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Dreizehntes Kapitel.
Besuch auf der Korvette

Die ersten Minuten vergingen schweigend. Nur der Leutnant erteilte den Ruderern ab und zu eine Anweisung. Colledge und Fräulein Temple waren von der plötzlichen Veränderung unserer Lage zu sehr in Anspruch genommen. Der niedrige Bootsrand, die unheimliche Nähe des Wassers, die sich um so fühlbarer machte, als die Bewegung der See doch nicht so schwach war, wie man auf dem Schiffe gedacht hatte, und die jetzt anscheinend viel größere Entfernung von der Korvette übten einen beklemmenden Druck aus.

Sagen Sie, Herr Leutnant, unterbrach ich das Schweigen, welchen Eindruck hat Ihnen das Wrack gemacht? Glauben Sie, daß es ein Seeräuberschiff war?

Ja, darüber, erwiderte er achselzuckend, läßt sich schwer ein Urteil fällen. Papiere waren nicht vorhanden, vorn ist das Schiff völlig ausgebrannt, und wenn es Kanonen geführt hat, so sind diese jedenfalls über Bord geworfen worden. Dagegen sah ich mehrere große Gestelle für Handwaffen und im Zwischendeck eine Menge aufgeschlungener Hängematten, die darauf schließen lassen, daß das Schiff eine ganz beträchtliche Besatzung gehabt haben muß. Das Sonderbarste, was ich vorfand, war aber ein Mann im Deckhaus des Achterteils. Er sitzt an einem Tisch, den Kopf wie sinnend auf den linken Arm gestützt, in der rechten Hand eine Feder, gerade so, als ob er – – – –.

Ist er tot? unterbrach ihn Fräulein Temple erregt.

Ja. Er muß wohl plötzlich von einem Gehirn- oder Herzschlag getroffen worden sein.

Hu – wie gruselig! Da sind Sie wohl schön erschrocken?

Der Leutnant lachte. O, gnädiges Fräulein, der Seemann darf keine Nerven haben, dem kommt vieles vor.

Und nun wurde er gesprächig, erzählte Wunderdinge von seinen Reiseerlebnissen, kam dann auf die Heimat zu sprechen, freute sich wie ein Kind, sie jetzt nach mehrjähriger Abwesenheit wiederzusehen, und stellte an uns mehr Fragen, als wir zu beantworten vermochten.

Währenddem warf Fräulein Luise oft Blicke zur Seite, als wenn sie besorgte, das mitunter bis an den Bordrand wallende Wasser könnte in das Boot schlagen. Doch zeigte sie keine eigentliche Aengstlichkeit, und selbst wenn sie ängstlich gewesen wäre, so hätte es mich nicht wunder genommen, denn selbst mir war der Himmel nie so hoch, das durchsichtige Wasser nie so tief, die Grenze des Ozeans nie so unermeßlich fern erschienen.

Es war heiß zum Braten; kein noch so leichtes Lüftchen fächelte unsere Wangen, und die Fahrt dehnte sich viel länger aus, als ich geglaubt hatte. Unser Schiff war zur Größe eines Kinderspielzeugs zusammengeschrumpft, als sich endlich unseren Augen der ganze stolze Bau der Korvette präsentierte. Wir konnten zwar hinter ihren hohen Schanzen noch keinen Menschen entdecken, indessen bemerkten wir bald, wie man von Bord aus beobachtet und erkannt hatte, daß eine Dame im Boot saß, denn es wurde eine Fallreeptreppe mit Geländer über die Seite gehängt.

Als wir an dieser anlegten, empfing uns Sir Edward Panton, ein großer, ausnehmend hübscher Mann mit grauem Haar. Er schien seinen Augen nicht zu trauen, als Colledge ihn anrief. Fräulein Temple begrüßte er mit einer so höfisch respektvollen Würde, wie er sie einem Mitglied des königlichen Hauses gegenüber nicht besser hätte zum Ausdruck bringen können. Er bot ihr seinen Arm und führte sie unter ein Sonnenzelt, wohin er auch mehrere Offiziere einlud. Bei einem kleinen Imbiß, vortrefflichen Weinen, kühlenden Getränken und Zigarren kam die Unterhaltung bald in Fluß. Sir Edward war entzückt, seinen Vetter zu sehen und unerschöpflich in Fragen über die Heimat, Verwandte und Bekannte. Fräulein Temple und ich fanden in den anwesenden Offizieren prächtige Gesellschafter und blickten zwischendurch neugierig und bewundernd auf die uns fremdartige Umgebung. Als Sir Edward dies bemerkte, sagte er: Sie würden sich gewiß gern das Schiff ansehen, gnädiges Fräulein. Ich möchte meinem Vetter auch das Bild meiner Frau zeigen. Wenn es Ihnen Spaß macht, führe ich Sie gern umher.

