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12.

Am Abend dieses Festtages kamen die Landstreicher an die Viehweide von Kedrowka. Nicht weit von ihr stand im Walde auf einer Lichtung ein halbfertiges Holzhaus. Es war nur bis zur Hälfte erbaut und dann stehen gelassen worden, aber trotzdem freuten sich die Landstreicher darüber, denn ein kalter Wind hatte sich aufgemacht.

Andrej, der Politische, überlegte sich, ob er nicht lieber nach Kedrowka gehen sollte, aber als er mit einem flüchtigen Blick seine Lumpen gestreift und seinen zerzausten in der Taiga gewachsenen Vollbart befühlt hatte, überlegte er es sich. Morgen in der Frühe würde er sich von den Landstreichern verabschieden und den Taigaweg nach Nasimowo gehen. Aber wenn Anna nun in Kedrowka war? Nein, es war noch zu früh, Anna sollte bis zur Heuernte bei Borodulin bleiben. Andrej war von dem weiten Fußmarsch sehr ermüdet: er legte sich in eine Ecke auf einen Haufen Holzspäne und schlief auch schon. »Bis morgen« … – murmelte er im Einschlafen.

Das Feuer brannte hell. Das Essen war sehr bald gar und die Landstreicher speisten mit großem Behagen.

Nach dem Abendbrot ging Andrej in eine entlegene Ecke, legte seinen Ellenbogen auf die Balkenwand, seinen Kopf auf die Hand und verstummte. Er fühlte sich sehr elend. Ein grundloser Kummer überfiel ihn und bedrückte ihn schwer.

Wanjka Swistopljas erzählt unterdessen lustige Geschichten.

Tulja lacht auf eine besondere Art: er grient über das ganze Gesicht, zieht die Nase in Falten, greift sich an die Hüften und kichert, den fleischigen Mund schiefgezogen, tonlos.

»Der Teufel hat auf sie aufgepaßt,« sagt Wanjka. »Da lebte ich einmal an einem Fluß, an einer Stelle, wo es viele Himbeeren gab, die Weiber kamen immer hin, um Himbeeren zu suchen, aber ich liebte die Weiber mehr als die Himbeeren. Die Weiber gingen auf die Himbeeren und ich auf die Weiber.«

»Ja. Da hatte ich auch ein Böötchen. Habe es einem abgejagt. Und, weißt Du, Brüderchen, da passierte mir eine schöne Geschichte. Ich schlafe unter einer Tanne, hatte gespeist und mich ein wenig hingelegt, da höre ich – sei es in Wirklichkeit, sei es im Traum, – Weibergeschrei. Schön, denke ich, ich sehe mich um, drüben am anderen Ufer bewegt sich das Himbeergesträuch. Aha! Dort! Fix ins Boot, rudere leise ans andere Ufer, denke: mit einem Satz springst du hinaus, schreist wie ein Wahnsinniger, daß sie vor Schreck alle ausreißen, aber eine greife ich mir!«

»Hh-hh-hh …«, schnauft Tulja.

»Gesagt. Getan.« Wanjka wird lebendig, geht in die Knie, schauspielert, flüstert, als ob er fürchtet, die eingebildeten Beerensammlerinnen zu erschrecken. »Also, gesagt. Getan. Das Ufer ist sehr hoch und steil, ich komme kaum hinan. Da will ich grade an das Himbeergebüsch herankriechen und denke, jetzt brüllst du los, was das Zeug hält … da geht auf einmal vor mir eine Bärin auf die Hinterpranken und auf mich los. Mir bleibt die Luft weg. Da schrie ich wie ein Wahnsinniger und sprang seitwärts den Abhang hinunter!«

»Hhhhhh,« grinst Tulja.

»Natürlich verfehle ich das Boot, patsche ins Wasser, so tief, daß es mir über die ausgestreckten Arme geht, und dann schwimme ich aus Leibeskräften.«

»Hhhh … Und die Bärin hinterher?«

»Hin-ter-her«, schwindelt Wanjka.

»Hh-hhh … Hat sie Dich erwischt?!«

»Erwischt!«, schreit, mit den Armen fuchtelnd, Wanjka, der sich inzwischen in seiner ganzen Größe erhoben hat und sich ebenfalls vor Lachen schüttelt.

»Na, und hat sie Dich gefressen?«, versuchte ihn Tulja auf's Glatteis zu locken.

