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Das Stammpublikum der Gastwirtschaft zum Occamgarten bestand, alles in allem, aus wenig mehr als zwei Dutzend Leuten, Frauen und Kinder eingerechnet. Desungeachtet ging es, war auch nur ein Drittel der gesamten Gäste anwesend, in ihr meist bewegter zu als in einer Fünfuhrnachmittagstanzdiele. Mitten unter der Woche, am hellen Vormittag oft schon konnte der Vorbeigehende einen dröhnenden Chor nicht sehr musikalischer aber desto kräftigerer Sänger vernehmen, der den aufheiternden Eindruck hinterließ, daß es in diesen harten, arbeitsreichen Zeiten auch unter dem armen Volke immer noch manchen gesunden, fröhlichen Mann zu geben scheint, der über viel Zeit und Sorglosigkeit verfügen muß. Wie gesagt, sehr zahlreich war die Schar derer nicht, die das düstere Weltbild unserer Tage auf ihre Weise angenehm retuschierten, doch besaßen sie ein Gemeinsames in ihrem Bedürfnis, möglichst oft und, wenn schon denn schon, dann auch sehr laut und ungehemmt lustig zu sein. Da war der schwere, riesige, pensionierte, gichtische Bittlinger, der morgens neun, halb zehn zum erstenmal, auf seinen Stock gestützt, aus dem Hinterhause herbeitappte, sich einen Schluck heimzuholen, wenn er sich nicht, weil er vom vielen Gehen kein Freund war, ein wenig niedersetzte, nur einen Augenblick, und dann den ganzen Tag sitzenblieb. Gesellschaft leisteten ihm, wenn nicht die Wirtin und ihr buckliger Sohn Sepp allein da waren, mindestens ein, zwei Kameraden. Entweder war der Götz-Seppe da, Yatsumas Jugendfreund, seines Zeichens Kesselschmied, der die blauen Montage noch nie woanders verbracht hat als im Occamgarten, oder der Furtner-Wigge, oder der Maurer Daubner. Der Furtner war Matrose gewesen, jetzt ist er Fuhrmann in einem Möbeltransportgeschäft, das seine Wagen in der Nähe einstellt, so daß er nicht weit her hat. Oder es kam noch der Huberbauer. Von dem ist nichts zu sagen, als daß er eben der Huberbauer war und damit einer der letzten Bauern von Schwabing, wenn nicht der letzte schlechthin. Man nennt zwar auch die übrigen Schwabinger Eingeborenen mitunter Bauernhammel, aber damit meint man heute nicht mehr, daß sie sich landwirtschaftlich betätigen, sondern das bezieht sich nur auf ihren Charakter und höchstens noch auf ihre Abstammung. Einer oder zwei also waren immer anzutreffen. Der Kassier Engelbrecht, scherzhaft der prächtige Engel genannt, auch eine wichtige Persönlichkeit dieses Kreises (er hat ein Projekt entworfen, wie der Occamgarten umgebaut werden soll, und zwar im Schweizerstil) erschien erst abends, aber mit unverwüstlicher Pünktlichkeit auf der Bildfläche. Wirt gab es keinen, dafür aber und vielleicht sogar darum, sang und lachte die Wirtin leidenschaftlich gern und immer. Sie nannten sie Lauchtaube, doch durfte man auch Nachthaube sagen. Sie, samt ihren Stammgästen, die der einzige Grund und Anlaß waren, daß die Schwabinger Brauerei von Zeit zu Zeit noch ein nicht allzugroßes Faß Bier vor dem Hause ablud, stammten aus einer in die Versenkung gerutschten Zeit, in der die Menschen die Erfüllung des Daseins in erster Linie noch darin sahen, sich auszulachen, gegenseitig und überhaupt. Kamen die alten Brüder zusammen, so waren sie, wenn es auch nicht jedesmal eine Theatervorstellung gab, doch jederzeit aufgelegt, eine zu veranstalten. Manchen Unsinn hatten sie getrieben, von dem sie, wie von den mageren Zinsen eines entwerteten Kapitals, noch Jahre nachher zehrten, manches Haberfeldtreiben, Fastnachts- und Schabernackspiel sich selbst zum besten gegeben, und taten es, wie wir im späteren Verfolg der Schicksale Yatsumas sehen werden, noch immer.
Es hat früher mehr dergleichen Gasthäuser gegeben. Wer ständig in einem verkehrte oder einmal zufällig in eines hineinverschlagen wurde, hat es nicht bereut, sofern er es liebte, zu einer harmlosen, aber darum nicht unwitzigen Lustigkeit sein Zwerchfell hüpfen zu lassen. Sie sind selten geworden, diese lauten Stätten, und wo noch eine schlecht und recht existiert, manchmal recht verlassen. Das Vergnügen der Welt sucht sich andere Schauplätze.
