Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Frühling dieses Jahres waren die Franzosen, Belgier, Engländer und Amerikaner nach Deutschland einmarschiert und hatten die Rheinlande, das Ruhrgebiet und die Pfalz, die Rheinhäfen und die Brücken besetzt. Jetzt war es Herbst und man sagte, hörte und las, daß die Franzosen noch weitere Gebiete besetzen und nach Süddeutschland, Bayern, Württemberg und Baden marschieren würden.
Der Briefträger, der die Zeitung bringt, kam durch das Dorf. Es war nicht weit von Schwabing. Auf der Straße stand der Wirt, der Schmied kam hinzu.
»Was gibt es Neues?«
Der Wirt faltete die Zeitung auseinander. »Ja, no, immer die alte Geschichte. Sie möchten uns halt kaputt machen. Raub und Mord und Diebstahl! Das sind die ganzen Neuigkeiten!«
Der Wegmacher kam daher, ein alter Mann, krumm und gebückt. Seinen Hut mit der Hühnerfeder drauf hatte er, weil auf der Landstraße der Wind pfiff, mit einer Spagatschnur unter dem Kinn festgebunden.
»Alles wollen sie uns nehmen, alles!« lamentierte der Wirt. »Man hat keine frohe Stunde mehr!«
»Mir können sie nichts nehmen,« sagte der zahnlose Wegmacher, »ich hab' nichts.«
»Das ist nicht richtig!« fuhr der Wirt auf. »Wir müssen anders denken!«
»Paß auf, Wirt,« sagte der Wegmacher, »jetzt will ich dich was fragen: das wievielte Hungerjahr haben wir jetzt?«
»Das wievielte? Das kann ich dir ganz genau sagen! Das weißt du ja selber,« er rechnete an den Fingern, »wir haben jetzt das fünfte Hungerjahr!«
»Stimmt nicht, stimmt nicht, mein Lieber! Die Reichen haben noch gar keins gehabt und die Armen schon ein wenig mehr. Die ganze Menschheit hat ein paar tausend Jahre beisammen und ich hab' genau so viel wie Lebensjahre. Eine einfache Rechnung, jetzt hast du's ganz genau beisammen!« Sprach's und ging weg.
Yatsuma, am Zaun lehnend, hatte zugehört. Die Menschen jammerten ihn, ihre Verwirrung und traurige Unwissenheit taten ihm leid. Er wollte ihnen helfen.
»Es gibt etwas, werte Mangbatten,« sagte er, mit einer steifen Verbeugung herzutretend, »das sehr trostreich ist, zu wissen, und das euch heiter und froh machen wird: das ist der Besitz, den niemand nehmen kann!«
Sie schauten ihn an. Es war wahrlich nichts an ihm zu sehen, was des Wegnehmens wert gewesen wäre. Flicke und Flecken, Lappen und Fransen, keine Schuhe an den Füßen, keinen Hut auf dem Kopf –
»Und das wäre?« lachte der Schmied.
»Ich habe«, sagte Yatsuma, »die Sonne, den Wind, die Luft und das Gras. Ist das nichts? Ich habe das Gebirge, den Himmel, die Erde, den Baum und den Bach. Ist das nichts? Ich habe Länder, Flüsse und Meere. Auch nichts? Habe Wüsten und Oasen, Schneefelder und Gärten, Zedern und Palmen, Blumen und Tiere. Noch nicht genug? Schaut hinaus da, ihr Nilbewohner,« er zeigte über die gelben Stoppelfelder, »ist der Blütenwald nicht schön? Die gewellten Taxodiumhügel, Polypenblumen und Tigerschlangen, Akazien, Früchte, Trauben und Papageien in den Zweigen, die wilden Pfauen, Strauße, schwarzen Schwäne, Zebras und herrenlosen Hunde? Meerschwalben blitzen in goldener Morgenluft und schießen vor dem Gewitter ängstlich über den heißen Boden hin; in Säulenhallen liegen die Schlafenden im Schatten; die Bronzeleiber der Badenden überfüllen indische Waschbäder, in ihren lauen Wellen schimmern die Goldtürme der Pagoden; in steiler Schlucht donnert der gedrängte Wassergletscher in Schattentiefen; zerstäubte Flut weht gespenstische Nebel aus dem feuchten Kessel, Silbermöven und Marabus schweben drüber hin und schießen pfeilschnell in den sprühenden Abgrund; entwurzelte Pfefferbäume wirbeln im Strudel und Gischt, jagen fortgerissen aus dem höllischen Schlund und türmen verworrene Barrikaden auf der glitzernden Sandbank; hinter der weißen Stadt geht die Sonne schläfrig unter, der Springbrunnen gluckst in der kühlen Halle des koptischen Kaufmanns; die Flöte singt, tanzende Mädchen entschleiern die schmuckbehängten Glieder, schwarze Sklavinnen, jung wie Blüten, bringen Kaffee und Zigaretten, gezuckerte Rosenblätter und Mandeln – wem, meint ihr wohl, gehört das alles? Alles dem, der es sieht! Alles das gehört mir! Wollt ihr es haben? Ich schenke es euch!«
Mit steigender Verwunderung, die Mäuler aufgerissen, daß jedem ein Heuwagen hineinfahren konnte, hatten sie ihm zugehört. Als er aber anfing, seine geographischen Lesefrüchte auszupacken und mit Papageien, Tigern, Frühling, Tropensonne und anderen bei uns so geschätzten als unbekannten Wundern daherkam, lachten sie und gingen auseinander.
Diese Menschen sind noch nicht reif, dachte Yatsuma, ich habe noch viel zu tun!
Der Wirt drehte sich um: »Und wie lange hast du nichts Warmes gegessen?«
»Wie lange? Es mögen fünf oder sechs Jahre sein.«
»Dann komm 'rein!« sagte der Wirt.
Und gab ihm ein Glas Tropfbier und einen Teller Suppe.