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Fünfzehntes Kapitel.
Nacht

Der Wind fegte den Nebel horizontal über das Deck. Wir konnten kaum noch bis in die Mitte des Schiffes sehen, doch kamen Augenblicke, wo der silberne Dunst sich lichtete und uns einen Blick auf einige hundert Fuß der stahlfarbenen See gewährte.

Das Deckhaus ist jetzt leer, sagte ich. Erlauben Sie, daß ich Sie hineinbringe. Hier ist es zu feucht.

Noch nicht! Ich bin hier ebenso sicher. Der Ausblick auf die See gibt mir mehr Ruhe. Es wäre doch möglich, daß der Ostindienfahrer oder das Kriegsschiff in unsere Nähe käme.

Diese Hoffnung hege auch ich, erwiderte ich zuversichtlich und fuhr nach längerem Schweigen fort: Wie plötzlich doch all das geschehen ist! Und denken zu müssen, daß nur die Dummheit der Leute im Kutter daran schuld ist! Sie sahen das Wetter kommen und hörten die von unserm Schiff abgegebenen Warnungsschüsse. Warum kam keiner an Bord, das zu melden? Warum ließen Sie uns in Unwissenheit von alledem?

Ach Gott, was wird meine Tante denken?

Ja, sie wird in furchtbarer Angst sein. Aber hoffentlich nicht lange, denn da man jedenfalls unsere Fahrt hierher beobachtete, wird man uns noch hier vermuten und bald abholen. Deshalb sind wir auch hier geborgener als im Kutter. Der kann durch Wind und Wogen abgetrieben in dem Nebel leicht beide Schiffe verfehlen, und Gott sei ihm dann gnädig, wenn die Nacht hereinbricht.

O, es war ein Unglück, daß wir die Korvette sehen mußten!

Nein, verbesserte ich grimmig, aber es war ein Unglück, daß Colledge, der zweifellos auf der Korvette zu viel Wein getrunken hatte, den Vorschlag machte, noch hierher zu fahren. Diese Stunde Zeitversäumnis hat alles Unglück über uns gebracht. Ich begreife auch nicht, wo der Leutnant seinen Verstand hatte, als er meine Besorgnis betreffs der drohenden Erscheinung im Nordwesten verlachte. Schon die immer stärker werdende Wucht der Dünung mußte ihm sagen, daß dahinter Unheil lauerte.

Was wird nur meine Tante sagen! rief sie wieder, indem sie ihre beringten Hände zusammenschlug und furchtsam in den Nebel blickte. Wie soll das enden?

Ich schwieg, denn mich ängstigte der Wind, welcher jetzt mit der Schärfe einer häßlichen Bö blies. Die Luken lagen offen und von ihren Verschlußdeckeln war nichts zu sehen. Wenn dies Wetter anhielt und die See bald sehr hoch wurde, war das Wrack rettungslos verloren; es mußte sich füllen und sinken. Der Leutnant hatte zwar versichert, daß es fest sei, aber unzweifelhaft hatte der Blitzschlag, der es entmastete, und der darauffolgende Sturm es sehr mitgenommen; und wenn es auch noch dicht gewesen sein mochte, als der Leutnant es durchsuchte, so konnte sich bei dem jetzigen starken Arbeiten des Schiffes doch jeden Augenblick eine Planke lösen oder eine Naht undicht werden. Die Pumpen waren zerschmettert, sämtliche Boote fort. Wohin auch mein Auge blickte, nirgends gewahrte ich etwas, das dem Mädchen und mir hätte zur Rettung dienen können. Mit unbeschreiblicher Angst spähte ich immer wieder windwärts, um ein Lichterwerden des Nebels oder sonst ein Zeichen zu entdecken, welches mir Hoffnung gäbe, daß der Wind bald nachlassen und der Ozean sich klären würde.

Die Zeit verging. Ich sah nach der Uhr; es war sechs. In einer Stunde ging die Sonne unter, und eine pechschwarze Nacht mußte folgen, wenn der Dunst sich nicht mit dem schwindenden Tageslicht verzog. Die See war sehr bewegt, doch schien es mir, als ob die Dünung sich etwas abflachte. Der Rumpf tanzte fürchterlich und schnellte oft mit plötzlichem Ruck derart von einer Seite zur andern, daß wir vom Deck geschleudert worden wären, hätten wir nicht gesessen und einen Halt gehabt. Und diese Gefahr war für uns um so größer, als die Neigungswinkel des leichten, ungewöhnlich hoch auf dem Wasser liegenden Fahrzeuges sehr steil waren. Diese Höhe hatte allerdings den Vorteil, daß das überkommende Spritzwasser von keiner Bedeutung war. Hierdurch fühlte ich mich nach einiger Zeit unendlich beruhigt, denn ich erkannte, daß der Wind noch ein gut Teil stärker blasen müßte, bevor wir Gefahr liefen, daß unser Rumpf sich füllte.

