Hans Reiser
Yatsuma
Hans Reiser

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LII.
Die tote Stadt

Obwohl Yatsuma immer behauptete, das Aussehen der Örtlichkeiten und ihre Namen interessierten ihn nicht, weil er ja kein Vergnügungsreisender sei, erlag er aber allen Eindrücken stärker als je, seit er sich von der Erde entfernt glaubte. Jetzt nahm ihn alles dermaßen gefangen, daß er über den Anblick der vermeintlichen, noch nie von Menschenaugen erblickten Besonderheiten und Seltsamkeiten nicht nur seine übermächtige Sterbensmüdigkeit vergaß, sondern ebenso leicht das Sterben selbst vergessen hätte, von dem er ohnehin nicht mehr weit entfernt war. Dieses außerordentliche Interesse kann aber bei seiner Geistesverfassung nicht wundernehmen. Schließlich würden auch andere, ganz normale Menschen ihren philosophischen Gleichmut einigermaßen einbüßen, wenn sie sich auf irgendeinem Stern eines x-beliebigen Sonnensystems befänden, oder womöglich überhaupt nirgends.

Er strich durch die Stadt, durch die einzige Stadt, in die er auf seiner ganzen abenteuerlichen Tour je gekommen war (eigentlich war er ja aus Schwabing nie hinausgekommen, die zwei, drei Ausflüge nach Dachau, Kirchseon und Ismaning abgerechnet), und sein treuer Freund, der Hund Erdenmensch, zottelte hinter ihm drein, treu, anhänglich, ergeben und unverscheuchbar, wie schon fast kein Erdenmensch sein kann.

An Entfernungen gemessen war Yatsumas Reiseleistung ja minimal, scheinbar gleich Null. Die bei seinem ewigen Unterwegssein und rastlosen Hin und Her zurückgelegte Strecke war aber während zwei Jahren zu einer stattlichen, ja unglaublichen Weglänge angewachsen. Überlassen wir aber die Berechnung seiner Leistung nach Kilometern den Statistikern und sportlichen Schiedsrichtern.

Es war ein Sonntag und sehr kalt. Eine trockene Spätherbst- oder Frühwinterkälte. Der schneidende Wind biß wütend um die Ecken und in die dünnbestrumpften Damenbeine, schlug wie ein boshaft übermütiger Lausejunge den Herren die Hüte vom Kopf, kehrte Trambahnbillette und weggeworfene Tüten in staubigen Wirbeln zusammen. Vorgestern noch in hellen, leichten, vorteilhaft stoffknappen Sommerkleidchen, kuschten sich die Frauen und manches trotz Puder leicht gerötete Näschen dekorativ frierend in Boas, Krausen und Pelze. Alle Menschen sahen, wenn man sie nicht näher kannte, sehr vornehm und elegant, oder aber zum mindesten sonntäglich aus.

Yatsumas abgebrannte Figur mit dem abgebrannten Rock fiel peinlich auf. Das Publikum hat eine feine Nase für anständige Menschen und fühlt sich sehr unangenehm berührt, wenn ein solcher, noch dazu schlecht angezogen, auf einmal auftaucht.

Viele Tiere kriechen umher! dachte Yatsuma seinerseits. Doch betrachtete er die lebenden Wesen auf den Straßen und die Maschinen, in denen sie sich fortbewegten, nicht einzeln und auffällig, sondern scheinbar ganz unbeteiligt. Zum Außerweltsreisenden, sagte er sich, gehört eine gewisse Zurückhaltung der Augen, wie zum Weltbummler und Globetrotter eine kleine, gerade noch schickliche Dosis Blasiertheit. Dabei war er zum Platzen erregt und interessiert, ließ sich nichts entgehen und empfand alles sehr genau und stark, freilich auf seine Weise. Denn sein Kopf war nur äußerlich wieder einigermaßen in Ordnung. Die Wunden und Schrunden waren verheilt, obgleich mit nichts behandelt, als mit Wind und Regen und, sofern sie schien, ein wenig Sonne, was für den, der sie vertragen kann, die besten und kostenlosesten Arzneimittel sind.

Vor allem bedrückte ihn, daß zwischen den durchlöcherten Lavablöcken und Felsen, wofür er die Häuser hielt, keine Vegetation herrschte. Er sah keinen Baum, keine Wiese, keinen Strauch, keinen noch so dürren Grashalm. Dabei waren aber in der Straße, durch die er ging, tatsächlich einige Bäume, deren Vorhandensein er aber einfach leugnete, nur weil sie nicht in seinen Eindruck paßten. Er sah nur da und dort irgendwo einen armen, nackten Ast herausragen wie einen Knochen aus einem Sargdeckel. Er sah aber auch keinen Käfer in der toten Öde, keinen Vogel, kein Pferd, keine Fliege und keine Maus, nicht einmal Schlangen.

