Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel.
Meine Mitpassagiere

Ich legte mich zu Bett, konnte aber nicht einschlafen und beneidete Colledge, der, die Brandyflasche bequem zur Hand, wie ein Toter schlief. Sicher hatte er weder von dem Zusammenstoß noch von dem ganzen Lärm auch nur das geringste bemerkt. –

Ach, war das eine Nacht! Das Toben des Windes nahm immer mehr zu; er schien zu einem richtigen festen Sturm anwachsen zu wollen. O, diese fortwährenden unerträglichen Geräusche! Dieses Quietschen, Knacken und Knarren des Holzwerks, das Gebrüll der anprallenden Wogen, ihr unausgesetztes Waschen über Deck, das gurgelnde Abfließen des Wassers durch die Speigatten, das momentane, ruckweise Stutzen des Schiffes beim Schlag einer schweren See gegen den Bug, das Gefühl atemlosen Hinabstürzens, wenn das Schiff vom Kamm eines hohen Wellenberges jäh in das Tal schoß, die widerwärtigen Pendelschwingungen der an der Wand hängenden Kleider, die halberstickten Ausrufe aus den Nachbarkabinen, und dazu das Getrampel und der eintönige rauhe Gesang der Mannschaft auf Deck beim Beschlagen und Reffen der Segel – ja, das alles kann einen, der gern schlafen will, wohl zur Verzweiflung bringen. Doch ich wußte ja aus früherer Erfahrung, daß die erste Nacht auf einem Schiff immer die schlimmste ist, und dieser Gedanke beruhigte mich allmählich und brachte mir endlich Schlaf.

Aus diesem wurde ich um halb acht vom Steward geweckt, der anfragte, ob ich warmes Wasser zum Rasieren wünschte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich all meine Sinne beisammen hatte, und, da ich merkte, welch eine schwere See ging, sagte:

Danke. Heut wird nicht rasiert; habe keine Lust, mir die Nase abzuschneiden. Wie steht der Wind?

Sturm aus Süden, Herr. Das Schiff läuft wie ein Rauchwirbel über das Wasser.

Er wurde abgerufen.

Colledge erwachte, dehnte sich und gähnte: Bei Georgs war das ein Schlaf!

Na, und alles Elend weggeschlafen? Was?

Möcht's wünschen. Verspüre keine Lust zum Aufstehen. Man wird mir doch das bißchen Frühstück, das ich vielleicht genießen kann, hierherbringen?

Selbstverständlich.

Was gibt's Neues? Sind wir schon im Atlantik? fragte er mit einer Stimme, als ob ihn mit dem völligen Wachwerden das Gefühl der Seekrankheit von neuem überkäme.

Gott bewahre. Noch keine Spur vom Atlantik. Haben während der Nacht bloß einen Fischerschuner übersegelt und eine Menge Menschen ersäuft. Es war schrecklich.

Na, zum Verwundern ist so ein Traum nicht bei dem Hundewetter.

War gar kein Traum. Ich spreche in vollem Ernst.

Ach, reden Sie mir doch nichts vor. Davon hätte ich doch auch etwas merken müssen.

Es ist aber so, wie ich sage; Sie können sich drauf verlassen. Mit Mühe retteten wir noch ein Boot mit Männern und Frauen, die andern sind ertrunken.

Schauderhaft! Das Unglück hätte ebensogut uns treffen können. Da sehen Sie aber, Dugdale, wie es geht. Gestern redeten Sie noch von dem Vergnügen der Reise, und gleich die erste Nacht passiert so etwas. Ein schönes Vergnügen, keine Minute seines Lebens sicher zu sein. Mir wird schon wieder ganz schlecht. Bitte, reichen Sie mir doch die Flasche Rosmarinwasser aus meinem Koffer. – Vielen Dank. Und würden Sie beim Frühstück so freundlich sein, zu sagen, daß mir eine Tasse Tee gebracht wird?