Wir besuchen den Occamgarten in einem solchen etwas öden Augenblick. Die Wirtin sitzt und strickt. Daß der alte Bittlinger da ist, ist selbstverständlich. Aber weil es Montag ist, wird der Götz nicht lange auf sich warten lassen. Es ist so still, daß man sozusagen die leeren, wunderschön sauber gescheuerten Tische über die Vergangenheit nachdenken hört, während die ungewisse Zukunft vormittäglich hell und grau zum Fenster hereinschaut. Die Wirtschaft kann sich nicht mehr lange halten, sie wird eingehen, der Raum anderweitig vermietet, das Haus verkauft werden, abgebrochen, oder was weiß ich. Man sagt es nicht laut. Und darum ist es manchmal so still.
Die Wirtin legt ihren Strickstrumpf weg und zieht das Grammophon auf.
»Ich muß ein wenig Musik machen, das ist ja die reinste Grabesruhe!«
Eine halbe Stunde später ging es schon etwas lebhafter zu, obwohl die Zahl der Gäste erst auf vier angeschwollen war. Aber die Unterhaltung wurde so wichtig und laut, daß die Wirtin die Kratzmaschine abstellte, weil man doch nichts mehr davon hörte.
Götz, noch der ruhigste von allen, hatte, nicht zum erstenmal, erzählt, wie er an dem Tag, da Deschl-Yatsuma davongelaufen war, an seinem Häuschen vorbeigegangen war und, als er nachsah, den Schlüssel an der Werkstattür hatte stecken sehen. Und der Maurer Daubner gab auch zum wiederholtenmal seine Begegnung mit ihm an dem gleichen Tage zum besten.
»Ich sag Servus, grüß di Gott, Tanzbär, sag' ich, und er geht vorbei, geht vorbei, schaut nicht nach links, schaut nicht nach rechts. Ich hab's euch schon hundertmal erzählt, ich weiß nicht, wie mir der Mensch vorgekommen ist!«
»Das wissen wir ja schon lang. Immer kommt er wieder mit dem alten Schmarrn daher –« Es war der Furtner, der ihm so das Wort abschnitt. »Wenn ich euch doch sag', ich hab' etwas Neues von ihm! Das habe ich euch doch schon gesagt, daß ich vorige Woche in der Dachauerstraß' –«
Übrigens wurde die Unterhaltung, von der ich nur einen kleinen Teil wiedergebe, im echtesten, Altschwabinger Dialekt geführt, der unreproduzierbar ist. Selbst wenn es möglich wäre, diese altmodische Unterhaltungsweise originalgetreu wiederzugeben, hätte es keinen Wert – es könnte nämlich sein, daß sich die Teilnehmer dann selbst nicht mehr verstünden.
»Ich habe also,« fuhr Götz fort, »den Schlüssel abgezogen und ihn vorläufig einmal behalten. Wenn einer was will, kann er zu mir kommen. Den Schlüssel stecken lassen, weißt, das ist schon allerhand! Wenn ich nicht zufällig vorbeigehe und, denk' ich mir, mußt doch einmal nachschauen – wenn ich eine Stunde später komme, ist die ganze Hütte auf Putz und Stingel ausgeräumt!«
»Ein närrischer Kerl ist er schon, ein närrischer! So was ist auch nur in Schwabing möglich!«
»Also neulich in der Dachauerstraß' –«
»Die Krämerin da, die alte Kaleschn, beschwert sich schon, weil das Hans leer steht! Bei der Wohnungsnot, sagt's, kann man das nicht dulden!«
»Was dulden!« fuhr Götz auf, »die soll zu mir kommen! Der werd' ich schon was sagen! Ich hab doch seinerzeit die Verhandlung mit dem Baumeister Stöckl übernommen wegen dem Hausverkauf! Das wär' doch ganz nett gewesen, wenn er ein paar tausend Mark bekommen hätte, und für die Kinder wär' auch was abgefallen!«
»Menschenskind, dem fehlt schon mehr als eine Schraube! Wenn einer einmal spinnt, dann spinnt er einfach!«
Das ließ sich Götz nicht gefallen. »Wenn nur du nicht spinnst! Das mußt du dir merken: wenn es von einem heißt, der ist recht gescheit, und die andern sagen wieder: der ist nicht recht gescheit, dann kannst du dich darauf verlassen, daß das kein Dummer ist!«
»Es handelt sich um ganz was anderes, was willst denn! Ob er dumm ist oder gescheit – spinnen kann er deswegen genau so gut! Wenn einer das Hofbräuhaus für den babylonischen Turm anschaut, dann wirst du doch nicht behaupten wollen, daß der noch einen normalen Verstand hat!«
»Du hast auch einen normalen Verstand, und doch hast neulich in deinem Suff einen Gummischlauch für eine Hartwurst angeschaut!«
»Der babylonische Turm kann sich überhaupt heimgeigen lassen! So viele Sachsen, wie im Hofbräuhaus sitzen, hat's ja damals noch gar nicht gegeben!«
Furtner versuchte wieder sein Erlebnis von der Dachauerstraße einzuflechten, aber der Lärm und das Gelächter waren so laut, daß er nicht zu Worte kam.
