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Neuntes Kapital.
Sturm

Dem Blitz folgte leises, fernes, aber anhaltendes Grollen. Die Dunkelheit nahm zu und mit ihr das Leuchten der bald ununterbrochen zuckenden Blitze. In kurzer Zeit hatten alle Damen das Deck verlassen. Der Kapitän, welcher fortwährend den Himmel beobachtete, befahl das Einholen oder Reffen fast aller Segel, und im Nu befand sich die Mannschaft, die bisher erwartungsvoll dagestanden hatte, in regster Tätigkeit. Cocker, der zur Ueberwachung der Arbeit zu mir auf das Kampanjedeck gestiegen war und ab und zu dem mittschiffs stehenden Bootsmann einen Befehl zurief, fragte, als er bemerkte, wie aufmerksam ich durch mein Glas die Brigg beobachtete: Na, wie steht's da drüben? Was sehen Sie?

Dasselbe wie hier. Segel aufgeien, reffen und einholen. Sind das aber eine Menge Menschen! Das ist ja der reine Bienenstock. Alle Rahen sitzen voll; ein Kerl klebt neben dem andern. Mindestens hundert Mann schätze ich. Diese Bemannung für ein so kleines Fahrzeug ist allerdings verdächtig.

O, über seinen Charakter hat von Anfang an kein Zweifel geherrscht. Unser Alter kennt sich darauf aus; der hatte den Burschen gleich weg.

Donnerwetter, das könnte eine schöne Bescherung werden, wenn diese dunkelhäutigen Schufte über uns kämen. Da könnte einer sehen, wie er sich seiner Haut wehrt. Hätte ich doch nicht geglaubt, daß es heutzutage noch solche Freibeuter gibt. Hoffentlich bringt uns das Wetter auseinander.

Na, vorderhand wird der Regen einen Vorhang zwischen uns ziehen. Sehen Sie, da kommt er, fuhr er fort, indem er auf eine dichte graue Wand deutete, die langsam der Brigg näher kroch. Machen Sie, daß Sie runter kommen; Sie haben es ja nicht nötig, sich wie eine Padde durchweichen zu lassen.

Da haben Sie recht, erwiderte ich, mich zum Gehen wendend. Will mich wenigstens in mein Gummizeug stecken, denn unten bleibe ich nicht.

Als ich den Salon durchschritt, sah ich im Schein der den ganzen Raum erhellenden Blitze viel blasse, zum Teil mit den Händen bedeckte Gesichter. Die Gesellschaft saß familienweise furchtsam dicht aneinander gedrängt. Nur der Oberst schritt auf und ab, und Fräulein Temple saß mit Colledge vor einem Schachbrett. Ob sie aber wirklich spielten, konnte ich im Vorübergehen nicht erkennen. Bis auf einige Schreckensrufe, welche einzelne Damen bei den sich schnell folgenden Blitzen ausstießen, war es still wie in der Kirche.

Als ich aus meiner Kabine zurückkehrte, vernahm ich ein Zischen von der See her, wie wenn zwanzig Lokomotiven den Dampf abließen, und unmittelbar darauf begann ein Gerassel auf Deck, das selbst den Donner übertönte. Die Regenwand, welche Hagel wie Walnüsse mit sich führte, hatte uns erreicht. Wäre jeder Tropfen ein Ziegelstein gewesen, so hätte der Lärm nicht größer sein können.

Mann! schrie mich der Oberst an, wollen Sie bei dem Guß hinauf? Und Johnson rief: Sie werden ja erschlagen!

Ach was, entgegnete ich, habe oft genug bei solchem Wetter Segel gekürzt, da macht es mir Spaß, einmal in Ruhe dabei den Zuschauer zu spielen.

Während ich durch den beinahe stockfinsteren Salon dem Ausgang zueilte, fing der Oberst an zu toben, daß die Lampen nicht angezündet würden. Wo ist der Steward? brüllte er. Das ist ja eine Heidenwirtschaft, uns hier so im Dunkeln sitzen zu lassen! Bitte, schicken Sie den Kerl doch her, rief er mir nach, als ich die Aufgangstür schloß.

Oben kam ich in einen Guß, wie man ihn nur in diesen Breiten erleben kann. Ohne eine Spur von Wind stürzte er in dicken, schnurgeraden Strähnen nieder. Es war ein wunderbar schöner Anblick, zu sehen, wie jeder Faden des niederströmenden Wassers im Scheine der ununterbrochen zuckenden Blitze, glühendem Draht ähnlich, in purpurnen und violetten Farben funkelte. Ein dampfartiger Nebel stieg vom Deck auf. Von den im Takelwerk arbeitenden Mannschaften vermochte ich keine Gestalt zu unterscheiden, nur dumpf vernahm ich ihre Stimmen und mitunter die Pfeife des Bootsmannes. Der alte Keeling, an dem ich auf meinem Wege nach der Kampanjeüberdachung, unter der ich Schutz suchen wollte, vorüberkam, glich einer durchweichten Vogelscheuche. Sein Hut hing ihm wie eine verfaulte Feige über die Ohren.

