Hans Reiser
Yatsuma
Hans Reiser

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LVII.
Und wird feierlich zum König gekrönt

Soweit wäre alles ganz schön gewesen. Jedoch muß erwähnt werden, daß Götz ein leidenschaftlicher Schafkopfspieler war. Schon während der Fahrt in der Droschke hatte er überlegt und beschlossen, nachdem er wegen Mangel an Kleingeld schon einige Abende hatte ausfallen lassen müssen, den heutigen um keinen Preis zu versäumen. Sein Freund Yatsuma konnte ihn dabei wenig oder nicht genieren, ob er zu Hause blieb oder mitging, das blieb sich gleich; aber besser war noch, wenn er ihn mitnahm, zum Abendessen mußte er ohnehin mit ihm ausgehen, und so hatte er ihn ständig in der Nähe und dann konnte überhaupt nichts fehlen.

Die Spielabende waren in seinem Stammlokal, im Occamgarten, den wir als eine der im Aussterben begriffenen altmodischen Wirtschaften schon flüchtig kennengelernt haben. Die über Yatsumas Wanderzeit verstrichenen zwei Jahre hatten an dem Stammpublikum des alten Lokals wenig oder nichts geändert. Immer noch die gleichen Männer kamen immer noch am Mittwochabend zum Kartenspiel zusammen. Sie werden das, so lange nicht ganz katastrophale Ereignisse eintreten, wovor heutigen Tages allerdings nichts ganz sicher ist, und nachdem der von Yatsuma prophezeite Weltuntergang noch nicht ganz eingetroffen ist, wahrscheinlich bis an ihr seliges Ende so halten. Auch die Wirtin lachte trotz der schlechten Zeiten immer noch soviel, gern und laut wie je, und wer dies tut, der findet immer Gelegenheit dazu. Dann und wann, wenn auch lange nicht mehr sooft wie in der gemächlicheren Zeit vor dem großen Kriege, aber manchmal gab es doch auch wieder eine der aus dem Stegreif improvisierten lustigen Szenen – Gaudi nannten sie es –, die die Kartenspieler liebten. Wenn auch etwas derb und eindeutig, konnte es der Humor dieser Lustbarkeit immer noch leicht mit einem süßsauer nach Kassenerfolg grinsenden Theaterlustspiel oder einer auf den gleichen Hund gekommenen Operette aufnehmen, deren Mangel an Geradheit ein Vorzug sein könnte, wenn billige Zweideutigkeit für die absolute Abwesenheit von Witz, Geist und Empfindung entschädigen könnten. Die alten Knaben, die sich im Occamgarten noch hin und wieder ihres Lebens freuten, ohne Statuten und Programme drucken zu lassen und Eintrittsgelder zu erheben, und die es fertig brachten, lustig zu sein, ohne daß der Referent der Neuesten Nachrichten darüber die geringste Notiz brachte, waren immer noch eine Generation für sich.

Den Hund, dem er eine Kartoffelsuppe gekocht und hingestellt hatte, die mit beispielloser Inbrunst verschlungen wurde, ließ Götz zu Hause.

Unterwegs, auf der Straße, ereignete sich ein kleines Intermezzo. Yatsuma blieb nämlich stehen. »Das ist ein guter, alter Freund von mir!« murmelte er und ging hastig entschlossen auf einen Herrn und eine Dame zu, die da standen. Dieser Herr (er war etwas vorstädtisch elegant, aber sehr peinlich und sonst einwandfrei gekleidet; in der Hand hielt er einen Spazierstock mit silbernem Griff, den er während seiner Unterhaltung mit der Dame spielerisch wie einen Windmühlenflügel zwischen den Fingern drehte), dieser Mann war tatsächlich vor ungefähr zwanzig Jahren ein dicker Freund Deschls und ein frischer, fideler Kerl gewesen. Yatsuma erkannte ihn sofort. Wie das möglich war, da er doch sonst niemand kennt, das wissen die Götter. Ich bin kein Mediziner und kann solche psychologischen und psychopathischen Sonderfälle nicht erklären. Die Mediziner verstehen ja auch nichts davon, aber sie können es wenigstens erklären. Als sehr junger Mensch hatte ich mir in echt jugendlicher Begeisterung unter anderem auch in den Kopf gesetzt, ich müsse Medizin studieren. Ich bildete mir nämlich ein, daß man ein Studium des Studiums und Wissens wegen betreiben müsse und daß man, wenn man studiert hat, etwas weiß. Einer meiner älteren Freunde, ein bekannter Arzt aber sagte mir damals: »Erstens wissen wir nichts, und zweitens müssen wir verdienen, um leben zu können.« Obwohl ich das damals noch nicht ganz verstanden hatte, hat diese lakonische Erklärung meinen Übereifer doch etwas abgedämpft und mich allmählich von meinen abenteuerlichen Vorstellungen geheilt.