»Ein spinneter Kerl! Einen falschen Namen hat er sich zugelegt, das war das Allerdümmste!«
»Das ist ja ein Künstlername, das verstehst du nicht!«
»Was hat er denn davon? Ist es jetzt vielleicht besser? Wir haben ja auch nix, aber wir lassen uns doch wenigstens nicht einsperren!«
»Wenn ich sag': ich geh' vorige Woche durch die Dachauerstraß', wer kommt daher?«
»Aber er braucht wenigstens nicht zu arbeiten, das ist auch was wert!«
»Mir wär's genügend, nix zu essen, die ganze Zeit bei dem Sauwetter 'rumsausen! Ich möcht' nur wissen, warum der Kerl andauernd in der Welt umeinandertanzen muß –«
»Er kann sich nirgends hineinfinden!«
»Der hat schon recht!«
»In der Dachauerstraß' kommt ein Schutzmann daher –«
»Der Doktor Meloni von der Keferstraß', den kennst doch, mit seinem schwarzen Vollbart, der hat gesagt –«
»Geh weiter, was versteht denn der!«
»Heiliger Bimbam!«, der Furtner hieb auf den Tisch, »jetzt wird's mir bald zu dumm! Ich werd' doch auch noch ein Wort reden dürfen, Chinesenhäuptling, verdammter!«
»Red' halt!« sagte der Bittlinger. »Hat ja kein Mensch was gesagt! Das wissen wir ja so, daß er in der Dachauerstraß' verhaftet worden is, was willst denn da mit deinem alten Räuberroman, du Kamel . . . haardeckenhändler!«
»Nein, das will ich ja gar nicht sagen! Ich will euch ja nur erzählen, wie er neulich im Möbelwagen drin gelegen ist!«
»Ja, wo! Also, wir haben einen Umzug gehabt in der Kurfürstenstraß'. Ich hol' in der Früh' meinen Wagen vom Lagerplatz, fahr' hin, und wir laden da ein. Sechszimmerwohnung, Regierungsrat, weiß nicht mehr, wie er gleich wieder heißt, na, is ja gleich. Sag' ich: den großen Spiegel legen wir unten hinein, in die Schaukel unterm Wagen, verstehst. Gut, schön, ich bück' mich, und wer liegt drin? Und schnarcht wie ein Magistratsbeamter? Er!«
»Der Tanzbär?«
»Sag' ich, steh auf, Schorsch, sag' ich, Zeit zum Mittagmachen! Er schaut mich an wie ein Farbenblinder, kennt mich nicht, macht eine Mordsverbeugung und geht!«
»Ein überspannter Hund! Der kommt noch ins Narrenhaus!«
»Er war doch ein feiner Kerl!« sagte Götz, mehr zu sich selbst. »Ich hab' ihn gern gehabt –«
»Den sollten wir einmal dahaben, mein Lieber, das gäb' eine Viecherei!«
»Hört doch einmal mit eurem dummen Geschwätz da auf,« kam die Wirtin an den Tisch, »singt lieber eins!«
»Ich mag ihn gern,« wiederholte Götz, »da könnt ihr sagen, was ihr wollt!«
In der Pause, die seinen Worten folgte, stimmte die Wirtin, die Gelegenheit benützend, in ihrer ganz guten, hellen Stimme an:
»Ich weiß ein Herz, für das ich bete –«
und dann das nicht minder schöne Lied: »Du, du, nur du allein, du sollst der Gott meiner Träume sein!« Aber, als wären mit diesen zwar sehr schönen Poesien die Tiefen ihrer Empfindungen noch nicht restlos ausgeschöpft, sang sie noch das Lieblingslied ihrer Mutter: »Nicht weit von Württemberg und Baden, da liegt das schöne Land, die Schweiz –«, und nun fielen auch die Männer ein, die die Schweiz ruhig schön finden mögen, weil sie noch nie dagewesen sind und auch Hamsun nicht gelesen haben, ihre etwas rauheren Stimmen fanden sich allmählich, nicht sehr viel harmonischer als vorher im Meinungsstreit, aber es kam doch wenigstens jeder gleichzeitig und ungehindert zu Worte.