Kaum eine Minute erst hatte ich Deckung gefunden, als plötzlich der Himmel zu zerreißen schien, und scheinbar gerade über uns, gleichzeitig mit einem furchtbaren Blitz, ein so nervenerschütternder Krach erfolgte, daß ich einen Augenblick wie gelähmt stand und nicht anders dachte, als es müsse in unser Schiff eingeschlagen haben. In derselben Minute hörte jedoch wie durch Zauber der Regen auf, und die Atmosphäre nach Steuerbord wurde klarer, während es über Backbord hin noch tintenschwarz blieb, und die Blitze ihre Zickzacklinien weiter beschrieben.

Ich begab mich zu Cocker, der triefend an der Reling stand, und sagte: Das war ein hübscher, kleiner Schauer. Was?

Will's meinen, brummte er, sich die Augen wischend. Nur gut, daß die Segel festgemacht sind. Das dickste Ende kommt bald nach.

Sie meinen Sturm?

Na freilich.

Bitte, leihen Sie mir einmal Ihr Glas, Cocker. Habe meins unten liegen lassen; möchte auf unsern unheimlichen Nachbarn wieder einmal einen Blick werfen.

Holen Sie es sich. Es liegt dort auf dem Hühnerkäfig. Ich muß mich erst ein wenig auswinden.

Kaum hatte ich das Glas eingestellt und das Schiff erfaßt, als ich es auch schon mit einem Ruck wieder absetzte und jubelte:

Bei meines Urgroßvaters Perücke! Die Teufel tun uns nichts mehr! Unsere Hälse sind gerettet! Sehen Sie selbst, Cocker, die Brigg ist nur noch ein Wrack.

Hastig ergriff er das Glas, blickte einen Moment hindurch und rief dann dem nicht weit von uns mit Prance sprechenden Kapitän zu: Der Blitz hat in die Brigg geschlagen! Der Großmast ist über Bord!

Während die beiden herbeieilten, und jeder sein Teleskop an eine Pardune klemmte, flog ich in Sätzen zur Kajütentreppe und schrie hinunter: Hallo! Oberst Bannister!

Sofort war er an der Tür. Was gibt's? Geht's los? Greift der Feind an?

Nein. Im Gegenteil. Sagen Sie den Damen, daß alle Gefahr vorüber. Die Brigg ist vom Blitz getroffen und entmastet! Colledge soll mir doch mein Fernrohr bringen.

Damit stürzte ich aufgeregt wieder zurück an die Reling, hörte aber noch, wie der Oberst mit Stentorstimme die Neuigkeit verkündete.

Gleich darauf quoll der ganze Haufe der Passagiere auf Deck, und obgleich dasselbe vom Regen noch ein wahrer See war, patschten die Damen bis zum Kapitän, um selbst zu hören und zu sehen. Wohl duckten einzelne bei den über Backbord noch fortwährend kreuz und quer fahrenden Blitzen die Köpfe, doch die Neugier siegte. Sie verlangten zu hören, was die verschiedenen Gläser sahen, und das war interessant genug. Die ganze Schanzkleidung hinten ist flach niedergeschlagen, erzählte ich, unausgesetzt durch mein Glas blickend. Der Großmast schwimmt, an den Wanten und Tauen hängend, neben dem Schiff. Eine Menge Kerle kappen mit Aexten das Tauwerk, um das Schiff von dem Mast zu befreien. Andere rennen eilig hin und her. Mir scheint, einige tragen Eimer.

   

Kaum hatte ich das gesagt, als der Holländer schrie: Steigt da am Vordermast nicht Rauch auf?

Ja, wahrhaftig, bestätigte der Kapitän. Es scheint wirklich, als ob es aus der Vorderluke qualmte.

Versteht sich, versteht sich, nickte ich eifrig. Jawohl, ich kann eine dünne, kerzengerade Rauchsäule unterscheiden, und es ist mir sogar, als wenn dazwischen eine Flamme aufzüngelte.

Meine Damen, übertönte jetzt des alten Keelings Stimme alle anderen, seien Sie so gut und begeben Sie sich schnell hinunter. Im Augenblick wird der Sturm da sein.