»Nein!«, unterbrach ihn Wanjka barsch, und seine Augen laufen unruhig hin und her. »Du glaubst mir wohl nicht, Du Giftnudel?«

»Weshalb soll ich Dir denn nicht glauben?!«, schreit Tulja. »Ich kann selber großartig schwindeln.«

»Du Lügenmaschine, ich werde Dir eine!«, schreit Wanjka. »Du Bastschuh! Du aus dem besonderen Gouvernement.«

»Na, laß gut sein … Hör auf …«, beschwichtigte ihn Tulja. Er leckt mit seiner dicken roten Zunge ein Zigarettenpapier an, dreht es mit den Fingern zusammen und reicht es Wanjka ehrerbietig: »Da, nun sei nicht bös!«

Wanjka lächelt herablassend.

Tulja holt ein abgegriffenes Spiel gestohlener Karten hervor, rieb die vor Kälte erstarrten Backenknochen, und begann auszugeben.

»He, Ihr heiligen Teufel! Jetzt wollen wir eins spielen!«

Das Feuer war heruntergebrannt. Die Späne gaben nur wenig Wärme, das Haus war noch ohne Dach, und deshalb wurde es arg kalt.

Auf der Suche nach Holz ging Anton in den Wald, kletterte zum Ufer des Flusses hinunter und setzte sich auf einen Baumstumpf.

Ringsum war alles still. Am Himmel standen leuchtende Sterne, und über dem Fluß brauten Nebel.

Anton kniete nieder und begann wehleidig zu beten. Das Gebet tröstete ihn aber nicht und es kamen keine erlösenden Tränen. Er dachte an seine Sünden, dachte an Ljubotschka, an seine Kameraden, an seinen Bruder, an seine Feinde, wollte alle umarmen und um Verzeihung bitten, – aber es kam nicht richtig heraus, nicht natürlich, er betete nicht mit dem Herzen, sondern mit den Lippen, dachte an etwas anderes, während er sprach, und verstand den Sinn seiner eigenen Worte nicht: Die Seele war mit etwas anderem beschäftigt, sah etwas anderes, unklares und verschwommenes. Es floß heran wie eine Wolke aus den Bergen.

»Mutter Gottes«, murmelt Anton und schlägt mit der Stirn auf die Erde und bleibt lange so liegen und lauscht in sich, ob die Seele nicht endlich weinen will.


Der Politische schläft, die drei anderen spielen Karten. Wanjka steckt sie alle in den Sack, die Karten fallen ihm nur so zu. Der Alte ärgert sich, Tulja ebenfalls. Aber Wanjka haute jedesmal, wenn der Alte eine Karte behutsam auf die Mitte legte, mit großem Schwung seine eigene Karte nach.

Tulja spielt schlecht, paßt nicht auf, nannte den Buben »Klap«, und die Dame »Kralja«.

Wanjka machte sich über ihn lustig: »Eh, Du mit Deiner Sechserkarte! … Gib aus!«

Wanjka hat schon einen ganzen Haufen Kupfermünzen gewonnen, Tulja hat aus seinen Lumpen alle dort versteckten und eingenähten Fünf-, Drei- und Kopekenstücke herausgesucht und betrachtet mit Ärger, wie Wanjka die Kupfermünzen auf einen Haufen legt, das Silber aber in den Mund steckt.

»Ich habe schon einmal meine Hosen versetzt und das Hemd zum Teufel gejagt!«, schreit Wanjka lustig und gibt die Karten.

»Geschlagen!«, haut der Alte das Daus drauf.

»Aber ich habe die Falja!«, springt Wanjka auf und heimst das ganze Geld ein.

In diesem Augenblick war über der Wand ein Hut und ein Flintenlauf erschienen.

»Sdorowo«, sagte eine Stimme.

»Sdorowo«, antwortete der Alte für alle zusammen. »Du bist wohl der Hirte?«

»Ja …«

»Wieviel verdienst Du hier?«

»Soviel ich vertrinke!«

»He, he … Du bist ein witziger Bursche«, scherzte der Alte. »Kriech' zu uns herein, wir werden Dich als unseren Gast betrachten.«

Der fremde Kopf fragte mit ängstlicher Stimme:

»Und woher seid Ihr, Onkelchen?«

»Was geht Dich das eigentlich an?«, erkundigte sich Tulja.

»Ach, ich frage nur so.«

Der Alte nimmt eine Prise Schnupftabak, niest und antwortet: »Wir sind vom Tichon-Berge, wo der Baumstumpf auf den Klotz schimpft.«

»So-o-o«, antwortet der Kopf, der sich irgend etwas dabei überlegt.

Anton war inzwischen wiedergekommen. Die Unterhaltung wurde jenseits der Wand fortgesetzt.

