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Ich kenn mich vor lauter Profit nimmer aus!« sagte Benson. Er hatte eine recht schöne Einnahme erzielt und war sehr zufrieden. Nun wollte er zuerst einmal ordentlich essen und dabei nicht sparen, dann ein, zwei Gläschen trinken, aber mit Vernunft, damit auch für die nächsten Tage noch etwas übrigblieb, und um die Kasse zu schonen lieber nichts für das Übernachten ausgeben. Er zog Yatsuma in eine kleine Kneipe in der Belgradstraße, nicht weit von der Pension Fürmann, in der es gelegentlich recht lustig herging.
»Da,« sagte er, als er Yatsuma einen Teller Suppe und kalten Aufschnitt hinschob, »es gibt leider nur mehr Kaviar mit Austern, westfälischen Schinken und Hummermayonnaise!«
Yatsuma, dessen Magen lange Zeit brachgelegen, legte sich keinerlei Zurückhaltung beim Essen auf, doch verwies er Benson gewisse Unarten: »Du sollst nicht so mit der Zunge schlürfen und schlucken, prasseln und zischen,« sagte er, »als ob der Niagarafall in deiner Gurgel wäre!« Denn so duldsam Yatsuma in jeder Beziehung war, aber daß einer sich beim Essen, das an sich schon gegen seine Theorie verstieß, auch noch gehen ließ, konnte ihn recht nervös machen.
»Seien wir froh, mein Lieber,« sagte Benson, »wenn wir etwas zu zischen haben!«
Ob es aber darauf zurückzuführen war, daß Benson in der letzten Zeit, weil er öfter von ihr sprach, wieder mehr an seine Frau dachte, oder ob es ihm nachträglich leid tat, daß Yatsuma die Einladung des sogenannten indischen Gelehrten abgelehnt hatte, oder auf irgendeine allgemeine wehmütige Verfassung, kurz, nach dem zweiten Glas Bier verließ ihn seine gute Stimmung, er wurde schweigsam wie ein Stockfisch. Yatsuma erkundigte sich, was ihm fehle.
»Ich muß an meine Familie denken, den ganzen Tag schon –« sagte er weinerlich. »Es war halt doch die schönste Zeit! Da war mein Bett – da das ihre! Und da war das Kinderbett! Wenn wir in der Früh die Augen aufmachten, dann schauten sie schon alle beide aus ihrem Käfig heraus wie zwei Kanarienvögel!«
Beim vierten, fünften Glas ermannte sich Benson allmählich, nahm von seinen melancholischen Erinnerungen Abschied und schlug langsam ins muntere Gegenteil um. Zuerst bot er Yatsuma die Bruderschaft an.
»Wieso? Haben wir die nicht längst geschlossen?«
Es stellte sich aber heraus, daß Benson die Bruderschaft so meinte, daß er zu Yatsuma künftig Sie, dieser hingegen zu ihm du sagen sollte. »Du bist ein gebildeter Mann,« sagte er, »und was bin ich? Ich bin ein armer Teufel.«
Yatsuma sagte, er fühle sich aufrichtig geehrt, könne den Vorschlag aber in Anbetracht der Innigkeit ihres Verhältnisses nicht annehmen. Wahrhaft gerührt und im Zusammenhang mit der fortschreitenden Zahl von geleerten Gläsern nahm Benson sich vor, seinen Freund nie mehr in seinem Leben zu verlassen. Außerdem wurde er wieder hungrig und bestellte sich noch zwei Paar geräucherte Würste.