Die meisten folgten, einige aber zögerten noch. Mit neu gewonnenem Mut wollten sie nun auch das herannahende Wetter betrachten. Es war allerdings ein wunderbarer Anblick. Noch nie hatte ich so einen Sturm heranziehen sehen, von dem man vorderhand noch nicht den leisesten Hauch verspürte. Nichts verriet sein Kommen, als eine heranrückende lange Linie weißen Schaumes, deren beide Enden sich in der Dunkelheit verloren. Unmittelbar um uns war die See noch von glasähnlicher Glätte. Immer schneller drang die weiße Schaumlinie gegen uns vor. Wir sahen, wie sie die Brigg erreichte, die schon im nächsten Augenblick im Wirbel des fliegenden Gischtes verschwunden war. Gleich darauf hatte der Sturm auch uns erfaßt. Er traf uns direkt in die Seite, riß sofort das allein noch stehende halbgereffte untere Kreuzmarssegel in tausend Fetzen und legte uns derart über, daß die großen Rahen beinahe die wallende, kochende Wasserfläche berührten. Seine Gewalt und die Neigung des Schiffes waren so groß, daß jeder auf Deck Befindliche sich nur durch schnelles Ergreifen eines festen Gegenstandes auf den Beinen zu erhalten vermochte. Die beiden am Rade stehenden Matrosen, die breitbeinig ihre nervigen Arme in die Spaken stemmten, mußten all ihre Kraft aufbieten, um von dem Rade nicht zurückgeschleudert zu werden. Ich selbst hielt mich krampfhaft an einer eisernen Klammer fest. Der Kapitän hatte Halt an einer Pardune gefunden. Prance und Cocker, die auf dem Kampanjedeck standen, suchten sich an dem Messinggeländer desselben festzuhalten. Es schwindelte einem, sie auf dem hohen, jetzt so schief stehenden glatten Deck kämpfen zu sehen, daß ihnen die Beine nicht unter dem Leibe wegglitten. Zum Glück ging wenigstens die See nicht hoch. Der Sturm erlaubte ihr nicht, sich zu erheben. Selbst die vorher bestandene Dünung drückte er nieder. Diesem Umstand war es zu danken, daß die Lage des Schiffes sich nicht noch viel schlimmer gestaltete.

Bei der Schnelligkeit, mit welcher sich alles ereignete, und jeder, so gut er konnte, sich rettete, hatte ich zunächst nur das gesehen, was zufällig meine Augen streiften. Nun aber, von der hoch erhobenen Wetterseite, an der ich an meiner Eisenklammer hing, weitere Umschau haltend, gewahrte ich plötzlich zu meinem atemlosen Schrecken Fräulein Temple in einer schauervollen Lage; das Herz stand mir einen Augenblick still. Im vergeblichen Bemühen, mit den Füßen Halt zu gewinnen, baumelte sie an einem Tau, das um den Kreuzmast geschlungen war und sich mehr und mehr abwickelte. Bewahrte sie Besonnenheit und hielt das Tau fest, so mußte sie schließlich auf einen unter ihr befindlichen Hühnerkäfig zu stehen kommen und sich mittels des Taues darauf halten können, ließ sie aber los, so konnte sie im Fallen Hals und Beine brechen, wenn auch die Wanten und die Schanzkleidung sie davor schützten, über Bord zu fallen. Ich mußte zu ihr hin, mochte es auch mein eigenes Leben kosten. Aber wie? Wohl hatten meine Beine noch etwas von ihrer früheren Seemannsgeschicklichkeit, die Schräge und Glätte des Decks jedoch hätten jeder Anstrengung gespottet. Schnell entschlossen ließ ich mich daher auf Knie und Hände nieder und kroch auf allen Vieren nach den Hühnerkäfigen, an deren Stäbe mich der Sturm derart anpreßte, daß ich all meiner Kraft bedurfte, erst einen Fuß fest anzustemmen und dann das andere Bein wie in Fechterstellung vorzusetzen. Auf diese Weise gelang es mir, mich soweit aufzurichten, um meine Arme um ihre Taille legen zu können. Lassen Sie los! rief ich ihr zu. Sie tat es sofort, und an dem Zittern ihres Körpers merkte ich, daß sie am Ende ihrer Kräfte gewesen war. Ich hatte die Absicht, sie bis zu einem der größten Käfige zu tragen, doch sie war schwerer, als ich gedacht hatte. Ich konnte es nicht hindern, daß ihre Füße den abschüssigen Boden berührten; sie begann zu gleiten, und in ihrem Schrecken warf sie die Arme um meinen Hals. In dieser Umschlingung glitt ich behutsam bis an den Käfig nieder und setzte sie auf diesen. Schwer atmend nahm ich neben ihr Platz. Auch ihre Brust hob sich heftig. Keines von uns vermochte im ersten Augenblick zu sprechen. Dann keuchte sie in gewissermaßen zürnender Verlegenheit, mit glühendem Gesicht und funkelnden Augen: Welch eine lächerliche Lage! Aber es geschieht mir recht; warum folgte ich dem Kapitän nicht, als er uns bat, hinunterzugehen.

