälfte des Mai kam heran. Andrej kehrte nicht wieder. Seine Kameraden von den politischen Gefangenen schlugen Lärm, er hätte längst zurück sein müssen, er war verschollen. Man rief die Bauern zusammen, drei Tage lang suchte das ganze Dorf die Taiga ab – keine Spur war von Andrej zu finden.
»Geflohen ist das Luder!« sagte Borodulin zu den Bauern. – »Hat sich aus dem Staube gemacht … Ist auf und davon.« Anna blutete das Herz. Die drei Tage aß sie nicht, trank sie nicht. Wie in einem Rausche ging sie daher, ein inneres Feuer verzehrte sie. Als die Bauern ohne Andrej wiederkamen, legte Anna die Männertracht der Taigaleute an: Leinewandhosen, ein derbes Hemd aus Hanf, hohe Stiefel, nahm die Flinte ihres Brotgebers und zwei Hunde und ging mit einem buckligen Soldaten in die Taiga.
»Dich hat wohl der Teufel geritten!« brummte Iwan Stepanytsch.
Lange irrten sie durch die Taiga, an hundert Werst gingen sie kreuz und quer, verschossen ihr letztes Pulver, nein, er antwortete nicht. So kehrten sie heim, zerlumpt und abgerissen, der Soldat ganz borstig im Gesicht, Anna mit tiefliegenden, eingefallenen Augen. Borodulin schüttelte den Kopf.
»Nun … sag bloß … Um Gottes willen, sag einen Ton … Wo hast Du ihn beerdigt? Wo?« quälte Anna ihn Tag für Tag.
»Wer? Ich? Ihn beerdigt? Du bist verrückt, Mädel!«
»Fürchte Gott … Gib ihn mir wieder … Nun, gib ihn mir doch wieder!«
Iwan Stepanytsch stellte das Klappern auf seinem Rechenschieber ein. Warf einen durchdringenden Blick auf Anna. Sie steht ganz still vor ihm, schreit nicht mehr, bettelt nicht mehr, hält die Augen gesenkt, aber ihre Lippen zittern, bewegen sich, können sich nicht beherrschen.
Borodulin erhob sich und führte Anna behutsam nach unten, in ihre Kammer.
»Es wird sich alles einrenken.« Diese Worte sprach der Kaufmann mit ruhiger fester Stimme. Anna faßte Glauben und lächelte. Und als er ihr mit der Hand über den Scheitel fuhr, haschte sie sogar nach seiner Hand und begann zu weinen – da wurde ihr plötzlich leichter zu Mute.
Als sie im Einschlafen war, sprach Borodulin ebenso überzeugt und fest wie vordem – aber es schlug wie ein Hammer auf ihr Herz:
»Er ist längst zu Hause, daheim.«
Anna erhob sich – es war finstere Nacht. Wer hatte das Licht ausgelöscht? Wo war die Sonne? Wo ihre Sonne, Andrejuschka?
»Iwan Stepanytsch, Dascha!« schrie Anna.
Niemand antwortete. Nur in der Ecke, wo der Waschtisch hing, tropfte Tropfen auf Tropfen in die Zinnschüssel.
»Iwan Stepanytsch, Iwan Stepanytsch!« sie geht barfuß, barhäuptig, die Dielenbretter knarren, die Tür geht von selbst auf. Man muß laufen, da wird einem so leicht zu Mute, durch die Gärten, über die Zäune, wie damals, wie früher …
»Halt, wohin willst Du?« Dascha faßte sie von hinten.
»Zu ihm … zu Andrej!«
»Zu wem willst Du? Komm' zu Dir!«
»Iwan Stepanytsch hat gesagt …«
»Komm, komm … Wann war es? Gestern abend? Was redest Du für dummes Zeug. Komm, mein Kälbchen!«
Am Himmel stand der Vollmond. Anna blickte auf den Mond, auf die hellblaue Kirche, in Daschas schwarze Augen.
»Ich muß wohl geträumt haben.«
»Bei Anna ist es hier«, sagte Dascha am anderen Morgen und zeigte mit dem Finger auf die Stirn.