Sie erhob sich sogleich, freudig zustimmend, worauf Sir Edward auch mich aufforderte.

Zuerst machten wir einen Rundgang auf Deck, das weiß wie eine geschälte Mandel aussah und durch seine mächtigen Geschütze, sowie wallartig dicken Schanzen einen imposanten Eindruck machte. Und überall, wohin wir kamen, barfüßige Matrosen in weißen Anzügen und Strohhüten, die lautlos die verschiedensten Arbeiten verrichteten, oder auf das leise Zirpen einer Bootsmannspfeife da und dorthin huschten. Ja, das war doch etwas ganz anderes, wie auf einem Handels- oder Passagierschiff. Nur dem einen konnte auch die strengste Disziplin nicht wehren, nämlich den verstohlenen Blicken auf das schöne Mädchen, das da so anmutig am Arme des Kapitäns einherschritt.

Nachdem wir das Deck besichtigt hatten, geleitete er uns in seine behaglich eingerichtete Kajüte, wo er uns das Bild seiner Frau, ein überaus liebliches Gesicht, zeigte, bei dessen Betrachtung wir die Sehnsucht begriffen, die beim Anschauen des Porträts aus Sir Edwards Augen sprach.

Plötzlich schlug dieser seinen strahlenden Blick zu Colledge auf und rief lustig:

Na, Stefan, alter Junge, wie steht es mit dir? Hat noch kein Mädchen dein Herz erobert?

Colledge wurde dunkelrot. Ich vermute, er würde frischweg mit der unschuldigsten Miene »Nein« gesagt haben, wäre ich nicht dabei gewesen. So aber schwieg er und suchte sich unser aller Augen unter dem erheuchelten Interesse für ein an der Wand hängendes Seestück zu entziehen. Doch Sir Edward ließ nicht locker.

Na, wer ist es, Stefan? Heraus damit! lachte er. Sehen Sie nur, gnädiges Fräulein, wie rot er ist! Ein sicheres Zeichen, daß er seinen Anker schon hat fallen lassen. Also, wer ist die Herzensdame, Stefan?

Ach, laß mich in Ruhe, Ned, du bist unausstehlich, antwortete Colledge ärgerlich und warf mir einen Blick zu, der zu sagen schien: Herrgott, muß der Mensch auch gerade darauf kommen! Zu was für einem Esel mache ich mich!

Gewiß hat er Ihnen den Namen anvertraut, wandte sich Sir Edward jetzt schalkhaft lächelnd an Fräulein Temple. Bitte, befriedigen Sie meine Neugier.

Wie sollte ich das können, erwiderte sie mit einem Gesicht, auf dem sich eine gewisse Verwunderung malte. Herr Colledge hat mich nicht zu seiner Vertrauten gemacht, mir sein Geheimnis nicht offenbart.

Der arme Junge schwitzte Blut, doch zwang er sich zu einer heiteren Miene und schnitt die Sache kurz ab, indem er sagte: Ich denke, Ned, du zeigst uns jetzt das Schiff weiter. Wir haben nicht mehr lange Zeit.

Ja, das ist richtig. Also, wenn es Ihnen beliebt, gnädiges Fräulein – er öffnete die Tür – dann bitte.

Er schritt mit unserer Begleiterin voran, sichtlich erfreut über die Gelegenheit, sein schönes Schiff von fremden Augen bewundern zu lassen.

Colledge hing sich an mich und flüsterte mir zu: Hören Sie, Dugdale, ich könnte mich ohrfeigen. Glauben Sie, daß Fräulein Temple aus meinem blödsinnigen Benehmen gemerkt hat, daß ich verlobt bin?

Ja. Sie müßte nicht so klug sein, als sie ist, wenn sie es nicht erraten hätte. Aber lassen Sie's gut sein; es ist so am besten, Colledge. Sie können nun wieder frei atmen.

Sie haben leicht sprechen, brummte er und blieb so in Gedanken versunken, daß er von all den Erklärungen, die Sir Edward da und dort gab, sicher nicht viel gehört hat.

Als wir wieder oben ankamen, plauderten wir noch einige Minuten, bis das uns erwartende Boot an der Fallreepstreppe angelegt hatte.

Ich hüte dein Geheimnis, Stefan, während du deine Tiger jagst, neckte noch einmal Sir Edward beim Abschied.