Kurz vor Sonnenuntergang ließ sich Fräulein Temple bewegen, ins Deckhaus zu gehen. Sie betrat es mit Widerstreben und wählte ihren Platz in der fernsten Ecke von der Stelle, an welcher der Tote gesessen hatte. Draußen waren wir ziemlich schweigsam gewesen. Das unaufhörliche Brausen des Wassers, die oft erschreckenden Bewegungen des Schiffes, der hoch emporspritzende Schaum am Bug, der pfeifende Wind, das unheimliche Stöhnen der Spieren am Fockmast, das plötzliche Versinken in ein Wellental – all das war beängstigend und verwirrend genug und hatte das Reden erschwert. Aber das Deckhaus milderte diese Störungen. Ich setzte mich in respektvoller Ferne dem Mädchen gegenüber und schaute hinaus; die abendlichen Schatten verdunkelten schon den weißen, wallenden Nebel, der mir nicht mehr so dicht erschien. Fräulein Temple war totenblaß; sogar die Lippen hatten ihre rosige Farbe verloren. Ihre Augen sahen unnatürlich groß aus und zeigten jenen Ausdruck von Zorn und Verzweiflung, wie man ihn bei einem stolzen, edlen Wild sieht, das, von seinen Verfolgern gestellt, keinen Ausweg mehr weiß. Sie sagte:

Ich glaube, ich werde wahnsinnig, wenn sich der Nebel nicht verzieht. Mir ist jetzt schon, als ob alles, was geschehen, nur Einbildungen des Irrsinns wären.

Ich fühle ganz mit Ihnen, suchte ich sie zu beschwichtigen, doch wir müssen uns in Geduld fassen. Wir haben kein andres Mittel, uns über unsre Lage erträglich hinwegzuhelfen.

Sie lachte hart auf. In Geduld fassen, wo ich mich töten könnte, in solche Lage gekommen zu sein. Ist es nicht zum Verzweifeln, sich vorzustellen, wie ruhig und behaglich man jetzt auf unserm Schiff im strahlenden Lichterglanz des Salons, munter plaudernd an der Tafel sitzen könnte? Und nun dieser Kontrast! – Schaudernd und voll Abscheu schweiften ihre Blicke durch den engen Raum.

Und warum bin ich hier? fuhr sie fort: Nur durch meine eigene Torheit, meine eigene Schuld. O! o! ich könnte – Sie rang die Hände.

Aber, bitte, beruhigen Sie sich doch ein klein wenig. Bedenken Sie, daß alles noch viel schlimmer sein könnte. Stellen Sie sich vor, Sie befänden sich in dem offenen Boot; in diesem undurchdringlichen Nebel, umhergeworfen von den Wellen; hinausgetrieben in die Finsternis der herabsinkenden Nacht, ohne Wasser, ohne einen Bissen zu essen, ringsum nur den unermeßlichen Ozean – das wäre doch noch viel schrecklicher!

Ach, der Kutter ist noch immer besser daran, als wir hier auf diesem grausigen Wrack. Wenn der Morgen die Schiffe zeigt, kann er hinrudern; was aber können wir?

Wenn der Morgen die Schiffe zeigt, wiederholte ich, werden diese auch uns sehen und uns sehr erfreut hier abholen.

Sie stand auf und trat an eine der leeren Fensteröffnungen, durch die der Wind in allen Tonarten blies. Es dunkelte schnell. In dem düsteren Grau war das stahlfarbene Wasser mit seinen Wellenköpfen nur noch schwach zu sehen; schäumend stürzten sie vorüber, um gleich im Nebel zu verschwinden. Doch hatte weder der Wind, noch die Wucht des Seegangs zugenommen.

Mit einem trostlosen Seufzer kehrte sie auf ihren Platz zurück, und mich angstvoll ansehend, sagte sie:

Sie sind Seemann gewesen, Herr Dugdale – was denken Sie? Was wird aus uns?

Nun, vor allem müssen wir uns vorbereiten, die Nacht hier zuzubringen. – Sie schlug wie verzweifelt die Hände vor das Gesicht, und ich wartete, bis sie mich wieder ansah. Dieses Wetter wird nicht anhalten, fuhr ich fort; die Morgendämmerung wird uns vermutlich einen klaren Tag bringen. Wenn die Schiffe dann nicht in Sicht sind –

O Gott, o Gott, stöhnte sie dazwischen – so werden sie sich doch die Lage des Wracks gemerkt haben und nach uns suchen. Schon wenn wir nur ein einziges Schiff in unsrer Nähe wüßten, dürften wir uns sicher fühlen, es sind doch aber sogar zwei. Und beide haben Interesse an uns und werden uns nicht verlassen.