Die Welt ohne Lebewesen! Vielleicht ist alles verbrannt, dachte er. Das Wasser versiegt, die Pflanzen verkohlt, die Luft verweht und nur der tote schwarze Stein übriggeblieben?

Er blickte in die Höhe. Kein Himmel war sichtbar, statt dessen eine niedrige bleigraue Fläche, die wagrecht über ihm stand wie eine Wartesaaldecke. Waren es vielleicht die umschnürenden Ringe des Saturn? Er fürchtete sich nicht, obwohl ihn ein Grauen durchgruselte. Plötzlich hörte er ein beängstigendes Geräusch.

Es war durchaus nichts Besonderes. Man hatte nur angenommen, optimistisch, wie manche Menschen immer noch sind, daß sich das Wetter nachmittags aufhellen werde, und darum spielte in einem Wirtshausgarten an der Straße, wo die Leute Sonntags beim Bier sitzen, seelenruhig eine Musikkapelle. Es klang wohl etwas schrill und mißtönig, dann fuhr ein betäubender Donner dazwischen und begrub wie ein Gewitter alle Schreie der Instrumente, die klagend verschwanden wie Hilferufe von Ertrinkenden. Ein ungetümer Wagen rollte mit eisernem Getöse vorüber, der Steinboden zitterte. Nun bellte das musikartige Geräusch wieder, Trompeten, Tuten, Signale und schneidende Pfiffe heulten. Und an einer niedrigen Mauer, aus der spitzige Eisenstäbe ragten, standen menschenähnliche Wesen wie gebannt oder kamen herbei, von dem vernichtenden Lärm magnetisch angezogen, und blieben hypnotisiert stehen.

Yatsuma fühlte sich sehr einsam. Der Hund drückte sich an ihn, wedelte mit dem Schwanz und wimmerte.

Yatsuma horchte wieder. Musikliebend wie er war, wollte sein Gehör aus den irren Seufzern und schrillen Schreien der Instrumente unbedingt Melodien und Harmonien entwirren. Statt dessen spürte er einen stechenden Schmerz in den Schläfen. Die laut jammernden Töne schienen ihm nun ungeheuer traurig zu sein.

Das war aber durchaus nicht der Fall. Die Kapelle spielte im Gegenteil etwas ganz Fröhliches. Das Potpourri von Müller, glaube ich.

Später, als einigen Musikanten die Trompeten an die Lippen anfroren, zogen sie vor, in den Saal hineinzugehen.

Der Nebelring schnürte sich atembeklemmend zusammen, der Umlauf dieses Gestirnes schien noch kürzer und rascher, sein Tag noch verschrumpfter und finsterer zu sein als der irdische. Seine bleiche Helligkeit war wie ein höhnischer Spuk vorübergehuscht. Es erinnerte ihn an die nordeuropäischen Tage, die untergehen, bevor sie ganz aufgegangen sind: der Himmel schleift schwarz triefend am Boden, der Wind heult wie ein Hund, Erde, Wasser und Luft fließen sumpfig ineinander als ein einziges naßkaltes Element, hinter dem die Sonne wie eine blasse, zerrinnende Mondscheibe erlischt; das ganze Leben ist ein Sarg aus modrig weichen Brettern, in dem man sich zergehen sieht, während man seine Anstrengung verzehnfacht, um das Dasein, man weiß nicht wozu und warum, noch einmal und noch einmal auf sich zu nehmen und zu überwinden.

Betäubt stand Yatsuma da. Noch immer betrachtete er die in Nebel aufgelösten Geschöpfe, die herumschwebten, lehnten, gingen. Er wollte tiefer in die rätselhaften Wesen eindringen. Graue Kälte lag auf ihren phantastischen Figuren, eisige Fremdheit riegelte sie voneinander ab. Sie hatten keine Köpfe. Merkwürdig.

Ich will trotzdem versuchen mit einem zu sprechen, dachte er.

Da stand ein Fräulein. Ohne Hut, in hautfarbenen Strümpfen und kokett kurzem Mantel. Wohl ein Dienstmädchen.