Wenn also mein alter ehrlicher Freund recht gehabt hat, dann würden auch alle medizinischen Semester des ganzen Planetensystems nicht ausreichen, zu ergründen, warum Yatsuma, der mehr als Blinde, mittendrin wie ein Hellseher einen Menschen erkennt, den er überdies zwanzig Jahre lang nicht gesehen hat; und nicht nur erkennt, sondern auch aus alter Anhänglichkeit und trotz des Spazierstockes mit dem silbernen Griff sich zu ihm hingezogen fühlt.

»Entschuldigen Sie, Sie sind doch der Herr . . .?« Der Name war Yatsuma allerdings entfallen, aber er streckte ihm erfreut die Hand hin.

Der Mann schaute ihn von oben bis unten an. Und da er immer noch die Hand ausgestreckt hielt, sagte er unwillig: »Was wollen Sie denn? Kenn' Sie nicht!« und drehte sich weg.

Entweder verstand Yatsuma das nicht, oder er war so erschrocken, daß ihn eine Art Erstarrung befiel. So sah es nämlich aus. Es war, als wäre der Arm, den er ausgestreckt hielt, um dem Jugendfreund recht herzlich die Hand zu drücken, auf einmal steif geworden oder von Wundstarrkrampf befallen worden. Er konnte ihn einfach nicht mehr zurückziehen.

Götz, der sehr wenig und selten sprach, wenn er aber den Mund aufmachte, dann so einfach, daß es der gewandteste Stilist nicht schlichter herausbringen kann, sagte: »Geh zu, Schorsch, laß doch den saudummen Hanswurscht stehn!«

Das war nun wieder prächtig. Wenn sich doch mancher Schriftsteller an solcher Ausdrucksweise, die Hand und Fuß hat, ein Beispiel nehmen möchte!

Auf Yatsuma wirkten diese wenigen Worte wie eine suggestive Zauberformel: er zog den auf einmal wieder gelenkig gewordenen Arm ein, wie der Hund den Schwanz.

Schweigsam gingen sie weg –

Im Occamgarten waren die erlesensten der Stammesbrüder schon vollzählig versammelt. Alles war da, Engelbrecht mit seinem Kaiser-Friedrich-Bart, der gichtische Bittlinger, der kein Bier trinken soll, in unheimlich großen Filzhausschuhen, der Huberbauer, der Furtner-Wigge, der Maurer Daubner, der Gaßner-Lenz, Modellsteher und Artist, der bucklige Sepp natürlich, dann der Lehrer Kroll mit seiner Frau und deren Freundin, und noch so ein halbes Dutzend Dazugehörige.

»Du brauchst dich ja nicht mehr sehen zu lassen!« hieß es vorwurfsvoll, als Götz eintrat, aber die größere Aufmerksamkeit erregte natürlich Yatsuma. Jeder fand zunächst, daß er unter aller Kanone miserabel und heruntergekommen aussah. Alle begrüßten ihn, und er quittierte mit ebenso vielen schweigsam förmlichen Verbiegungen. Man war nach einigen Andeutungen, die Götz in der letzten Zeit gemacht hatte, neugierig zu erfahren, was nun eigentlich mit Deschl-Yatsuma los war und was mit ihm geschehen sollte. Aber man brachte aus Götz nicht viel heraus.

»Das werde ich euch dann schon sagen!« sagte er. »Jetzt möchten wir zuerst einmal etwas zu essen haben, Frau Wirtin!«

Wenn sie es nicht gewußt hätten, daß Yatsuma nicht bei Verstand war, so hätten sie es aus seinem schweigsam absonderlichen Verhalten allein schon eindringlich genug ersehen können.

Der alte Bittlinger, den der Übermut noch immer und immer noch mehr plagte als die Gicht, konnte es sich nicht versagen, mit Yatsuma eine Unterhaltung zu beginnen.

»Weißt du schon, Schorsch,« sagte er, »daß du heute zum König gekrönt wirst?«

Yatsuma, ohne großes Staunen oder Interesse zu zeigen, schaute den alten Spitzbuben ruhig an.