Die alten Weiber kamen angehumpelt, schnatterten durcheinander. Einen bestimmten Saft sollte man ihr eingeben – vielleicht half das, oder sie sollte unter dem Tor [durchkriegen] und wie ein Hund bellen, einen Monat lang. Man sollte auch eine Seelenmesse für Andrej abhalten, der Pope ließ schon mit sich reden, wenn man ihm eine Flasche Schnaps versprach, er würde schon eine schöne Panichida zelebrieren und die würde helfen: die Seele Andrej's würde sich zu regen beginnen, ein Engel Gottes würde sie auf den rechten Weg bringen.
Anna betrachtete die alten Weiber mißtrauisch, sie preßt die Handflächen an die Schläfen, der Kopf schmerzt so. Die Weiber werden lebhafter, sie schreien und keifen, der Speichel rinnt ihnen aus dem zahnlosen Munde.
»Du Hexe!« schreit eine Bucklige. »Du bist es, die nachts den Kühen das Euter durchnagt!«
»Was redest Du da von einer Hexe? Pfui!« sprang eine Lahme auf, stampfte mit ihrem kurzen Fuße auf und krümmte sich wie ein Deichseljoch. »Und Du verwandelst Dich in eine Sau, Du dreifache Hexe!«
»Nu–ty … Du hast wohl Fieber?«
Anna stöhnt, ihr brummt der Kopf. Wenn doch Iwan Stepanytsch käme und alle hinausjagte. Die Weiber geraten immer mehr in Stimmung. Unbemerkt hat Anna ihre Füße aus dem Bett geschoben und ihre Hand nach dem Gewehr ausgestreckt. Auf einmal schreit sie die Weiber mit unheimlicher Stimme an: »Raus … raus mit Euch!«
Wie eine Herde Schafe stürzen die Weiber zur Tür. Durch das ganze Dorf rannte es: die Anna aus Kedrowka ist verrückt geworden.
Aus der Kreisstadt kam der Urjädnik und berief eine Gemeindeversammlung: »Habt Ihr gesucht, Kinder?«
»Gewiß, wir beschwören es, wir sind durch die ganze Taiga gekrochen.«
»Nun ruft mir mal eine … diese … dieses Frauenzimmer her … Wie heißt sie?«
Man rief Anna, aber sie kam nicht. Der Starost geht selbst sie zu holen, sie kommt nicht. Schließlich wird befohlen, sie mit Gewalt herzuschleppen.
»Nun, komm … Was hast Du?«
»Was will er von mir? Will er mich demütigen?« blitzten ihre Augen. Aber schließlich ging sie doch hin.
Der Urjädnik sitzt auf der Rasenbank: hat das eine Bein von sich gestreckt, hält die eine Hand in der Tasche, rollt mit den Augen, sein martialischer Schnurbart zittert, er ist betrunken. »Oho, das ist eine Stute … Saf-f-f-tig«, leckt er sich die Lippen. »Nun, sprich, meine Gnädige … Hast Du Dich mit Andrej herumgetrieben, mit dem Politischen? He?«
Anna kniff die Augenbrauen zusammen, ihr Atem ging rasch, sie sah den Urjädnik über die Schulter an.
»Bist Du taub geworden?« schrie er trunken. »Ich werde Dir die Ohren reinigen … Du Herumtreiberin! … Du Brünstige!« Wie unter einem Schlage zuckte Anna zusammen.
»Schamloser … Pfui!« spuckte sie ihm wütend ins Gesicht.
»A-a-a … So?« schlug er sie ins Gesicht, daß sein Fingerring in der Sonne aufblitzte.
»Oi, Du!« griff sich Anna an den Kopf. »Du Bestie!«
Der Urjädnik, blutunterlaufen, holte erneut zu einem Schlage aus, aber die Bauern packten ihm die Arme und drohten einstimmig:
»Euer Wohlgeboren! Wage es ja nicht!«
»Das darfst Du nicht! … Das Mädel ist nicht von hier, sie ist hier allein!«
»Wa-a-as?« tritt er sie vor den Leib: »In die Arrestantenzelle! Rasch!«
Anna krümmte sich: »Das Kindchen hat er getötet … Batjuschka, gemordet hat er es!« schrie sie auf und rannte durchs Dorf.
