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Sechstes Kapitel.
Ein sonderbarer Krankheitsfall

Trotz Herrn Cockers Spott über Kapitän Keelings allzugroße Vorsicht hatte dieser doch gewußt, was er tat, als er zu rechter Zeit seine fliegenden Drachen einholte. Schon um Mitternacht frischte der Wind auf und legte die »Gräfin Ida« stark auf die Seite. Das Wetter war vollständig umgeschlagen; tobender Gischt und Regenböen ließen vier Tage hindurch das Deck nie trocken werden. Das einzig Gute hierbei war noch die milde Luft der südlicheren Breite und die Regelmäßigkeit der hohen, langen, sich einander parallel folgenden Wogen, die weit besser zu ertragen waren, wie die über- und durcheinander kollernden kurzen Seen des engen Kanals.

Auf Deck war nichts zu sehen, als das im dünnen Nebelschleier vorüberrollende grüne Wasser, die regendunkle Leinwand der Segel, und die in Oelanzügen stumm ihre Arbeit verrichtende Mannschaft. Es war nichts zu hören, als der im Takelwerk pfeifende Wind und das Knarren der Spieren.

Unter den Passagieren sah man meist nur gelangweilte Gesichter. Die Herren vertrieben sich größtenteils die Zeit mit Rauchen und Kartenspielen; die Damen lasen, schwatzten, machten Handarbeiten oder musizierten. Alle suchten sich einander zu nähern und bekannter zu werden, nur Fräulein Temple schien diesen Drang nicht zu haben. Sie saß fast immer nur mit ihrer Tante zusammen, oder für sich allein und dünkte sich offenbar zu vornehm, sich der Allgemeinheit anzuschließen. Trotzdem war unverkennbar, daß die andern Mädchen sie bewunderten und sich geschmeichelt fühlten, wenn die Unnahbare sich herabließ, einmal für kurze Zeit an ihrer Unterhaltung teilzunehmen.

Endlich, am Morgen des fünften Tages, klärte sich das Wetter wieder auf. Schon beim Frühstück blickte die Sonne heiter durch die Oberlichter und brachte wieder Leben und Bewegung in die Gesellschaft. Jeder beeilte sich, auf Deck zu kommen und sich dort zu tummeln. Ich war diesmal, da mich ein Buch fesselte, einer der letzten. Mich zog erst der Knall von Feuerwaffen herauf. Ich glaubte, es würde nach Wasservögeln geschossen, fand aber, daß Colledge und Fräulein Temple mit Pistolen nach einer an einer Raa aufgehängten Flasche schossen. Die ganze Schiffsgesellschaft sah dabei zu; abgesehen von der Spannung, die das Schießen an sich hervorrief, war es aber auch wirklich ein hübsches Bild, die beiden schönen Gestalten in Ausübung ihres Sports zu sehen. Selbst der kleine, gelehrte Herr Saunders, neben den ich getreten war, war von dem Anblick ganz entzückt. Seine Augen leuchteten förmlich vor Vergnügen in Betrachtung der Haltung des jungen Mädchens, wenn es schoß, und er raunte mir zu: Wahrhaftig, eine prächtige, vornehme Erscheinung.

Ja, ja, entgegnete ich, alles Majestät an ihr, nur schade, daß nicht ein wenig mehr Weiblichkeit aus ihr spricht. Das würde sie noch bei weitem anziehender machen. Ich kann mir nicht recht denken, daß hinter diesem eisigen Stolz viel Herz verborgen ist, obwohl man auch sagt – – –.

Dicht hinter mir hustete jemand. Ich drehte mich um und begegnete dem voll auf mich gerichteten Blick von Frau Radcliffe. Wenn die schon dagesessen hatte, als ich kam, mußte sie alles gehört haben. Ich hätte mich ohrfeigen können über meine Unvorsichtigkeit und wandte mich schnell wieder zurück, denn ich wurde rot bis hinter die Ohren. Gleich darauf schlenderte ich harmlos nach der Spitze des Schiffes.

Während ich hier einem Matrosen zusah, der auf dem Klüverbaum reitend etwas an einem Stag in Ordnung brachte und beim Heben und Senken des Schiffes wie auf einer Brettschaukel auf und nieder wippte, trat ein alter bärtiger Bootsmann an mich heran, indem er nach Brauch der Seeleute an einer Stirnlocke zupfend den Kopf neigte und sagte:

Mal wieder am unrechten Ende des Schiffes, Herr?

Ach, lachte ich, mir ist jetzt jedes Ende gleich; muß ja nicht mehr nach Ihrer Pfeife tanzen.