»Nicht daß ich wüßte. Mir ist bis jetzt nichts davon bekannt.«

»Doch, es ist ein Telegramm eingetroffen, daß die Krönung heute stattfindet! Die Regierungskommission muß jeden Augenblick eintreffen!«

Unveränderter Ernst herrschte an der ganzen Tischrunde. Einige hatten sich erhoben und berieten abseits. »Das könnten wir eigentlich machen!« sagte der Huber. »Der Furtner quetscht das Maurerklavier, wir holen uns ein paar alte Hafendeckel und Kochlöffel, einer muß eine Rede halten –«

»Das mache ich!« erklärte der Lehrer Kroll, der für Vereinsbühnen und dergleichen manchmal kleine Theaterstücke schrieb und einstudierte. »Ich mache einen Prolog, und dann werde ich die ganze Sache arrangieren!«

»Also, meine Damen und Herren!« kam Bittlinger an den Tisch zurückgehinkt. »Die Krönungsfeierlichkeiten werden sofort beginnen! Es ist soeben antelephoniert worden, daß die Minister und Hoflakaien schon unterwegs sind!«

»Macht doch keine Sachen!« brummte Götz. »Er ist doch ein guter Kerl, und da müßt ihr gleich wieder euer dummes Zeugs da machen! Wenn etwas passiert, bin ich verantwortlich! Schaut ihn nur nicht für gar so dumm an, der ist vielleicht gescheiter als ihr alle miteinander!«

»Was soll denn da passieren, alter Hansdampf«, sagte Engelbrecht in vollbärtiger Ruhe. »Ich glaub', du gehörst auch schon zur neuen Generation, die vor lauter Angst nicht mehr geboren wird! Geh einmal da her! Du bist der Minister für Kesselschmiedeangelegenheiten! Du gehst also in die Küche –«

Er weihte ihn in seine Obliegenheiten ein. Zuerst wollte Götz nichts davon wissen, zuletzt sagte er jawohl und beteiligte sich dann mit dem gleichen hitzigen Eifer an den Vorbereitungen der Viecherei wie alle anderen. Kroll saß in der Ecke und dichtete.

Ein Tischchen wurde in die Mitte der Stube gerückt und ein Stuhl darauf gestellt, auf den sich Yatsuma setzen mußte. Der bucklige Sepp brachte einen zinnoberroten wollenen Unterrock, der den letzten Karneval überlebt hatte, und den sie Yatsuma als Mantel pelerinenartig um die Schultern hängten. Ebenso eine Art Krone aus Goldpapier und einige Christbaumflitter, die er aus der Wohnung herunterholte. Sie setzten ihm das Zeug auf, gaben ihm in die eine Hand einen Kochlöffel als Zepter und in die andere eine Kartoffel als Reichsapfel.

Die Wirtin lachte schon im voraus ganz erschüttert, als sie all dieses dumme Zeug sah. »Laßt ihn doch stehen!« bat sie. »Der arme Kerl!«

Aber das half jetzt nichts mehr, jetzt gab es kein Zurück mehr. Mit dem roten Umschlagpapier von Franks Kaffeezusatz, das abfärbt (worauf ich jeden, der etwas blaß und unterernährt aussieht, aufmerksam mache), wurde Yatsumas Gesicht bearbeitet, das aus seinem phantastischen Aufputz byzantinisch-gespenstisch heraussah, mit tiefliegenden Augenhöhlen, riesiger Nase und knallrot glühenden Backen, wenn man die abgemagerten Knochen, an deren Stelle sie sich hätten befinden müssen, so nennen kann. Auch die übrigen maskierten sich, zogen die Sakkos verkehrt an, stülpten groteske Kopfbedeckungen auf, banden sich Röcke und Schürzen um und bewaffneten sich, die Küche der Wirtin ausplündernd, mit Blechpfannen, Töpfen, Bierkrügen, Gläsern, Schürhaken, Kehrbesen und allen möglichen Instrumenten, die geeignet waren, musikalischen Lärm und rhythmischen Radau hervorzubringen.

Man kann nicht sagen, daß diese Menschen unduldsam oder boshaft gewesen wären. Sie verspotteten sich nur untereinander und schlossen sich selbst in ihre eigene Verulkung ein. Es war, Deschl nicht ausgenommen, keiner unter ihnen, der nicht schon an der Reihe gewesen war und jeden Tag wieder dran kommen konnte. Ihr Bedürfnis, das Leben von der heiteren Seite zu nehmen, war ihre zweite Natur, wenn nicht ihre verkümmerte erste, die sich trotz Kultur und Zivilisation nicht ganz unterkriegen ließ. Und dadurch, daß sie einen lustigen Zeitvertreib daraus machten, ihre Besonderheiten, Defekte oder Vergehen unter sich an den Pranger zu stellen, ersparten sie der Welt die andere, weniger erheiternde Posse, sie zu öffentlichen Haupt- und Staatsaktionen, Prozessen und Demonstrationen von Haß und Feindschaft zu erheben. Sie fühlten sich um so einiger, je mehr sie sich verulkten.