Aber wird Sir Edward Panton wissen, daß wir hier sind?

Ohne Zweifel. Er selbst oder andre haben sicher bemerkt, daß der Kutter hieher abbog.

Sie können aber glauben, daß wir im Boot sind; und wenn das nicht zurückkehrt, werden sie nach ihm suchen und sich um das Wrack nicht kümmern.

Freilich, das und noch vieles andere konnte der Fall sein. Ueber derartige Möglichkeiten zu sprechen, erschien mir aber unfruchtbar. Ich gab deshalb dem Gespräch eine andere Wendung, indem ich sagte: Ich werde mich jetzt mal nach einer Lampe oder Laterne umsehen. Unten in der Kajüte wird wohl etwas zu finden sein.

Werden Sie lange bleiben? fragte sie ängstlich.

Ich werde mich möglichst beeilen.

Ja bitte, Herr Dugdale.

Als leidenschaftlicher Raucher war ich mit dem nötigen Feuerzeug versehen. Schon das Hinabsteigen der Stufen kostete bei dem übermäßigen Schlingern des Wracks, das wie eine Nußschale umhergeschleudert wurde, Mühe. Nur Zoll um Zoll kam ich vorwärts, da ich überall einen Halt suchen mußte. In der Kajüte erschrak ich vor dem fürchterlichen Lärm. Jeder Schlag der Wogen zitterte hier durch das Schiff, als ob der ganze Bau aus seinen Fugen gehen wollte. Ich gestehe, daß mich bei diesem Getöse das Gefühl meiner Verantwortlichkeit so überwältigte, daß ich mich einige Minuten an den Türpfosten lehnen mußte. Doch der Gedanke an das Mädchen, das oben einsam und verzweifelt saß, half mir meine Haltung wieder gewinnen.

Es war pechfinster; ich erinnerte mich aber der Lage der vom Leutnant entdeckten Speisekammer und kroch auf Händen und Knien so lange tastend umher, bis ich den Vorratsraum gefunden hatte. Hier mußte ein Streichholz nach dem andern geopfert werden, ehe ich endlich einen Blechkasten voll herrlicher Wachskerzen fand. Sie waren jedenfalls ein Beutestück, denn für ein Raubschiff schienen sie mir zu vornehm.

Nun suchte ich einen Leuchter, konnte aber nirgends einen entdecken. Das verschlug aber nichts, denn eine leere Flasche verrichtete denselben Dienst. Diese steckte ich, nebst mehreren Lichtern, in meine Brusttasche, während ich alle andern Taschen meines Rockes mit einer Flasche Wein, Schiffszwieback und zwei Blechbechern füllte. Alsdann kroch ich wieder auf allen vieren nach der Treppe. Mich schmerzte jeder Knochen von der beschwerlichen Reise, als ich, empfangen von einem: Gott sei Dank, daß Sie wieder da sind, mich erst einige Minuten setzen mußte, ehe ich meine Schätze auspackte.

Der Wind fegte durch die Fenster, doch gewährte der, wie schon erwähnt, schmale, aber sehr lange Raum an seinem vorderen Teil ein Plätzchen, wo die Luft so ruhig war, daß ein Licht brennen konnte. Ich befestigte dort die Flasche mit der Kerze derart, daß jede Feuersgefahr ausgeschlossen war, selbst wenn wir später einschlafen sollten.

Die Helle schien dem Mädchen wieder etwas Mut zu machen. Wie tapfer Sie sind, sagte sie, scheu nach der schwarzen Treppenluke blickend, daß Sie in dieses schreckliche Loch hinabstiegen. Es konnten doch da unten noch mehr Leichen liegen!

Vor Leichen fürchte ich mich nicht. Ich wünschte, es gäbe auf Erden nichts Schlimmeres als tote Menschen. – Doch sehen Sie, hier habe ich eine Flasche Wein und einige Zwiebacks. Es würde Ihnen gut tun, etwas zu genießen.

Ich entkorkte die Flasche und reichte ihr einen halbgefüllten Becher.

Sie betrachtete das rohe Trinkgefäß mit schmerzlichem Lächeln und sagte: Ein verzweifelter Tausch mit der Tafel unseres Schiffes! Wird der Wein nicht zu schwer für mich sein?

Trinken Sie ruhig; er wird Sie stärken.