Wir schüttelten uns die Hände und stiegen ins Boot; der Leutnant nahm wieder seinen Platz am Steuer; die Riemen blinkten, und fort ging es unter gegenseitigem Schwenken der Hüte.

Die Dünung scheint etwas stärker geworden, bemerkte ich zum Leutnant.

Ja, es kommt mir auch so vor, erwiderte er leichthin.

Und dann, sehen Sie mal da ganz hinten, rechts vom Wrack, fuhr ich fort. Was halten Sie davon?

Er schaute in die Richtung. – Was soll denn da sein?

Nun, mir sieht es dort so aus, als ob ein Sturm Staubwolken aufwirbelte.

Nichts als Hitze, lachte er. Wer ein paar Monate an der afrikanischen Küste zugebracht hat, kennt das. Für mich bedeutete es immer »Chinin schlucken«.

So wie wir beide uns über See und Wetter unterhielten, so unterhielten sich Colledge und Fräulein Temple über den Aufenthalt auf der Korvette.

Nicht wahr, mein Vetter ist ein netter Kerl, hörten wir Colledge sagen. Er hat nur die infame Manier, immer die Leute zu foppen, um auf ihre Kosten lachen zu können. Da ich das an ihm kenne, antworte ich ihm schon gar nicht mehr auf seine Neckereien. Trotzdem freue ich mich doch jedesmal, den lieben Kerl zu sehen. Mir hat der kleine Ausflug viel Vergnügen gemacht. Ihnen auch?

Ja, es war eine reizende Abwechslung. Schade nur, daß wir schon wieder nach Hause müssen.

Colledge, dessen glänzende Augen an den Wein erinnerten, den er vor der Abfahrt hastig hinuntergegossen, sah nach der Uhr. – Es ist erst halb fünf, rief er. – Fräulein Temple bedauert soeben, schon wieder zurückkehren zu müssen. Wie wäre es, wenn wir noch ein wenig bummelten? – Halt! – eine herrliche Idee! – Sagen Sie, Herr Leutnant, könnten wir nicht vielleicht noch einen Abstecher nach dem Wrack machen?

Warum nicht? Würde es Ihnen Vergnügen, machen, gnädiges Fräulein?

O gewiß. Haben wir aber auch noch Zeit genug dazu? Ich habe zwar keine Eile, zurückzukehren, aber ich möchte meine Tante nicht gern durch zu langes Ausbleiben ängstigen.

's ist schon noch Zeit genug bis zum Einbruch der Dunkelheit, versicherte der Leutnant.

Nun, dann dächte ich, rief Colledge, wir besinnen uns nicht lange. Es gäbe doch was zu erzählen, wenn wir auf dem Räuberschiff gewesen wären, das uns so lange aufgeregt hat.

Was meinen Sie dazu, Herr Dugdale? ließ sich Fräulein Temple herab zu fragen.

O, ich bin bei allem dabei, entgegnete ich freudig, nur dürften wir uns auf dem Wrack nicht zu lange aufhalten. Mich reizt besonders der einsame Wächter, von dem uns der Herr Leutnant erzählt hat.

Dieser lachte und lenkte schweigend die Spitze des Bootes dem Rumpf zu. Daß er dem von mir bezeichneten Aussehen des Himmels gar keine Bedeutung beilegte, beruhigte mich; auch der alte Keeling hatte ja bei unserer Abfahrt nicht die geringste Besorgnis geäußert, und ebenso Sir Edward kein Wort fallen lassen, was uns Eile angeraten hätte.

Dennoch nahm die leichte Dünung aus Nordwest an Schwere und Geschwindigkeit merklich zu. Daß dies nichts weiter als das Atmen des Ozeans sein sollte, vermochte ich mir durchaus nicht einzureden, indessen möglich war es ja immerhin.

Colledge wurde sehr lustig; mir schien aber seine Munterkeit etwas erkünstelt. Ich hatte ihn im Verdacht, daß er durch dieselbe bei Fräulein Temple nur die Erinnerung an Sir Edwards Neckereien verwischen wollte, und unabsichtlich kam ihm dabei der Leutnant zur Hilfe, der eine Menge lustiger Schnurren und Anekdoten von den Schwarzen, von denen er herkam, erzählte. Wir mußten oft darüber lachen, auch selbst die Matrosen, die im übrigen lautlos mit unvergleichlicher Regelmäßigkeit ihre Riemen hoben und senkten. Der scharfe Schnabel des Kutters durchschnitt das Wasser mit einem Geräusch, wie wenn man mit einer Schere ein Stück Atlas zerschneidet. Hin und wieder jedoch schoß er so tief in ein Wellental hinab, daß die unteren Seiten des Wracks unsern Augen entschwanden. Je näher wir ihm kamen, desto mehr fiel mir auf, wie stark der Rumpf von einer Seite zur anderen schaukelte, so daß ich dachte: Na, mehr darf die Bewegung nicht zunehmen, wenn es gelingen soll, Fräulein Temple an Bord zu bringen.