»So, ich bin fertig!« sagte Kroll und schwang ein beschriebenes Papier in der Luft. Er hatte sich ein weißes Tischtuch malerisch umgeworfen und einen Hut aus Packpapier mit einer Pfauenfeder an der Spitze aufgestülpt. »Ich brauche eine Trompete! Ich bin der Herold, und ihr müßt meinen Anordnungen Folge leisten!«

Einer wollte ihm einen Grammophontrichter überreichen, aber der Sepp gab ihm eine Papiertrompete, wie sie die Kinder zur Fastnachtszeit auf den Straßen blasen.

»Also: Schwabinger aller Länder, vereinigt euch! Und stellt euch ordentlich auf, die Musik hinter mir, an die Spitze!«

Es geschah.

»Vorwärts!«

Der Zug setzte sich in Bewegung und zog unter dem ohrenbetäubenden, entsetzenerregenden Lärm von allen möglichen Trommeln, Pauken, Bratpfannen, Trompeten und Gejohle um den auf dem Tisch aufgebauten Thron herum.

Yatsuma hatte das Treiben stillschweigend verfolgt und sich seine Gedanken dazu gemacht. Allmählich interessierten ihn die immerhin eigenartigen Vorgänge.

Nachdem der Zug den Tisch dreimal umkreist hatte, gebot der Herold Halt und Ruhe.

»Wenn ich in die Trompete stoße, müßt ihr schweigen!« schrie er. »Ich werde nunmehr das Huldigungsgedicht zur Verlesung bringen. Bei jeder Strophe müßt ihr die letzte Zeile, wenn ich den Arm hochhebe, im Chorgesang wiederholen, verstanden!« Dann wandte er sich, indem er sich bis zur Erde verbeugte, zu Yatsuma: »Majestät, der Zug der Würdenträger,« er wies auf die versammelte Schar, »Minister und Pfaffen, Hofbeamten und Hoflieferanten, Schranzen und Nepoten, Fürsten, Diplomaten und Generäle, Lakaien, Kammerzofen und Feldmarschälle, die nie im Feld waren, ist angekommen, um Eurer Königlichen Hoheit in diesem hohen Hause, vier Etagen! seine Huldigung darzubringen. Hier an vorderster Stelle, der mit den großen Filzschuhen,« er zeigte auf Bittlinger, »Seine Exzellenz Fürst Hinko von Trinko«, ein breites Gelächter quittierte die Anspielung, »ist extra zu Fuß vom Rückgebäude hergewandert! Hinter seinem breiten Rücken aber erstrecken sich in unabsehbaren Reihen die Völker aller Länder und Erdteile, deren sehnlichster Wunsch es ist, Ihrer Majestät ihre Wünsche darbringen zu dürfen, und welche mich, seinen Herold, beauftragt haben, Eurer Majestät in eigens aus dem Stegreif verfaßten Versen ihre Begrüßungsworte darzubringen!«

Wenn es noch etwas Irrsinnigeres gibt, dachte Yatsuma, als die Sprache dieser Hofmenschen, dann will ich nicht Yatsuma heißen.

Der Herold aber nahm sein Manuskript und las mit herausgewölbter Brust und tragisch rollender Stimme:

»Heil dir, erhabener Herrscher, dir,
Auf stolzem Thron, der Erde höchster Ruhm,
Landstraße allerschönste Zier,
Mein Lied erklingt von deinem Heldentum!
In Ost und West, in Süd und Nord bekannt,
Sieht man allüberall dich sausen,
Unsicher machst du Stadt und Land
In Schwabing, Giesing und Haidhausen.«

Er hob den Arm hoch: »In Schwabing, Giesing und Haidhausen!« fiel der Chor ein. Der Herold fuhr fort:

»Du, aller Armen froher Trostgefährte,
Du Licht, das wir zum Fürsten wählen,
Wenn wir verfault sind in der feuchten Erde,
Wird man sich noch von dir erzählen,
Von Prügeln, Schwitzen, Frieren, Bettelsuppen,
Von deinem Frohsinn, deinem leeren Ranzen
Beim Nachtquartier im kalten Lagerschuppen,
Von deinen Läusen, Flöh'n und Wanzen.«

Dumpf brüllte der vielstimmige Chor: »Von deinen Läusen, Flöh'n und Wanzen!«

»Wo liegt ein Stein, der dich nicht traf?
Wo bläst ein Wind, der dich nicht jagte?
Wo steht ein Bett für deinen Schlaf?
Wo ist ein Mensch, der Gutes von dir sagte?
Du hast kein Konto, kein Geschäft, kein Geld,
Und bist in Tonga und Yukatan zu Haus,
Du gehst vom Anfang bis zum End' der Welt
Und kommst aus Schwabing nie hinaus.«