Sie nippte zuerst nur ein wenig; dann nahm sie einen richtigen Schluck.

Nun, bitte, versuchen Sie auch einen Zwieback. Er ist zwar hart und wenig schmackhaft, aber wir müssen mit dem zufrieden sein, was sich uns bietet.

Sie begann zu knabbern.

Ja, das ist wirklich ein echtes, rechtes Ozeanabenteuer, hob ich wieder an. Wenn Colledge geahnt hätte, was er tat, als er Sie zu dem Ausflug hierher beredete, und in seiner fröhlichen Weinlaune zu Ihnen sagte: Bedenken Sie doch, was alles Sie zu erzählen haben würden! Jetzt wird er wohl seinen Uebermut schon hundertmal verwünscht haben. – Uebrigens, können Sie denn den Zwieback beißen?

O ja; es geht schon, sagte sie matt lächelnd.

Er ist aber steinhart, sagte ich kauend. Unten gibt es noch mancherlei. Ich will gehen und etwas anderes holen.

Nein, bitte, tun Sie das nicht. Verlassen Sie mich nicht wieder, rief sie eifrig.

Aber, da wir genötigt sind, die Nacht hier zuzubringen, muß ich ohnedem noch einmal hinunter. Ich muß doch suchen, Ihnen eine Decke oder sonst eine Unterlage zu schaffen, auf der Sie weich liegen können. Auf diesem harten Kasten können Sie nicht ruhen.

Ach, ich lege mich nicht. Wie können Sie nur glauben, daß ich schlafen könnte? Ich werde die ganze Nacht sitzen und beten, daß sich der Nebel verzieht und wir die Schiffe wieder sehen.

Sonderbar. Wie schlecht das Menschenherz doch ist! Während ihrer wehmütigen Worte kam mir ein nichtswürdiger Gedanke. Ich gedachte der hochmütigen Behandlung, die sie mir bisher, im Gegensatz zu Colledge, hatte zuteil werden lassen. Mir schwebte es auf der Zunge, ihr mein Bedauern auszudrücken, daß nicht dieser an meiner Stelle hier mit ihr eingesperrt säße. Doch ich biß mich auf die Lippen und schwieg und freute mich meines Schweigens, als ich einen Augenblick später ihre schönen Augen in Tränen schwimmen sah.

Lassen Sie doch die Hoffnung nicht sinken, bat ich mitleidig. Betrachten Sie die Sache als das, was sie ist, nämlich als ein böses Geschick, das aber zu ernsten Befürchtungen noch keinen Anlaß gibt. Ich bin überzeugt, Sie werden mit dem wiederkehrenden Tageslicht neuen Mut fassen, und ich werde, was in meinen Kräften steht, tun, unsere Lage erträglich zu gestalten. Ich wünschte freilich, Sie hätten einen besseren Seemann zur Seite, als ich es bin, aber ich hoffe, es werden in dieser Beziehung keine großen Anforderungen an mich herantreten. Das Schlimmste ist sicher noch in weitem Felde.

Sie barg ihr Gesicht in den Händen. Ich hob den Deckel des Kastens, auf dem ich gesessen hatte, um die Flasche Wein in Sicherheit zu bringen, denn trotz meiner zuversichtlichen Worte konnte nur Gott wissen, ob nicht am Ende jeder Tropfen des Weines uns wertvoller werden würde als die ganze zwanzigfache Ladung des Ostindienfahrers. Im Kasten lagen Kleidungsstücke und dergleichen, doch nichts für uns Brauchbares.

Ich tappte nach der Tür, um wieder einmal hinaus zu sehen. Wind, Nebel, Wasser – alles war noch genau so wie vorher, doch überkam mich plötzlich eine neue niederschmetternde Sorge: Wenn auch für uns unbemerkbar, so konnte doch kein Zweifel darüber herrschen, daß das leichte Wrack dem Schlag der Wellen folgte, und auch der Wind in dem einen Mast, den Wanten und den Raaen mit ihren festgebundenen Segelstücken genug Widerstand fand, um uns leewärts abzutreiben. Mit Schrecken berechnete ich, daß dies bei dem herrschenden Wetter wohl an drei bis vier Meilen die Stunde betragen konnte, so daß wir uns bei Tagesanbruch vierzig bis fünfzig Meilen von der Stelle befinden mußten, wo wir an Bord gekommen waren. Dafür gab es nur den einen Trost, daß die Befehlshaber beider Schiffe ein solches Abtreiben bei ihren Nachforschungen nach dem Wrack in Rechnung ziehen würden. Wie war es aber, wenn der Kutter, kurz bevor der Nebel ihn verhüllte, gerade in dem Augenblick gesehen worden war, wo er, auf der Suche nach dem Leutnant herumrudernd, sich vom Wrack entfernte? In diesem Fall konnte man auf den Schiffen natürlich nicht anders denken, als daß wir alle im Boote abgefahren seien, und dann kümmerte man sich keinen Pfifferling mehr um das Wrack, sondern nur noch um den Kutter, und da dieser windwärts von uns gesucht werden mußte, so konnte uns nur noch ein glücklicher Zufall retten. Was waren das für grauenhafte, quälende Gedanken! Und dabei lauschte ich immer angstvoll nach dem durch das Feuer beschädigten Vorderteil des Schiffes. Wie leicht konnte da plötzlich ein Leck entstehen?