»Mein Lieber, wir sind wirklich ganz friedliche Leute. Wir übernachten hier bloß bis morgen und kommen dann zu Euch. Wir müssen unbedingt mal ins Dampfbad. Die Läuse fressen uns ja auf.«

»So-o-o …«, antwortete der fremde Kopf wieder nachdenklich.

»Wir sind wirklich ganz friedliche Leute, mein Lieber, wir.« Die Stimmen entfernen sich und wurden schließlich ganz still. Anton begleitete den lahmen Semka bis zum Viehhof, und versuchte unterwegs bei dem Burschen einen möglichst guten Eindruck zu machen.

Nachdem er das Tor des Viehhofes fest zugemacht hatte, eilte Semka, so rasch ihn seine lahmen Beine trugen, nach Hause. Er war noch eine Werst vom Dorfe entfernt, als er schon hörte, daß der Festtag seinen Höhepunkt erreicht hatte. Lieder klangen durcheinander, die Harmonika quietschte, jemand rief um Hilfe, und die Dorfköter bellten sämtlich.

Unter einem Busch am Wege hört Semka Flüstern: »Mein Liebster Du, mein Herzallerliebster …«

Kuß auf Kuß.

»Es sind nicht Gefährliche«, denkt Semka und hinkt weiter, außer Atem vor Anstrengung.

Im Dorfe ist das reine Sodom und Gomorra.

Obabok sitzt schon längst gefesselt hinter Schloß und Riegel. Er hat Timocha, dem Glöckner, fast das Auge ausgeschlagen und mit einer Deichsel den Bauern die Fensterrahmen eingeschlagen: »So geht es bei uns zum Feiertag her. Ich gratuliere!« Am anderen Ende des Dorfes war eine Schlägerei im Gange.

»Um die Ecke bringen muß man die Lumpen!«, schreit Mischka, Uchores und Senjka Kosyr, und springen auf Fedot zu.

»Wen?«

»Dich, Menschenfresser, wen Du in Deine Klauen bekommst, dem saugst Du das Blut aus!«

»Macht, daß Ihr wegkommt!«

»Rückst Du Geld raus oder nicht?!«

»Keine Kopeke!«

»Sag: willst Du Geld hergeben oder nicht?!«, schwingt Kosyr einen Knüppel. Fedot erschrickt, springt rasch zur Seite und rennt in eine Nebengasse.

Timocha sitzt stumpfsinnig auf einer Rasenbank und hält ein altes sibirisches Fünfkopekenstück auf sein angeschlagenes Auge. Er hat plötzlich den Wunsch, die Uhr schlagen zu lassen, steht auf, schlägt neun Mal an die Glocke, setzt sich dann wieder und summt sich ein Liedchen.

»Falsch!«, kommt jemand des Weges daher. »Ist es erst neun? Die Hähne werden gleich krähen!«

Timocha steht auf und fügt noch zwei Schläge hinzu.

»Zwei … sechs …«, murmelt ein zahnloser Alter auf seinem Ofen. »Ich müßte noch bißchen rauchen … noch bißchen trinken«, murmelt er.

Der Kater kriecht zu dem Großvater und reibt sich an der Wange des Alten.

»Sechs!«, ruft der Alte; er wollte eigentlich »weg mit Dir« rufen, aber es kam nicht heraus, so packte er den Kater, schmiß ihn auf die Erde und rief ihm nach: »Mit Gott, Amen!«

Senjka Kosyr und Mischka stahlen sich durch die Gärten zum Fluß und bestiegen das Boot. Sie blickten sich um – niemand ist zu sehen. Stoßen vom Ufer ab und sitzen einander gegenüber mit brennenden Augen und zusammengebissenen Zähnen.

»Ist Dein Messer scharf?«

»Scharf!«

Wie zwei Wölfe schleichen sie sich zum Viehhof, gehen schwankend durch das taufrische Gras und suchen mit trunkenen Augen nach Beute.

»Wenn nun andere auch weißes Vieh haben?«

»Ach egal, stoß ruhig zu.«

Senjka setzt mit zwei Sprüngen auf eine weißen Kuh und bohrt ihr, weit ausholend, das Messer in den Hals.

»Gib mir das Messer … Gib mir's.«

»Du kannst die anderen kalt machen.«

Lange streichen sie, vor Blutdurst lallend, über die Viehweide, und erstechen die weißen Kühe Fedot's die dort friedlich schlafen.

»Er wird daran denken, die verfluchte Beißzange!«, sagte Senjka Kosyr, und wischte das Messer mit Gras ab.

»Jetzt wollen wir auch noch den Bullen hinterherschicken!«

»Ach, laß ihn nur leben … Es geht auch so.«


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