Wenn es Ihnen möglich ist, stehen Sie lieber auf. Die Seekrankheit zu pflegen, macht den Dämon nur unbarmherziger. Gehen Sie etwas auf Deck; der Wind bläst Ihnen den neuen Anfall weg. Rosmarinwasser und Brandy tun es nicht. Glauben Sie meiner Erfahrung – ein herzhaftes Stück Pökelfleisch oder sonst was Kräftiges, das Ihre Zähne schärft und Ihren Kinnladen zu tun gibt, hilft schneller.

Gnade! Seien Sie still; reden Sie mir nicht von essen! wehrte er ab und drehte sich mit dem Gesicht nach der Wand. Während ich mich dann rasch fertig ankleidete, hörte ich nur noch, wie er jämmerlich stöhnte.

Am Frühstückstisch fand ich nur wenige Herren: Oberst Bannister, der seine Blicke tückisch wie ein bengalischer Tiger über die Anwesenden schweifen ließ; Herrn Emmett, seines Zeichens Landschaftsmaler, mit zottigem Bart, langen, über den Nacken herabwallenden Locken und kurzem Sammetrock mit breitem Klappkragen, aus dem sein langer dünner Hals emporragte wie die Stange einer Vogelscheuche aus dem sie umhüllenden Anputz. Ferner den dicken Holländer, Herrn Peter Hemskirk, der blaß und übernächtig aussah, die Weste schief zugeknöpft hatte und überhaupt ziemlich mangelhaft angekleidet war. Bei ihm saßen zwei junge Beamte, namens Greenhew und Fairthorne, sowie Herr Silvanus Johnson, ein Journalist, der in Bombay oder Kalkutta eine Zeitung gründen wollte. Er hatte einen kugelförmigen Kopf und das Gesicht eines Schmierenkomödianten mit dem diesen Leuten eigenen bläulichen Schimmer auf den Wangen, wenn sie glatt rasiert sind. Seine kleinen schwarzen, unruhigen Augen verrieten ungewöhnliche Intelligenz, gleichzeitig aber auch eine nicht geringe Dosis Selbstgefälligkeit. An der Spitze der Tafel saß Kapitän Keeling in seiner gewöhnlichen adretten Uniform, und ihm gegenüber, am anderen Ende des Tisches, in fast gleicher Uniform, Herr Prance.

Es war ein höchst ungemütliches Frühstück. Ich kenne kein Gewässer, das so unerträglich ist wie der Kanal bei stark bewegter See. Das Schiff schlingerte furchtbar auf den kurzen, fortwährend sich überrollenden Wogen. Das Geschirr auf den Hängebrettern klirrte und klapperte aneinander; und wenn es selbst auch dank des erhöhten durchbrochenen Randes der Bretter nicht herabgleiten konnte, drohten doch die Speisen jeden Augenblick herauszufliegen oder überzustürzen. Bei einem besonders starken Ueberholen des Schiffes flog Herrn Hemskirk eine große Portion Leber und Schinken auf den Schoß, und einige andere entgingen, nur mit knapper Not der Gefahr, schwer verbrüht zu werden, als Herr Johnson, nach einer Tasse Tee langend, das Hängebrett so schief kippte, daß die Kannen mit den heißen Flüssigkeiten umfielen.

Gesprochen wurde nur wenig, und das wenige betraf hauptsächlich die Vorfälle der vergangenen Nacht.

Kapitän, piepte Herr Fairthorne mit weibischer Stimme – er schien mir der junge Mann zu sein, der wutentbrannt alle bösen Geister angerufen hatte, die Aja mit dem Baby zu ersticken – Kapitän, was wird aus den armen Franzosen werden?

Das weiß ich nicht, erwiderte der Gefragte kurz abweisend. Oberst Bannister dagegen bekam einen roten Kopf und rief mit einer Stimme, als ob er ein Regiment Sepoys exerzierte:

Mag aus ihnen werden, was da will. Franzosen sind die Erbfeinde unseres Vaterlandes. Mir scheint, es kann niemals einen Briten kümmern, was aus ihnen wird!

Aber wertester Härr, wandte der Holländer ein, Sä sind ein Brite, ja – aber Sä sind doch auch ein Christ und dä Franzos ist Ihr Bruder.

