Hans Reiser
Yatsuma
Hans Reiser

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XVIII.
Revolution in China

Mitten in der Nacht oder noch später wachte Yatsuma durch ein mörderisches Getöse auf, fuhr in die Höhe und blickte mit etwas blöden, verklebten Augen um sich – so lange ihm Zeit dazu blieb. Denn im gleichen Augenblick stolperte ein riesiger Mensch oder menschlicher Riese auf ihn zu, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn hin und her, als wollte er ihm die Seele aus dem Leibe beuteln. Dabei lallte der wilde Kerl tolles, unverständliches Zeug, von dem Yatsuma nur einige Brocken halbwegs verstand, wie zum Beispiel: »Auf, hinaus da! Du bist frei! Schieb ab, alte Kartoffelkiste, sag' ich dir! Freiheit, verstehst! Gibt kein Gefängnis mehr, haha! Marsch sag' ich, linksum kehrt! Wenn du nicht – freiwillig gehst, dann – wirst – hinausgeschmissen!«

Dabei wollte er sich bücken und Yatsuma an der Brust packen, fiel aber nieder und blieb reglos liegen. Er duftete nach Alkohol wie ein Schnapsbuffet.

Yatsuma hatte anscheinend immer noch nicht ausgeschlafen, aber bei dem, was er sah, hätte auch einer, der eine Fußreise um die Welt hinter sich hat, das Weiterschlummern vergessen. Das Zimmer, in dem er sich befand, war gesteckt voll von bewaffneten Männern, die herumfuhrwerkten wie besessen, alles durcheinanderwarfen und selbst durcheinanderpurzelten, Schränke, Kästen und Fächer aufrissen und entleerten, in die Taschen stopften, was ihnen brauchbar schien, und was ihnen nicht gefiel, in die Ecke schleuderten. Mit ihren Gewehren, auf denen die blanken Bajonette funkelten, stachen sie in die Aktenschränke, spießten auf, was ihnen in den Weg kam, Papierbündel oder Brotlaibe, die Bilder an den Wänden, welche Öldruckporträts von Herrschern oder Fürstlichkeiten darstellten, und die Mützen an den Kleiderhaken. Die Papierstöße schleppten sie hinaus, die Tür blieb auf und Yatsuma sah einen lodernden Feuerbrand auf der Straße. Einer war auf den Tisch gesprungen, auf dem Gewehre und Patronen, Weinflaschen, Bierkrüge und Handgranaten durcheinander lagen, fegte alles samt dem Tintenzeug mit seinen kotigen Schuhen hinunter und hielt eine Ansprache, auf die niemand hörte.

Mit Recht! dachte Yatsuma, denn das sollte er lieber mir überlassen!

Ein anderer probierte ein Paar Stiefel, die in der Ecke standen, und wieder ein anderer schichtete von dem Akten- und Formularpapier, das den Boden überschwemmte, einen Stoß zu einem Kopfkissen auf und legte sich zum Schlafen darauf. Mitten in dem teuflischen Wirrwarr und Durcheinander hörte Yatsuma zuweilen ein sonderbares, dumpfes Getöse aus der nächtlichen Ferne, ähnlich dem Donner der Brandung. Es war das Nachtgeräusch der nahen Stadt, ein Poltern und Rollen, als ob tausend Fuhrwerke durch die Straßen rumpelten, unterbrochen von Schüssen und dem aufregenden Tak Tak der Maschinengewehre.

Immer noch waren ihm die Lider schwer wie Blei, doch sah er, daß alles, was sich da vor seinen Augen abspielte, kein verworrener Traum war, wie er im ersten Augenblick geglaubt hatte, sondern er war sich darüber klar, daß er sich in Tientsin, Nanking oder Hankou befand und Zeuge von unruhigen Wirren, Kämpfen, Revolten und revolutionären Aufständen geworden war, wie sie in China an der Tagesordnung sind. Allmählich war es in der Wachtstube ein wenig ruhiger geworden. Es wurde schon hell, ein halb grüner, halb rosiger Schimmer drang durch die zerbrochenen Fensterscheiben in das wüste Zimmer, in dem es so gar nicht rosig aussah. Einige der Soldaten schliefen, andere spielten Karten, dazwischen saß einer, die Beine behaglich kerzengerade von sich gestreckt, in einem bequemen Lehnstuhl, anscheinend der Anführer oder Kommandant, da er von Zeit zu Zeit rief: »Wache antreten!« und dann wieder: »Franz, tu noch eine Flasche her!« Die geleerten Flaschen warf er kopfüber hinter sich. Nach einer Weile machten sich zwei Männer mit umgehängten Gewehren zur Wache zurecht, wovon der hintere den vorderen mit einem scherzhaften Fußtritt zur Tür hinausstieß. Die Unordnung des Raumes und die fahle Phantastik der wilden Gestalten aber gewann nun erst, verlassen von der Romantik der Nacht, im unbarmherzigen Tageslicht eine trostlose Deutlichkeit.