»Du schwelgst in den unzulänglichen Genüssen dieser verarmten Welt!« sagte Yatsuma. »Essen und Rauchen, Verliebtheit und Sinnlichkeit, Rausch und Begierde hemmen deine Erkenntniskraft. Du bist der Ausdruck einer ekstatischen Genuß- und Lebensfreude!«
»Well! Wenn es nach mir ginge, ich könnte ewig leben!«
»Und ich verarge es dir nicht,« sagte Yatsuma, »gehörst du doch zu denen, die wissen, daß Hungern eine höhere Vorstellung vom Essen verschafft als Sattsein. Wenn du mein Freund bleibst und dich immer mehr zu vervollkommnen trachtest, dann wirst du ebensowenig vergessen werden wie ich. Auch ich möchte nicht zu denen gezählt werden, die angeblich nur die geistigen Güter schätzen und dies damit beweisen wollen, daß sie die leiblichen und irdischen gering achten. Wer solches von sich sagt, der ist vom Geist weiter entfernt und materieller als ein Ziegelstein. Nicht ein einziges Ding dieser Welt ist nur materiell, mit Ausnahme des seelenlosen Auges, das es so sieht, und alles Überirdische ist nur irdisch, weil es durch den Vergleich mit der Erde erst möglich wird. Darum ist meine Geringschätzung der leiblichen Güter kein Hochmut aus Blindheit, sondern ein Verschmähen aus Ungenügen! Versteh, Benson: nicht aus Aszese verzichte ich, sondern aus Begierde! Was heute ist, ist mir zu wenig und zu nichtswürdig! Da können die, die sich Genießer nennen, einpacken! – Warum hast du mir übrigens immer noch nicht Bleistift und Papier besorgt? Lasse dir doch einfach von einem liebenswürdigen Fürsten, der uns einlädt, ein Schreibzeug zum Geschenk machen!«
Was und wozu wollte er schreiben, der Verächter aller modernen Einrichtungen? Eine seltsame Begeisterung glomm in seinen Augen. Benson aber war allmählich in ein drittes Stimmungsstadium gelangt, ein Gemisch von gesteigerter Ergriffenheit und entschlossenen Übermut.
»Soll ich dir das Totengräberlied vorsingen?« fragte er. »Paß auf – ka – hm – ka – hm – ich habe einen rauhen Hals vom Rauchen –«
Und er hub an prächtig laut zu singen:
»Wenn alle Ste – erne sich noch drehen,
Die Sonne flammt – und –
Wie geht's jetzt gleich weiter? Die Sonne flammt – es ist ja gleich! Ganz egal! Also es heißt dann einfach:
Wenn alle Blü – üten blühen und verwehen,
Fall'n deine Trä – hänen auf mein Grab hinauf!«
Bei dieser Stelle versagte Benson aus Ergriffenheit die Stimme. Er spielte verlegen mit einer Brotkrume und zuckte mit den Augendeckeln.
»Dann heißt es:
Die ganze E – wigkeit sind nur zwei Wochen,
Der ganze Frü – hüling – bumm bumm bumm,
verstehst, das weiß ich nimmer genau –
Die ganze Herr – lichkeit nur Haut und Knochen,
Ein bißchen Fleisch – ein bißchen Geist drum rum.
Ich kann nämlich nur die zweite Strophe. Das Lied hat mindestens seine acht Strophen, wenn's nicht neun sind. Früher hab' ich's ganz genau – warte, wie war jetzt das? Ja: In Knochenstaub und Asche liegen unsre Glieder – Glieder, greif zu, gottverdixt nochamal – ach so ja: greif zu, mein Mädel, morgen liegt mein Totenschädel, und so weiter und so weiter. Es war früher mein Leiblied!«
Da die Kenntnisse seines Leibliedes fragmentarischer Natur waren, beschränkte sich Benson auf die Wiedergabe dessen, was ihm einfiel, wie das die berühmtesten Dichter und Sänger auch nicht anders machen, und sang die halbe erste und die halbe zweite Strophe zu einer ganzen vereint, dafür aber öfter. Und nicht ohne daß ihn bei der gefährlichen Stelle, wo von Tränen und einem Grab die Rede ist, ein Schlucken und Würgen befiel, das keinen Zweifel an der Leidenschaft seiner Beteiligung aufkommen ließ.