Fortwährend vernahm ich die Stöße der See gegen den Bug, doch, Gott sei Dank, nichts Außergewöhnliches. Ich hörte kein Schlagen überkommender Sturzseen; die starken Spritzer schienen vom Winde sogleich über Bord gefegt zu werden. Dies gewährte mir augenblicklich wohl eine gewisse Beruhigung, trotzdem aber konnte ich die Vorstellung von der Gefahr nicht los werden, in die wir geraten mußten, falls der Seegang höher wurde und schwere Wogen überschlugen, die von den offenen Mäulern der unbedeckten Luken und zerschlagenen Oberlichter gierig eingeschluckt wurden.

Das Herz war mir bleischwer, als ich wieder auf meinen Platz zurückkehrte, und doch durfte ich davon meine arme Leidensgefährtin nichts merken lassen.

Ich erinnere mich nicht mehr aller Einzelheiten dieser Nacht. Das Licht brannte gut, aber die wirbelnde Luft bewirkte, daß es rasch abtropfte. Ich mußte ein anderes aufstecken. Welche Beruhigung der beleuchtete Raum dem Mädchen gewährte, wurde mir erst ganz klar, als einmal der Zug das Licht ausgeblasen und es einige Minuten gedauert hatte, ehe es mir gelungen war, es wieder anzuzünden. Da erkannte ich an dem Entsetzen in ihren Augen und ihren verstörten Zügen, welch furchtbare Wirkung die kurze Zeit der Finsternis auf sie ausgeübt hatte. Von Zeit zu Zeit schlürfte sie, offenbar durstig, aus dem Becher, doch immer nur wenige Tropfen, als besorgte sie, daß der schwere Wein sie erhitzen und ihren Durst vermehren könnte. Als ich aber davon sprach, hinunter zu gehen und nach Wasser für sie zu suchen, bat sie mich wiederum, sie nicht zu verlassen.

Es ist die Erinnerung an den Toten, der hier am Tisch saß, welche mir das Alleinsein unerträglich macht. Ich habe mich immer für mutig gehalten, jetzt aber sehe ich ein, daß ich nur ein schwaches Frauenzimmer bin.

Ich suchte ihr das auszureden, indem ich sagte, jeder Mensch, auch ich, sei von seinen Nerven abhängig; dann versanken wir beide wieder in unsere Gedanken.

Sie schloß die ganze Nacht kein Auge. So oft ich sie ansah, begegnete ich ihren Blicken, die eine fieberhafte Aufregung verrieten. Die plötzliche Veränderung in unserm gegenseitigen Verhältnis erschien mir wie ein Traum, und ich vermochte mich kaum hineinzufinden. Wenn ich dachte, wie sie bis jetzt, während unserer ganzen Reise, zu mir gewesen – wenn ich mich ihres Hochmuts, ihrer fast verletzenden Zurückhaltung erinnerte, und wie sie sich kaum hatte überwinden können, in höflichem Ton zu mir zu sprechen – ja wie sie sogar kein freundliches Wort für mich gefunden, nachdem ich sie aus gefährlicher Lage befreit hatte –, wenn ich mir all das und noch viel mehr vergegenwärtigte, und jetzt sah, wie sie mir gegenüber, von Angst, Furcht und Schrecken verzehrt, dasaß – mit mir allein, gänzlich auf meine Hilfe angewiesen –, wenn ich mir vorstellte, daß dieses Mädchen mit ihrer vornehmen, blendenden Schönheit, diese unnahbare junge Dame, die ich an Bord des Ostindienfahrers nur verstohlen mit bezauberten Blicken zu bewundern gewagt hatte, mir jetzt vielleicht ihr Leben zu verdanken haben oder gemeinsam mit mir ihr Grab in den Wellen finden würde – das alles schien mir so unfaßbar, daß ich mich nicht überreden konnte, an die Wirklichkeit meiner Lage zu glauben.


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