Vom Flusse, wo er gerade gebadet, kam Borodulin mit wehendem schwarzem Barte, in großen Sätzen heran. Er sah nur, daß im Gedränge jemand mit Fäusten bearbeitet wurde, torkelte, daß ein Säbel blinkte, Beine in blankgewichsten Stiefeln um sich stießen. Die Menge stieb auseinander.
»Meu-te-rei … Meu-te-rei!« schrie der Urjädnik hervor, auf der Erde kriechend.
»Pjotr Petrowitsch! Euer Wohlgeboren … Was hast Du denn?«
»Durchpeitschen … In die Verbannung, Ihr Gesindel!«
Iwan Stepanytsch kostete es viel Mühe, den Urjädnik in sein Haus zu bringen. Er brachte ihn zu sich, goß ihm eigenhändig Waschwasser ein – das färbte sich gleich blutig, – und verband ihm das blaugeschlagene Auge.
»Hier hast Du«, schnitt er ihm ein Stück vom besten Tuch für einen neuen Uniformmantel ab, »zerrissen haben sie ihn Dir, die Lumpen!« Dazu gab er ihm noch fünfundzwanzig Rubel. – »Vergiß es Lieber … Es kann doch mal vorkommen … Mit unseren Leuten darfst Du Dir keinen Scherz erlauben … Es sind die reinen Raubtiere … Ein Lumpengesindel!«
»Wenn bloß die Vorgesetzten nichts erfahren … Mit den Bauern werden wir schon einig … Und mit dem Mädel auch.«
»Das Mädel … Ja, das Mädel … Es tut einem trotzdem leid … Hier, nimm noch ein Schlückchen vom Kognak … Nun, auch noch ein Ebereschenlikörchen.«
Als man schließlich den völlig betrunkenen Urjädnik quer in seinen Wagen legte, flüsterte Iwan Stepanytsch dem Kutscher zu: »Schmeiß' den verfluchten Hund in eine Pfütze oder sonst wohin … wo es am dreckigsten … Verstanden?«
»Wird besorgt«, zwinkerte der lustige Bursche, sprang auf den Wagenrand und zog dem Deichselpferd und dem lang im Wagen liegenden Urjädnik eins mit der Peitsche über.
Iwan Stepanytsch lachte schallend der davon brausenden Troika nach und rief nach seiner neuen Köchin, der jungen Witwe Fenjuschka:
»Nun, wie geht es Anna?«
»Was soll ich sagen … sie liegt in ihrer Kammer.«
»Heiz' mal die Badestube ordentlich ein und laß' sie ein Dampfbad nehmen, reib sie aber dann tüchtig ab. Verstanden? … Fix!«
Borodulin ging früh schlafen, – es war viel getrunken worden. Er schmunzelte und brummte in seinen Bart: »Anzeigen … He-he … bestrafen …«
Er dachte nach: wenn er die Anzeige nicht verhindert hätte, was dann? … Das halbe Dorf hätten sie ins Gefängnis gesteckt, wieviele Schuldner von ihm hätten dann nicht bezahlen können!
Er blickte auf zum Heiligenbilde, vor dem das warme Flämmchen der ewigen Lampe freundlich leuchtete und sagte laut: »Gelobt seist Du, Mikola barmherziger, gelobet seist Du!« Im Gefühl seiner strotzenden Manneskraft wurde es Iwan Stepanytsch leicht und froh zu Mute, freundliche Gedanken kreisten in seinem Hirn. Ein angenehmes Feuer prickelte in seinen Adern. Eine bekannte Stimme erklang, Anna's, oder nicht Anna's, blaue Augen schwebten vor ihm, es schien Anna's … ja … ihre Augen … Anna's.
Der Kaufmann erhob die schweren Lider und räusperte sich: »Hingehen … Sie in ihrer Kammer aufsuchen …« Da schwand das Lächeln von seinem Antlitz. Das alles wegen des verfluchten Landstreichers … Und der Urjädnik muß auch noch ein paar Zobelfelle kriegen!