Yatsuma, der mit seinen Gedanken irgendwo war, schien diese musikalischen Geräusche nicht unangenehm zu empfinden, wenigstens erhob er keinen Einwand. Dagegen waren andere Gäste, junge Burschen, Bauarbeiter und dergleichen, der Meinung, daß, was zuviel ist, zuviel ist. Sie erklärten, wenn er sein Maul nicht bald halte, dann würfen sie ihn hinaus. Benson, beim vierzehnten Glas und in seinen heiligsten Gefühlen verwundet, griff nach einer Flasche Kognak, die auf dem Tisch stand, um seine Gemütswelt mit ihr zu verteidigen. Yatsuma, ein Unheil voraussehend, kam ihm aber zuvor, nahm die Flasche an sich und von der Unnützheit und Schädlichkeit alkoholischer Getränke überzeugt, ging er, ohne daß jemand viel darauf achtete, vor die Tür und schüttete den Schnaps gemächlich auf das Trottoir. Dem entsetzlichen Lärm in der Wirtschaft nach mußte es aber unterdes doch zu einer Katastrophe gekommen sein. Denn als er hineingehen wollte, flog ihm Benson, stark aus der Nase blutend entgegen, und des nicht genug, entriß ihm einer die leere Flasche und schlug sie auf dem Arm, den er schützend über sich hielt, entzwei. Wie Yatsuma aber immer mehr Glück wie Verstand hat, und das in einem Maße, wie es selten zutrifft, so auch diesmal. Benson hatte die Geistesgegenwart, ihn beim Rock zu fassen und mit fortzureißen, und ohne diese entschlossene und rasche Flucht wäre es ihnen wohl bös ergangen.
Als sie weit genug gerannt waren und endlich wagten stehenzubleiben, um wieder zu Atem zu kommen, nahm Benson eine Hand voll Schnee, den er in die Nase schnaubte, um das Blut zu stillen. Der Vorgang erinnerte Yatsuma daran, daß er unendlich lange nicht mehr geschnupft hatte, doch ließ er der wehmütigen Anwandlung keinen Schwung. Er war sehr klar und besonnen, wenn man das von ihm sagen darf; er hatte es nicht nötig gehabt, sich auch noch zu betrinken, weil er ja ohnehin nicht bei nüchternem Verstande war. Sein rechter Unterarm schmerzte beträchtlich, er war wie abgeschlagen. Mit der linken Hand hielt er ihn fest, als fürchtete er ihn zu verlieren.
»Du siehst, mein lieber Ephorus,« sagte er, »mein Leben ist immer wieder schlimmen Gefahren ausgesetzt!«
Benson stopfte sich eine neue Ladung Schnee in die Nasenlöcher. »Das läßt mich kalt wie ein warmer Leberkäs. Die Hauptsache ist, daß ich die Burschen nach allen Regeln der bildenden Kunst vermörtelt habe! Denen habe ich die Nase verbogen, Junge, Junge! Mich ärgert nur, daß der unappetitliche Höllenbesitzer von dem Ausschank nicht zu uns gehalten hat! Mit dem werde ich noch extra abrechnen! Glaubst, daß ich mir das gefallen lasse! Wie komme ich dazu! Das geht gegen mein Ehrgefühl! All right! Ich bin Australier vom Scheitel bis zur Zehe!«
Er pflanzte sich bedrohlich vor Yatsuma auf. Seine Nase sah aus wie mit Schokoladencreme beschmiert.
»Die Herkunft des Menschen ist unwichtig«, sagte Yatsuma. »Nicht wo er herkommt ist wesentlich, sondern wo er hingeht.«
»Hingeht? Wo sollen wir denn hingehen? Ich habe keinen Stecken Geld mehr! In meinem Magen gurgelt es wie in einer Turbinenanlage. Seit das helle Bier mit Herbstzeitlosen eingebraut wird, schmeckt mir kein Rausch mehr! Jetzt können wir bei Vater Weiß übernachten, gottverdonnertes Kaninchenfutter!«
»Warum fluchen, Benson? Ob der Vater, bei dem du schlafen willst, Weiß oder Schwarz heißt, das bleibt sich gleich. Ich habe ohnehin kein Ruhebedürfnis –«
Benson lachte wie toll, stürzte sich auf seinen Freund, ihn zu umarmen, rempelte ihn halb nieder, hing sich an seinen Hals wie ein Mühlstein und drückte auf seinen verletzten Arm, daß er laut hätte aufschreien mögen:
»Jatschugga – Mazurka – Hallunka – du bist ein lieber Kerl, ein edler Mensch –«, er streichelte ihm die magere, knochige Wange, »du bist – du bist« Er roch stark nach Bier, Yatsuma machte sich sanft von ihm los. »Hast du dir weh getan? Sag' mir's! Wenn sie dir nur ein Haar gekrümmt haben, was, wie? Wer war es, Rittersmann oder Knapp'?« Er trat in Boxerstellung zurück und stieß ihm die Faust unter die Nase, Yatsuma wich noch rechtzeitig aus – »ich werde dich rächen, Majuschka! Den schlage ich drei Meter unter den Erdboden hinein! Nein, ich fluche ja nicht, ich sage nur, der Schlagrahm soll mich treffen, wenn ich den Mann nicht per Nachnahme ins Jenseits befördere – steh auf, Freund, komm, wir wollen uns niederlegen – du mußt nicht immer so hin und her schwanken – da ist eine Bank –,« er fegte den Schnee hinunter, »da her, setz dich daher, da ist es bequemer –«
Sie streckten sich hin; Benson zog den Mantel über sie beide, Yatsuma machte sich so schmal wie möglich. Er fror schrecklich. Seine Haut war auch nicht dicker als die anderer Menschen, eher dünner, und auf jeden Fall sehr dünn bedeckt. Doch gab er keinen Laut von sich. Benson seufzte behaglich. »Nach getaner – Arbeit ist – gut – Rum –« brummelte er ihm in den Nacken und entschnarchte.