Gewaltig wiederholte der Chor: »Und kommst aus Schwabing nie hinaus!«

»Du hast niemand, der um dich weint,
Hast nichts im Sinn und nichts im Leibe,
Hast Freunde, aber keinen Freund,
Du hast kein Haus und keine Bleibe.
Du Lammsgeduld, du totgehetzter Tiger
In königlicher Wildnis Einsamkeit,
Du bist das Aas, wir sind die Fliegen,
Du bist recht weise und doch nicht gescheit.«

Alle schrien: »Du bist recht weise und nicht recht gescheit!«

»Und doch gabst du uns seltene Gaben,
Du großer Schweiger, blütenreicher Mund!
Ein Wort von dir, und wo der Hund begraben,
Ist jedem, der nicht ganz verblödet, kund.
Zu deinen Leiden lachen, deinen Freuden weinen
Wir alle, groß und klein und kunterbunt,
Denn lachen schadet nicht, doch warum weinen?
Im Sanatorium wirst du gewiß gesund.«

Abermals hob der Herold den Arm und wieder fiel der lustige Chor grauenhaft lärmend ein: »Im Sanatorium wirst du gesund!«

Der Herold wandte sich der hinter ihm stehenden grotesk aufgeputzten Schar zu:

»Nun tretet näher, seinen Stern zu grüßen!«

Die ganze Gesellschaft bewegte sich nach vorwärts und verbeugte sich ehrfürchtig.

»Blickt auf zu ihm, ihr Affen und Kamele!«

Alle streckten die Nasen in die Luft.

»Zu Boden!«

rief der Herold. Alle ließen sich auf die Knie nieder. Jetzt wandte er sich wieder an Yatsuma:

»Sieh dein Volk zu deinen Füßen
Anbeten schweigsam deine hohe Seele!
Sie neigen sich vor dir und stürzen nieder,
Die traurigen Gestalten deiner Liebe!
Die unverbesserlichen Schafkopfbrüder,
Die Lumpen, Unternehmer, Taschendiebe!

Sind lauter Münzensammler, Vagabunden,
Schenkkellner, Kartenmädchen, Privatier,
Ob Schuster oder Schneider, lauter Kunden,
Der Herr Direktor wie der Herr Bankier,
Der Kaufmannsjüngling, Graf und Kavalier,
Der Herr Geschäftsmann und der Mann vom Bau,
Der schöne Alphons von der Zelle vier
Und hier der Schaukelmax mit seiner Frau.

Steht auf!«

Alle erhoben sich.

»Heran und küßt den edlen Fuß! –
Der Erde Menschheit strömt begierig her,
Nur August mit der Latte fehlt: er muß
Den Geldsack hüten mit dem Schießgewehr!«

Nach diesen Worten des Prologs trat der Herold vor Yatsuma hin, ergriff seinen Fuß, als wollte er ihn küssen, und spuckte ihm auf den zerfetzten Schuh, der allerdings recht viel mehr nicht wert war und erschrocken zurückzuckte, als wäre ihm unfaßlich, daß er nach so langer Zeit wieder einmal geputzt werden sollte. Ein Trompetenstoß ertönte, der ganze Zug paradierte unter feierlicher Nachäffung der Zeremonie im Gänsemarsch vorüber. Der Herold stieg auf einen Stuhl. »Reicht mir einen Krug Bier!« rief er. Dann las er weiter:

»Nun gilt es, Eure Majestät zu taufen,
Bevor zu essen kriegt der arme Bauch.
Sie gehen jetzt und holen was zu saufen,
Denn das gehört von je zur Krönung auch.
Aus deinem Munde flammten frohe Wunder,
Kein König David, Salomon noch Saul
Hat so verulkt den ganzen Erdenplunder,
Darum bekommst du eine auf dein Maul!«

Bei dieser Stelle verabreichte er ihm aus dem Stegreif und ohne daß sein Manuskript eine szenarische Bemerkung darüber enthielt, eine ziemlich kräftige Ohrfeige, so daß Yatsuma ins Wanken kam und von Tisch und Stuhl gepurzelt wäre, hätte der Herold nicht die papierene Krone auf seinem Haupt wieder zurecht gerückt und ihn damit selbst vom Falle aufgehalten. Ganz ohne Schläge geht es bei Yatsuma nun einmal nicht ab. Ungeheurer Beifallsjubel begleitete diese Szene. Endlich gebot der Herold mit Donnerstimme und wiederholten Fanfarenstößen Ruhe. Inzwischen hatte ihm einer ein Liter Bier gereicht, das er dem Gekrönten unter beschwörendem Hokuspokus über den Kopf goß, wobei die Krone allerdings ziemlich erweichte. Yatsuma, so eigenartig er diese Zeremonie fand, wunderte sich, abgehärtet wie er war, über nichts. Obschon es ihn bei dem kalten Guß innerlich ein wenig schüttelte, hielt er doch im großen ganzen mannhaft stand und nahm sich vor, nicht mit der Wimper zu zucken, was auch kommen werde. Im stillen und uneingestandenermaßen hoffte er freilich leise, daß solche Zeremonie wie der Backenschlag, mochte er auch noch so sehr dazugehören, nicht allzuoft wiederkehren möge. Das geschah auch nicht, dafür aber las der Herold weiter:

»Die Speisen! Was die Erde bringt hervor –«

Götz hielt einen Teller mit einem Stück schlichten, ehrlichen Limburgerkäse, wie er heutigen Tags in Stanniolpapier eingewickelt zum fünffachen Preis verkauft wird, und zwei Brote bereit, die er ihm reichte, und ebenso ein Liter Bier, in dem sich, wie verabredet, etwas Senf und Pfeffer und Salz befand. Der Herold las:

»Was die Erde bringt hervor,
Sei dir! Bananen, Feigen, Ananas,
Kakteenfrüchte, Mais und Zuckerrohr,
Tee, Kaffee, Schnaps, Tokaier manches Faß;
Vom Honigbaum die schwere Wabentraube,
Gewürz und Frucht aus allen Erdenreichen,
Von Palmen, Bambus, Eukalyptusstaude,
Und einen Stinkkäs', einen schönen, weichen.«

»Und einen Stinkkäs' ohnegleichen!« betete der Chor ohne jede vorhergegangene Einstudierung pünktlich nach. Yatsuma nahm die Gaben in Empfang. Alles trank ihm zu, aber ihm schmeckte es nicht sonderlich. Er mußte den Krug leeren, worauf ihm übel wurde. Ein berauschender Taumel benebelte seinen Kopf, so daß er den letzten Vers des Herolds nicht mehr mit ganz klarer Aufmerksamkeit verfolgen konnte. Er lautete:

»Der Herr beschütze dich auf deinen Wegen,
Auf Erden und auf jeglichem Gestirn,
Beschütze dich vor Hunger, Frost und Schlägen,
Beschütze dein beschädigtes Gehirn,
Vor Polizisten, Münchener Dauerregen,
Marsmenschen, wilden Tieren und Behörden,
Erteile uns, wir bitten, deinen Segen . . .«

Der letzte Satz ging in dem maßlosen und unverschämten, nicht endenwollenden Jubel und Trubel und haarsträubenden Getöse, das diesen Worten folgte, ungehört verloren. Yatsuma nahm alle seine Kraft, die er aus dem Abendessen geschöpft hatte, zusammen, erhob sich von seinem Sitze, auf dem er gipssteif geworden war, und gab durch ein Zeichen zu verstehen, daß er einige Worte an die Versammlung zu richten wünsche.

Seit er auf die Erde zurückgekehrt war, fühlte er nach so langem Schweigen wieder ein lebhaftes Bedürfnis, Gedanken, die ihn beschäftigten, auszusprechen. Förmliche Reden zu halten wie ehedem, hatte er sich abgewöhnt, seit er die Menschheit in einem fortgeschritteneren Stadium befindlich und das neue Zeitalter angebrochen glaubte. Etwas anderes war es, wenn ein außerordentlicher, ungewöhnlicher Anlaß es schicklicherweise erforderte, eine kurze Ansprache zu halten. Obwohl ihn geräuschvolle Massenversammlungen gänzlich abkühlten, empfand er über diese Krönungsfeierlichkeit doch eine Art Rührung. Nicht weil sie ihn betraf, obwohl eine Ehrung, mag sie noch so albern sein, sogar noch auf den skeptischen Menschen eine gewisse Wirkung ausübt, aber ihm war es gleich, was er in der Vorstellung der anderen war, weil er sich ja von sich selbst nichts vorstellte. Das Volk will sich eben an seelischer Größe weiden, dachte er, es muß immer etwas zu kauen haben, Brot und Fleisch und Purpurmäntel und Edelsteine. Und muß es dann auch hinnehmen, wenn es von einem Hermelin ohne nähere Inhaltsangabe beherrscht wird. In diesem freilich anders gelagerten Falle aber, meinte er, wäre es doppelt unangebracht, den Spaßverderber zu spielen.

Als endlich die Ruhe wieder einigermaßen hergestellt war, hörte man ihn sagen: »Meine lieben Freunde!«

Atemlose Stille trat ein.