Mein was!? donnerte der Oberst. Will Ihnen was sagen, Herr Hemskirk: Es ist Ihr Glück, daß Sie unsere Sprache nicht sprechen, sonst könnte es Ihnen leicht passieren, beleidigend zu werden.

Mynheer, schon gewöhnt an die Explosionen dieser kleinen, ewig geladenen Granate und innerlich belustigt darüber, wischte sich mit der Serviette die Lippen und blinzelte dabei Herrn Greenhew verschmitzt an. Der aber schnitt zu dem ihm wohl gefährlich erscheinenden Zeichen heimlichen Einverständnisses ein so dummkomisches Gesicht, daß ich, um nicht laut aufzulachen, auf Deck eilte.

Trotz des heftigen Windes und des grau in grau gehüllten Himmels war es hier angenehmer als im Salon. Ueber das Vorderdeck sprühte fortwährend der fliegende Gischt, der Küchenschornstein rauchte lustig und aus der Richtung des Großboots klang das Grunzen der Schweine, das Blöken der Schafe und das Gackern der Hühner. Einige Matrosen arbeiteten an den Pumpen. Ihr Gesang mischte sich mit dem Rauschen des Wassers, das nach den Speigatten floß oder wieder zurückspülte, sobald das Schiff nach der anderen Seite schlingerte. Ein Teil der Mannschaft war mit Reinigungsarbeiten beschäftigt; ein paar Seekadetten in Lotsenjacken mit blanken Knöpfen, krausköpfige, fidele Jungen, denen der Kobold aus den Augen guckte, patrouillierten auf der Leeseite; zwei klebten wie ein paar Fliegen an dem Topp des Kreuzmastes, etwas in Ordnung bringend, und einer, ein langbeiniger Bursche, ritt, ich weiß nicht zu welchem Zwecke, hoch oben auf einer Raae, wobei seine weiten Hosen wie eine Flagge im Winde knatterten. Der zweite Maat schritt auf der Wetterseite des Kampanjedecks hin und her, ab und zu stehen bleibend und einen Blick nach den beiden Achtzehnpfündern werfend, die hinter dem Rade am Heckbord mit ihren Mündungen dicht an den geschlossenen Stückpforten standen und von mehreren Leuten sorgsam nachgesehen, gereinigt und geölt wurden.

Zu jener Zeit mußten die Ostindienfahrer armiert sein, um mit Aussicht auf Erfolg den Kampf mit Seeräubern aufnehmen zu können, welche besonders bei den Antillen, der afrikanischen und südamerikanischen Küste sowie im Kanal von Mozambique und in dem Indischen Ozean ihr Wesen trieben.

Ich begab mich zu Herrn Cocker und fragte, wo wir wären.

Auf der Höhe von Wight. Und geht es so weiter, wie in den letzten Stunden, werden wir den Atlantik bald unter uns spüren.

Ja, lachte ich, alles was wahr ist, schnell genug läuft jetzt das alte Mädchen. Nie im Leben hätte ich gedacht, daß ein Ding mit solch dicken Backen so rennen kann. Hören Sie nur, wie es ächzt und stöhnt.

Ach, wissen Sie, diese Art Seekisten sind von vornherein so gebaut, daß sie knarren, und so lange sie knarren, halten sie aus, sagt man.

Donnerwetter ja, fest muß der alte Kasten sein; der Puff war doch nicht schlecht, den er beim Zusammenstoß erhielt. Nun mal, ganz im Vertrauen unter uns, hat er ihm gar nichts getan?

Nicht das geringste, erwiderte er launig. Sie sehen ja, wie wir hüpfen. Nein, die Gräfin Ida hat weder an ihrem Körper noch an ihrer Bekleidung Schaden gelitten.