Schwere, feuchte Schneeflocken schwebten langsam nieder wie kleine Lichtchen, die das ruhende Dunkel leicht erhellten.
Der japanische Blütenregen ist wunderhübsch, dachte Yatsuma; er erinnert an Deutschland, wenn es im Sommer schneit.
Auf einmal hieß es: »Was machen Sie da? Aufstehn!«
Yatsuma sprang auf, Benson wickelte sich langsam aus dem Mantel.
»Wo wohn' Se?«
»Mir? Mir wohnen in Berg am Laim. Wir haben uns verspätet!«
»Das machd doch nischd! Müßter halt hindippln! Ihr derft doch da nich schlafn, Menschnsginnder! Was sind Sie d'n von Beruf?«
Der Schutzmann schien aus Sachsen zu stammen.
»Ich bin Reisebegleiter!« sagte Benson. »Mein Freund ist Vortragskünstler. Wir reisen nur durch die Luft!«
»Wie machnse das d'n? Hahmse 'n Fluchzeich?«
»Nix. Brauchen wir nicht!«
»Wie wollnsn das d'n machn? Das gann ich mer doch nich vorschdelln, wie eener ohne Fluchzeich dorch die Lufd fliechn gann?«
»Wenn Sie reisen, müssen Sie auch durch die Luft reisen!«
»Ham Sie schon einen gesehen, der im luftleeren Raum reist?«
»Ach so, uff die Art! Nu Dunnerwibbchen, das hädd'ch mir denk'n gönn'! – Nu gähnse 'n Stiggchen weidder, meine Herrn, Sie derf'n sich hier nich uffhald'n!«
»So – alsdann entfernen wir uns! Mahlzeit, Herr Aufsichtsrat, servus! Fröhliche Ostern! Begießen Sie Ihre Frau Gemahlin!«
Yatsuma verbeugte sich stumm. Als Benson, kaum daß sie außer Hörweite waren, über den braven Schutzmann abfällige Bemerkungen machte, verwies er ihm dieses Betragen.
»Der Mann ist ein kaiserlicher oder republikanischer Wächter«, sagte er. »Er versteht unsere Sprache nicht und muß gehorsam die Gesetze des Landes befolgen, dessen Sklave er ist. Wir haben lange genug geruht! Haben wir nicht das Wort müde für immer aus unserem Sprachschatz gestrichen? Muß nicht der Soldat marschieren und hungern, frieren, darben und leiden, und alles nur, um die Menschen töten zu können, und ich, der ich sie zum Leben erwecke, soll dafür nicht leiden und kämpfen, verdammt werden und sterben? Wie ihn, wenn er niederfällt und den drückenden Tornister von den wunden Schultern streift, im gleichen Augenblick das Kommando aufschreckt und zum Weitermarsch stachelt, so reißt uns das Alarmsignal unserer Aufgabe immer wieder aus der Gemächlichkeit zur Tätigkeit! Der Soldat aber bringt den Tod – und wir bringen das Leben!«