»Jede Freude«, sagte Yatsuma, »soll man zumindest respektieren. Aber ich teile Ihre festlichen Empfindungen noch aus einem anderen Grunde: vor wenigen Jahrhunderten noch waren unter allen Menschen der Erde diejenigen die größten und mächtigsten, die die besten Schauspieler von Macht und Größe waren. In Ermangelung inneren Wertes hatten sie verstanden, das Äußerliche auf die großartigste, pomphafteste und imponierendste Weise zu vervollkommnen, mit dem prunkenden Gefäß alle Augen über dessen Leere hinwegzutäuschen. Doch das änderte sich dank meinem segensreichen Einfluß alsbald. Die Könige wurden in dem Maße unpopulär, als man dahinterkam, daß sie Rollenspieler waren, und als sie darum ihre Rolle nicht mehr zu spielen verstanden, denn ein schlechter Darsteller wird sogar vom Logenschließer ausgepfiffen. Darum begrüße ich es als ein Zeichen der erneuerten Welt und des neuen Zeitalters, daß Sie allein die Macht der Seele und des Geistes anerkennen und ehren und alles andere als trügerisch und hinfällig durchschaut haben! Nun aber zu etwas anderem!«

Yatsuma machte eine kleine Pause und fuhr dann fort:

»Da König sein in unseren Zeiten bedeutet, Fürst im Reiche des Geistes zu sein, so geht daraus hervor, daß ein solcher Fürst weltliche Würden und weltlichen Besitz zurückweisen muß. Er akzeptiert die Anerkennung und lehnt Reiche und Reichtümer ab, die nicht in ihm selbst liegen. Wie man ja auch in alten Zeiten schon zuweilen mehr ungekrönten Königen begegnet ist, als gekrönten, und wenn es von solchen auch nur so wimmelte, so ist auch das neue Königtum ein ungekröntes – es sei denn, Sie betrachten den unwandelbaren Gleichmut, mit dem ich die Leiden, Anstrengungen und Opfer meines Weges hinnehme, als die Krönung meines Lebens, die ich mir alsdann gerne noch mehr zu eigen machen will. Gestatten Sie darum, daß ich die Insignien der Weltlichkeit, welche Sie mir zum Geschenk boten, in ihre Hände zurücklege!«

Mit diesen Worten überreichte er dem Lehrer Kroll den Kochlöffel und die Kartoffel, die dieser mit einer würdevollen Verbeugung entgegennahm.

»Schon gestern früh«, fuhr Yatsuma fort, »werde ich mich weit von hier befinden! Mögen dann die Worte in Ihnen noch wach sein, die ich Ihnen morgen abend gesagt habe! Es ist nicht wahr, daß Talent und seelische Größe keine Anerkennung finden! Nur unberufene, niedrige Geister konnten solchen Ausspruch erfinden und unter euch ausstreuen –«

Yatsuma stockte, denn dies war der einzige Gedanke, der ihm wirklich ins persönlichste Innere ging; die Ergriffenheit übermannte ihn fast, er wurde kaum der drückenden Schatten in seinen Augen Herr. Aber rasch hatte er sich wieder gefaßt:

»Darum bedenkt: ein König kann noch so berühmt sein, er bleibt immer nur ein König. Ich habe das nicht nötig. Mein Name wird länger dauern als der irgendeines Königs!«

Yatsuma setzte sich, ein ungeheurer Beifallssturm brach los, Hoch-, Heil- und Bravorufe, Lärm, Schreien, Lachen, Trommeln, Tuten, Blasen, ein Getöse, wie es der Occamgarten noch nicht erlebt hatte. Yatsuma wurde vom Tisch herabgeholt und im Triumph durch das Lokal getragen wie ein Preisboxer oder Rennradfahrer. Der wahnsinnige Lärm wollte nicht enden, die Fensterscheiben klirrten, der Boden wankte, die Mauern zitterten, es roch nach Brand, so daß in der Aufregung plötzlich alles von Schrecken erfaßt wurde. Es war aber nichts Besonderes, der Lehrer Kroll hatte sich nur, während er mit aufgerissenem Mund der Rede Yatsumas folgte, mit der Zigarre ein Loch in den Rock gebrannt. Zum Glück hatte es seine Frau nicht bemerkt.

»Kinder, Kinder, ich bitt' euch um Gottes willen!« schrie die Wirtin in den grauenhaften Tumult hinein, aber niemand hörte. »Ich werde ja bestraft! Seid ihr denn alle verrückt geworden!«

Sie waren keineswegs verrückt, nur nicht mehr ganz nüchtern. Nur die Frau des Lehrers saß allein am Tisch und – weinte.

»Na, was ist denn?« fragte Kroll, als er sich nach ihr umsah. »Was hast denn schon wieder?«

»Ich weiß nicht –«, schluchzte sie. »Ich finde es so traurig –.« Und verbarg ihre hübschen, glänzenden Augen im Taschentüchlein.