Yatsuma verbeugte sich: »Bona sera! Excuse me, gestatten Sie eine Frage . . .«

Das Mädchen drehte sich entrüstet um, ihrer Freundin zu, lachte und hing sich an ihren Arm. Das Lachen kam nicht von oben, wo bei Menschen der Kopf ist, sondern aus der Bauchgegend. Gemeinsam schlenderten sie hinweg.

Nein, sie konnten nicht reden. Sie huschten schattengrau und wesenlos hin und her und vorüber.

Vielleicht sind es Tote? sagte sich Yatsuma. Ähnlich wie die Menschen der Erde, die auch aussehen wie Lebende . . .

Das Trottoir war staubig trocken, die dunkle Luft rötete sich leise. Plötzlich glühte die schwarze Nebellast wie Blut. Ein kalter Regen fiel, die Tropfen schlugen kleine, kraterartige Löcher in den Staub, der Wind erhob sich schleppend und flatternd wie ein großes, unsichtbares Tuch, trug ein Lachen von irgendwo her, das Yatsuma gräßlich in die Ohren klang.

Es war weiter nichts gewesen, ein Geschäftsmann hatte sich von einem Zwischenhändler verabschiedet und dabei einen Scherz gemacht, über den sie lachen mußten.

Daß Yatsuma alles so übertrieben, anormal und verkehrt empfinden muß. Böse Empfindungen lasteten in ihm, Ängste und Bedrückungen, wie er sie noch nie erlebt hatte. Wie und wo sollte er sich vor den Schatten, den giftigen Dämpfen, Gaswolken, dem Rauch und Leichengeruch, der ihn umgeisterte, in Sicherheit bringen? Er war rettungslos verloren, nirgends ein Ausweg.

Nein, sagte er sich nach diesem ersten Impuls, nicht feige sein! Ausharren! Nicht von der Stelle weichen!

Und mit diesen Worten gewann er langsam seine alte Zuversicht wieder: der Gedanke, welche Aufgaben ihn in diese unheimliche Welt des Unheils geführt hatten, war ungemein erwärmend, trostreich und versöhnend. Gewaltige Taten und ungeahnte Möglichkeiten lagen noch verhüllt vor ihm! Ihm konnte das Leben, das nie endende, nichts bringen, als immer wieder verlockende, unüberwindliche Schwierigkeiten und beglückende Erfüllungen!

Noch einmal blickte er um sich, furchtlos, frei. Sterne, Strahlen, schimmernde Lichtkugeln hingen in der Finsternis, und neben ihm war eine dicke, runde Säule mit farbigen Flecken und großen Buchstaben aus dem Boden gewachsen. Er las:

 

! Der Mensch !
9 Bayerstraße 9
Sein Entstehen und Vergehen.
Nächst dem Mathäserbräu,
früher Restaur. Habsburg.
Nur für Erwachsene über 18 Jahre.

 

Man hatte also sogar hier vom Menschen Kunde und interessierte sich für ihn! Mißtrauisch betrachtete Yatsuma den Hund neben sich. Vielleicht war er einer der Menschen, die sich durch Schaustellungen ihrer selbst ihren Lebensunterhalt verdienen?

Der Hund zitterte, ihn fror.

Yatsuma aber beruhigte sich: nach den Erfahrungen, sagte er, die ich gemacht habe, kann mich nichts mehr wundern; kann mich nichts mehr überraschen; kann mir nichts mehr geschehen.

Er ging durch einen offen stehenden Eisenzaun, kam in einen niedrigen, dunklen Durchgang. An der Seite lag ein Haufen kleiner Kohlen aus einer eisernen Öffnung geschüttet. Hinter dem Kohlenhaufen war es windstill. Er kauerte sich nieder, der Hund legte sich vor seine Beine. Über der gemauerten Wölbung, die leise vibrierte, brummte dumpf gleitendes Stampfen. Es waren die Maschinen der Brauerei.

*

Mendone besuchte einige Patienten und Gluth saß zu Hause und malte. Er hatte einen zerbrochenen Keilrahmen in den Ofen gesteckt, aber es wärmte natürlich nicht, bald wurden ihm die Finger auch bei den wärmsten Tönen, die er auf die Leinwand setzte, steif wie Wäscheklammern. Er tat das Handwerkzeug weg, legte sich auf das ungemachte Bett und las ein paar Seiten in Gogols »Die toten Seelen«, das einzige Buch, das er besaß; bis das Zwielicht wie rinnender Kohlenstaub durch die trüben Scheiben sickerte.

Ärzte haben keinen Sonntag und Künstlern ist er unsympathisch. Sie machen sich ihren Sonntag, wenn ausnahmsweise die Sonne scheint.

 


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