Davon schien diese aber nichts zu ahnen, denn sie sprach sehr lustig und brannte offenbar vor Begier, das Wrack zu betreten. Sie betrachtete die ganze Sache, wie mir vorkam, lediglich als ein hübsches Abenteuer, in dem sie die Rolle einer Heldin spielte.

Für die Matrosen war der Umweg keine Kleinigkeit. Die Lage der drei Schiffe bildete ein rechtwinkliges Dreieck, an dessen äußerster, am Ende der Hypotenuse gelegenen Spitze sich das Wrack befand. Dahin zu gelangen erforderte eine größere Anstrengung, als der Leutnant gedacht haben mochte; der Schweiß rann den Leuten in Strömen über die glühenden Gesichter.

Endlich war uns die Brigg so nahe, daß wir ihren in großen weißen Buchstaben gemalten Namen »Aspirante« lesen und ihren verstümmelten Zustand erkennen konnten. Die von dem über Bord gegangenen Großmast eingeschlagene Schanzkleidung lag nach unserer Seite, und auf diese Lücke steuerte der Leutnant zu. Mit der Regelmäßigkeit eines Uhrpendels schwankte der Rumpf müde und langsam von backbord nach steuerbord hin und zurück. Als der Leutnant die Spitze des Bootes wandte, um längsseit zu kommen, erklang plötzlich mitten durch die Stille ein heller Glockenton.

Mein Gott, was ist das? rief Fräulein Temple entsetzt, und auch Colledge blickte den Leutnant verdutzt an.

Nichts Gefährliches, lachte dieser. Nur die Schiffsglocke. Sie ist wahrscheinlich eingeklemmt, und bei jedem stärkeren Ueberneigen des Schiffes trifft der Klöppel die Glocke.

Im nächsten Augenblick schwamm das Boot, auf und ab wogend, dicht vor die Schanzenlücke, die, wenn wir standen und sie sich uns zuneigte, ziemlich in gleiche Höhe mit unsern Köpfen kam.

Der Leutnant gab jetzt einige Befehle. Zwei der Leute stellten sich bereit und sprangen beim nächsten Ueberholen des Rumpfes behende auf Deck.

Während sie die folgende träge Bewegung des Wracks nach steuerbord mitmachten, übergab der Offizier das Steuer einem Matrosen, trat zu Fräulein Temple und sagte:

Darf ich Ihnen auf diese Duchte helfen?

Sie reichte ihm die Hand und hüpfte hinauf.

Als sich das Deck uns wieder langsam zukehrte, wandte er sich an Colledge: Bitte, wollen Sie an meinen Platz treten und das Fräulein halten; ich will jetzt hinüber.

Colledge tat, wie ihm gesagt, war aber blaß und unruhig. Im nächsten Augenblick war der Leutnant schon an Bord und die beiden ihm vorangegangenen Matrosen traten neben ihn. Nun holt dicht heran, befahl er den Leuten. Und Sie, gnädiges Fräulein, fassen meine und dieses Mannes Hand, sobald ich es sage.

Als sich das Boot gleich darauf emporhob, und der Leutnant »bitte« sagte, streckte das Mädchen tapfer ihre Arme aus, die sogleich gepackt wurden, und mit einem anmutigen Schwung flog sie von der Duchte nach oben.

Nun Sie, Herr Colledge, kommandierte der Leutnant, nachdem das zurückgesunkene Boot wieder hoch kam. Colledge zögerte einen Augenblick, als ihm aber der Leutnant zurief: Schnell, oder Sie verpassen den Moment, ergriff er todesmutig die ihm zugereichten Hände und sprang, während das Boot sich schon wieder senkte. Dadurch geriet der Sprung zu kurz; er schlug gegen die Seite des Wrackes und wurde gerade noch rechtzeitig heraufgezogen, ehe seine Beine von dem wieder emporschwebenden Boote getroffen wurden und das Schiff von neuem überholte. Bei der nächsten Gelegenheit sprang auch ich. Gleichzeitig begaben sich die beiden auf Deck befindlichen Matrosen ins Boot zurück und legten es mittels einer Leine auf kurze Entfernung am Rumpfe fest.


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