Bei einem früheren Gespräch hatten wir uns nämlich als alte Schiffskameraden wiedererkannt. Er war Vollmatrose auf demselben Schiff gewesen, auf dem ich als Seekadett gelernt hatte, und in Erinnerung an diese Zeit plauderten wir, so oft wir uns trafen. Auch jetzt erzählte er mir in seiner Redseligkeit dies und das. Dabei trat er auf einmal dicht an mich heran und zischelte: Man darf es nicht laut sagen, aber Ihnen will ich's doch verraten – wir werden bald eine Leiche an Bord haben.

Nanu! Ist einer krank?

Jawohl, der Crabb, wissen Sie, der Kerl mit der eingeschlagenen Nase.

Was, der? Den habe ich ja noch gestern abend ganz munter am Rad gesehen.

Stimmt, stimmt. Aber was ich Ihnen sage, der liegt jetzt im Sterben.

Was fehlt ihm denn?

Ja, das ist's eben. Keiner weiß es. Er liegt da wie ein Toter und rührt sich nicht. Der Doktor war schon zweimal bei ihm, kann sich aber auch nichts ausspintisieren, trotzdem er ihn nach allen Seiten gedreht, beklopft und behorcht hat. Er schüttelte nur immer verwundert den Kopf und meinte, so 'n Fall wär' ihm noch nicht vorgekommen. Ja, sehen Sie, an der Geschichte ist irgendwas nicht richtig. Der Kerl ist sicher verhext. Na, schade wär's gerade nicht um ihn. Ich könnte Ihnen manches von ihm erzählen, aber jetzt darf ich meine Zeit nicht länger vertrödeln. Ich muß wieder fort. Und mit einer freundlichen Handbewegung nach der Stirn stampfte der Alte davon.

Bald darauf begegnete ich dem Doktor. Also wir werden einen Mann verlieren? sprach ich ihn an.

Wieso? Wer hat Ihnen das gesagt? fragte er gereizt, indem er mich über die Brille hinweg anglotzte.

Ja, wer hat es gesagt? Da fragen Sie mich zu viel. Ein Schiff ist wie ein Dorf. Was da passiert, wissen gleich alle Nachbarn.

Na, ich weiß nichts, als daß ich einen Kranken habe, und die gibt es überall. Jedenfalls lebt der Mann noch, und an Bord eines Passagierschiffes muß man sich doppelt hüten, Dinge in Umlauf zu bringen, die noch nicht Tatsache geworden sind. Wo viele Damen sind, herrscht auch viel Nervosität. Ich bitte Sie also, das Geschwätz der Leute nicht weiter zu tragen.

Beabsichtige ich auch gar nicht, denn als früherer Seemann weiß ich mit dergleichen Dingen Bescheid, aber da wir gerade unter uns sind, darf ich wohl fragen, was dem Mann fehlt?

Er zuckte mit den Achseln. Da stehe ich selbst vor einem Rätsel. Ich weiß es nicht. Eine bestimmte Krankheit kann ich an ihm nicht entdecken. Er liegt regungslos da und stöhnt nur manchmal. Mir scheint es ein von einer Herzaffektion ausgehender Kollaps zu sein. Weiter kann ich Ihnen nichts sagen.

Das war mir genug, und ich ließ die Sache fallen. Während er wieder nach seinem Kranken sah, setzte ich meinen Rundgang um das Schiff fort, beobachtete die da und dort in heiterer Unterhaltung sitzenden oder promenierenden Passagiere, rauchte zwischendurch auch mal eine Pfeife und genoß so auf meine Art den schönen Vormittag.

Colledge und Fräulein Temple hatten längst mit ihrem Schießen aufgehört; zuletzt hatte ich sie bei der Tante sitzen sehen. Als ich aber nach einiger Zeit wieder an dem Platz vorüberkam, war das junge Mädchen verschwunden.

Durch die geöffneten Oberlichter drangen jetzt Eingangsakkorde eines Liedes und gleich darauf die Töne einer herrlichen Stimme.

Lauschend blieben die Spaziergänger stehen; die mit einem Buch oder einer Handarbeit umhersitzenden Damen horchten auf; mehrere Herren, unter ihnen auch ich, sammelten sich um die Oberlichter. Das ist Fräulein Temple, hörte ich flüstern, denn keiner wagte laut zu sprechen. Der Respekt vor diesem Mädchen war so allgemein, daß man ihr Rücksichten wie einer Fürstin erwies. Deshalb ging auch niemand hinunter, und erst beim Läuten der Frühstücksglocke, mit deren erstem Schall sie abbrach, hielt man es für erlaubt, den Salon wieder zu betreten.


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