Yatsuma erhob sich. Es war Zeit für ihn, sich langsam auf die Beine zu machen.

Als er zur Tür schritt, trat ihm der Anführer entgegen: »Wohin, Kamerad?« Er legte Yatsuma, der schon die Türklinke ergriffen hatte, die Hand auf die Schulter. »Du bist doch einer von den unseren!? Bleib bei uns. Da geht es dir nicht schlecht. Du kannst vorwärtskommen, wir suchen sowieso einen neuen Kultusminister!«

»Vorwärtskommen«, sagte Yatsuma, »kann jeder nur auf seine Weise –«

Der Anführer öffnete die Tür und winkte den Wachtposten.

Yatsuma nahm eine seiner gravitätischen Haltungen an. »Werter Herr General, liebe Chinesen«, sagte er und verbeugte sich mustergiltig gegen ihn und die anderen, »Sie haben mir ein ehrendes Angebot und ein schmeichelhaftes Kompliment gemacht, indem Sie mir zu verstehen gaben, daß ich ein Mensch sei, der zu mancherlei zu gebrauchen ist und der es vielleicht zu etwas bringen könnte, wie man sagt. Diese Annahme, werte Chinakrieger, ist ein Irrtum, wenn auch ein sehr entschuldbarer. Ihre hohe Intelligenz, welche die im Menschen schlummernden Fähigkeiten nicht nach den Kammgarnstoffen beurteilt, mit denen sein Gerippe behängt wird, stellt dem chinesischen Heeresgeiste ein ehrendes Zeugnis aus. Aber wie die heutige Menschheit nun einmal beschaffen ist, könnten Sie, verehrte Boxer, Bombenwerfer und Zopfträger, doch nicht auf den Grund meines Inneren schauen, und wenn Sie der Generalfeldmarschall und Oberstkommandierende sämtlicher chinesischen Streitkräfte wären! Und so will ich Ihnen lieber ein Fenster auf mich öffnen: so außerordentlich interessant es mir war, miterleben zu dürfen, wie der Sitz der Regierung von der revolutionären Partei eingenommen wurde, das Aufspießen von Menschenköpfen könnte mir auf die Dauer keine innere Befriedigung gewähren –«

Der Soldat, anfänglich erstaunt über den wohlformulierten Unsinn, den er da vorgebracht sah und hörte, stierte finster vor sich nieder und biß sich auf die Lippen, um das Lachen zu verkneifen.

»– und wie ich nicht einmal zu dieser primitiven Verrichtung zu gebrauchen bin,« redete Yatsuma wie geschmiert weiter, »so kann ich auch nirgendwo vorwärtskommen, als höchstens in mir selbst. Untauglich, wie ich bin, kann ich nicht einmal den allergeringsten Posten ausfüllen, eher noch den allerhöchsten! In der Tat ist meine Aufgabe eine, die vielleicht noch nie dagewesen ist. In kurzer Zeit werde ich China verlassen müssen, um anderen Weltgegenden zuzueilen, um aber die Sache kurz zu machen –«

Mit diesen Worten wollte Yatsuma, da er sich so schön hineingeredet, sein Thema erst eigentlich und übersichtlich ausbreiten, aber der Anführer hatte schon genug.

»Ich glaub' dir's schon!« sagte er und hielt ihm die Hand hin. Yatsuma ergriff sie und drückte sie unmilitärisch lang und innig. Dann gab er noch eine Verbeugung gegen alle Anwesenden zum besten (Servus! riefen sie ihm nach. Hab' die Ehre! Grüß dich, altes Haus!) und hinaus war er.

Ein Lastauto mit bewaffneten Soldaten und Arbeitern rasselte vorüber. Yatsuma stak die überheizte, dicke Luft der Wachtstube kratzig trocken im Hals. Der kalte Wind spannte ihm die Haut, seine Lippen rissen wie ein dünner, brüchiger Seidenstoff.

Es dauerte einige Zeit, bis die Soldaten sich von ihrem Lachkrampf erholt hatten. Noch lange waren sie nicht damit fertig.

»Was der Kerl alles dahergebracht hat, was?«

»Menschenskind!«

»Armer Teufel!«

»Der war schon unheimlich, mein Lieber!«

»Und ich sag' euch bloß das eine: das war ein ganz Raffinierter!«

»Eichel sticht!« hieb einer die Karte auf den Tisch, »– man hätte ihm wenigstens einen Hafen voll Kaffee geben können!«

 


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