In dem Augenblick rief ihn der Kapitän ab, der eben zum Kompaß getreten war. Mich verlangte nach meinem Morgentabak und ich ging daher in die Rauchabteilung der Kampanje. Hier fand ich Herrn Emmett in einen kurzen Radmantel gehüllt, wie ihn auf kleinen Theatern die heimlichen Meuchelmörder oder vornehmen Verschwörer zu tragen pflegen. Er dampfte wie ein Schornstein aus einer kurzen, dicken Pfeife und sprach lebhaft mit einem kleinen, fast zwerghaften Mann mit dem Kopfe eines Riesen und den Beinen eines sechsjährigen Knaben, der aber im übrigen ein höchst gescheites, liebenswürdiges, freundliches Kerlchen war und im Auftrag einer pharmazeutischen Gesellschaft nach Indien reiste, um dort Heilmittel, Drogen und Zaubermittel der Hindus zu erforschen und Proben davon zu sammeln. Ich setzte mich zu ihnen, und wir verbrachten den Vormittag mit Plaudern und Rauchen, bis es Zeit wurde, Toilette für den Lunch, das zweite Frühstück, zu machen.

Zu diesem erschienen nur wenige, wie auch später zum Diner, denn der inzwischen mit jeder zurückgelegten Seemeile breiter gewordene Kanal hatte jetzt schon mehr den Charakter des Atlantik angenommen, dessen lange, hochgehende Wogen neues Unheil unter den Passagieren angerichtet hatten.

Im Verlauf des Mittagsmahles verließ Oberst Bannister einmal die Tafel und schritt nach seiner Kabine. Nach kurzer Zeit kehrte er zurück, seine vornehm aussehende Frau am Arm führend. Als Mynheer sie sah, rief er: Aeh, Madam, Sä halten sich wirklich tapfer. Und Herr Johnson torkelte beinahe gegen sie, als er aufsprang, um sie stehend vorüber zu lassen. Sie setzte sich neben ihren Mann und warf unruhige Blicke umher, während sie ihre weißen Lippen fest zusammenpreßte. Alles, was der Steward ihr präsentierte, lehnte sie mit einer kurzen Kopfbewegung ab. Man sah es ihr an, daß ihr sehr unbehaglich zumute war, und als sie es nicht länger aushalten konnte, faßte sie plötzlich den Arm ihres Mannes und wankte, mit ihm taumelnd, nach ihrer Kabine zurück. Als er wieder kam, goß er zornig ein Glas Wein hinunter und schrie, Herrn Hemskirk wütend anblickend:

Ich habe hohe Achtung vor meiner Frau, mein Herr; sie ist eine vortreffliche Frau in jedem Sinn des Wortes –

Der Holländer nickte beifällig.

Aber, fuhr der Oberst, die Faust ballend, fort, wenn ich jemals wieder mit einem Frauenzimmer auf See gehe, sei es Weib, Tante oder Großmutter, so soll man mich als einen Verrückten vergiften, und als Mumie der Tiefe übergeben! Dies ist das vierte Mal, daß ich das beschwöre! Mein Entschluß ist jetzt unwiderruflich.

So fand sich hin und wieder mal ein Augenblick, wo man herzhaft lachen konnte, aber im ganzen war die Fahrt vorläufig nicht allein verzweifelt langweilig, sondern überhaupt so scheußlich, als sie nur sein konnte. Der nächtliche Vorfall, die dicke graue Atmosphäre, die schmutzig-grünen Wogen, der heulende, schneidend kalte Wind und die gräßliche Seekrankheit drückten auf das Gemüt und ließen keine heitere Stimmung aufkommen.

Auch der Kapitän sah düster drein. Er war bei Tisch zerstreut und schweigsam und spitzte bei dem geringsten ungewöhnlichen Geräusch die Ohren. Das Axiometer über seinem Kopf starrte er an, als ob es die Sonne wäre, die er erwartete, um seine Messungen vornehmen zu können. Achtlos schluckte er sein Essen hinunter. Mit dem letzten Bissen im Munde verließ er ohne ein Wort der Entschuldigung die Tafel und eilte hastigen Schrittes die Kajütentreppe hinauf. Man merkte: er hatte eine Kollision gehabt und wollte keine zweite.


 << zurück weiter >>