»Na so was, da hört sich doch alles auf!« schalt er. »Mit dir kann man aber schon gar nirgends mehr hingehen! Neulich im Theater hast du auch geflennt bei dem Lustspiel! Prost! Trink, sei lustig, du kleiner Dummkopf!«

Die Wirtin dagegen hatte den Lehrer in ihr Herz geschlossen. »Nein, Herr Kroll,« kam sie zu ihm, »Sie können aber wirklich dichten! Ich habe so lachen müssen, mir tun die Seiten weh, und doch hätt' ich manchmal gleich lieber weinen können, so schön haben Sie's gemacht! Ja, ja, in Ihnen ist allerhand versteckt, Herr Lehrer, das hätte ich nicht von Ihnen gedacht!«

»Das ist ja gar nichts!« wehrte er ab. »Das habe ich in fünf Minuten hingehauen, das war ja nur eine Gaudi. Da sollten Sie mal ›Erdulins Glück und Ende‹ von mir hören, ein fünfaktiges, historisches Schauspiel, ganz in Versen, eine wirklich ernste Arbeit! Das ist schon was anderes, meine liebe Lachtaube!« Er faßte sie um den übermäßig junonisch gewölbten Brustkasten. »Aber das wird leider so schnell nicht aufgeführt, es kostet zuviel Geld, es kommt ja viel zu teuer!«

Sie rückte noch ein klein bißchen näher zu ihm. »Ja, ja, das glaub' ich, da wär' ich aber wirklich neugierig – nein, wissen Sie, ich muß noch immer lachen –«, sie ließ ihr Koloraturlachen von neuem in die rauchige Bierluft quirlen. »Und wie ihr ihn hergerichtet habt, nein, nein! Aber das wird ja heut wieder etwas werden, bis ich die Brüder hinausbringe! Sie sind, glaub' ich, noch der einzige, der noch nicht besoffen ist. Ich hab' nur Angst, daß am Ende noch mit dem Deschl was passiert –«

Einige Paare hatten sich zu den ziehenden Weisen der Harmonika zum Tanz gefunden, aber in der Hauptsache mündete der Abend wie gewöhnlich in ein unbändiges Saufgelage. Auch Götz hatte schon seinen Hieb.

»Ich bin verantwortlich –«, stotterte er in einer Tour. »Ich bin verantwortlich!«

Er sagte es sooft, daß zu sehen war, daß er es nicht mehr war.

Yatsuma saß, steif und unbeweglich seinen Gedanken hingegeben, inmitten der lauten Gesellschaft, deren bacchantische Sitten er sehr exotisch fand, und neigte bei Prostrufen würdig dankend das Haupt. Bittlinger, der auch schon einen weg hatte, versuchte ihn in eine Unterhaltung zu verwickeln. Es waren ihm aber nur wenige Worte zu entlocken.

»Siehst, Tanzbär,« sagte er, »wenn jetzt deine Lina nicht geheiratet hätt', dann wär' sie auch Königin geworden!«

Yatsuma antwortete zögernd, sichtlich nur um der lieben Höflichkeit willen.

»Das ist sie mir,« sagte er, »solange sie gelebt hat, immer gewesen.

»So! Dann ist sie also für dich gestorben?«

Er gab keine Antwort, versank in sein Schweigen. Niemand beachtete ihn mehr. Nur Frau Kroll blickte ihn mit noch nicht ganz trockenen Augen manchmal heimlich von der Seite an.

War er denn wirklich so bemitleidenswert?

Es soll schon öfter vorgekommen sein, daß eine Ehrung in Wirklichkeit eine Blamage war. So etwas muß zwar fatal sein, aber wenn der Hauptbeteiligte, wie Yatsuma, nichts merkt, dann ist doch immer noch allerhand Glück dabei –

Als die Gesellschaft in später Stunde auf die Straße gesetzt wurde und sich wankend und schwankend, langsam aber unsicher zerstreute, faßte Götz Yatsuma unterm Arm, weniger um ihn, als um sich festzuhalten. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, noch einen schwarzen Kaffee trinken zu müssen und dirigierte sich in die Richtung Leopoldstraße, dem Café Noris zu, nicht ohne sich von Zeit zu Zeit, wenn das Trottoir auf ihn losstürzte, langausgestreckt auf den Boden hinzulegen, ungeachtet es frisch geschneit hatte. Bald bettete er seinen Kürbisschädel auf einen Randstein, bald lehnte er sich an einen Baumstamm, als wollte er sich da für alle Zeiten häuslich einrichten. Yatsuma, dem von dem Genuß des verdorbenen Bieres miserabel zumute war, hob den schweren Mann mit vieler Mühe mehr als einmal auf die Beine.

»Ich bin verantwortlich!« brummte er dann, und schon lag er wieder auf dem Pflaster.

 


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