Weiter sagte sie nichts. Keine Silbe des Dankes. Nicht einen einzigen Blick schenkte sie mir. Nur wie Wetterleuchten zuckte es über ihr schönes Gesicht, während der Sturm ihr Haar zerzauste und des Grimmes spottete, den sie über die ihr so peinliche Lage empfand.

Der Orkan trieb uns langsam ab. Das Meer bildete eine einzige unermeßliche Fläche weißen Schaumes, dessen Flocken uns wie dichtes Schneegestöber überschütteten. Man konnte kaum aus den schmerzenden Augen sehen. Wir sprachen kein Wort, da wir uns nur schwer hätten verständlich machen können. So hing denn jedes seinen Gedanken nach.

Auf einmal schnellte ich, eine Wante erfassend, von meinem Sitz empor und brüllte, einen Arm ausstreckend: Da, da, sehen Sie! Die Brigg! Die Brigg!

Mit nur wenigen Lappen Leinwand bekleidet, tauchte sie soeben wie ein Gespenst aus dem Nebel des fliegenden Schaumes auf.

Unwillkürlich machte meine schöne Gefährtin einen Versuch, sich ebenfalls zu erheben. Der Sturm war aber stärker als sie. Hilflos sah sie mich an.

Darf ich Ihnen helfen? schrie ich unter einer entsprechenden Geste.

Einen Augenblick schwankte sie; dann siegte die Neugier. Ich las von ihren Lippen das Wort – ja –. Im nächsten Moment hatte ich sie wieder umfaßt und hielt sie dicht an mich gepreßt fest.

Die Brigg mit ihrem einzigen Mast, die Rahen vierkant gebraßt, glitt wie ein Schlitten auf einer Schneefläche pfeilgeschwind vor dem Winde daher. Ueber ihren Bug jagte dicker schwarzer Rauch und aus der Vorderluke züngelten ab und zu kleine Flammen. Eine Unzahl hin und her eilender Gestalten füllte das Deck, von denen mehrere ins Takelwerk sprangen und uns Zeichen machten, als sie an uns vorüberschossen. Das ganze war wie eine Vision, denn so plötzlich, wie das Schiff erschienen, war es in dem Nebel des fliegenden Gischtes unsern Augen auch wieder entschwunden. Kaum eine Kabellänge war es sichtbar gewesen, man hätte an einen Spuk glauben können.

Schiff und Mannschaft ist verloren, wenn es nicht trotz des Sturmes gelingt, das Feuer zu löschen, rief ich, indem ich meine holde Last wieder auf ihren Platz und mich neben sie setzte. Ich dachte, sie würde mich jetzt wenigstens durch einen freundlichen Blick belohnen, aber nichts davon. Stumm wie vorher starrte die Undankbare vor sich hin und strich sich ihre vom Winde jetzt völlig aufgelösten Haare aus dem Gesicht, die sie mir entzückender wie je erscheinen ließen. Noch lange hätte ich so sitzen und mich verstohlen an ihrem Anblick weiden können, doch allmählich legte sich die erste Wut des Sturmes, und die plumpe »Gräfin Ida« begann sich schwerfällig zu erheben.

Diesen Moment schien der Kapitän nur abgewartet zu haben. Sogleich befahl er einige leichte Segel zu setzen, mit deren Hilfe es gelang, das Schiff vor den Wind zu bringen. Dadurch kam das Deck wieder in wagerechte Stellung, und unter dem heulenden Winde von hinten teilten die dicken Backen des schweren Kastens das schäumende Wasser mit solcher Gewalt, daß es sich hoch auftürmte und seine scharfen Spritzer weit über das Vorderdeck schleuderte.

Sowie das Schiff horizontal stand, erhob sich Fräulein Temple, um hinunterzugehen. Sie sah die Vergeblichkeit dieses Beginnens aber sogleich ein und setzte sich wieder. Noch einmal mußte sie sich meine Hilfe gefallen lassen. Ich nahm ihren Arm unter den meinen und uns vereint mit aller Kraft gegen den Wind stemmend, brachte ich sie glücklich bis zur oberen Tür der Kajütentreppe, wo Colledge, vom Sturm wie festgenagelt, sie mit dem Ausruf in Empfang nahm: Gott sei Dank, da sind Sie ja endlich, Fräulein Luise; Ihre Frau Tante ist schon halb vergangen in Sorge um Sie!


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