Hans Reiser
Yatsuma
Hans Reiser

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LVI.
Er kehrt auf die Erde zurück

Trotz des glücklichen Ausganges des Prozesses nahmen Mendones Besorgungen und Laufereien einen mehr und mehr unheimlichen Umfang an. Das ist immer so. Wenn man sich einmal mit Besorgungen einläßt, dann werden sie immer mehr. Wir wollen darum nur das Notwendigste davon berichten.

Durch Götz wurde Mendone zum Baumeister Stöckl in der Hohenzollernstraße verwiesen, der ja schon einmal über den Ankauf des Häuschens verhandelt hatte.

Ein kleiner, dicker Mann, gesund und rot, das schwarze Haar gekräuselt in die Stirn frisiert, empfing ihn.

»Was verschafft mir die Ehre, Herr Doktor?«

»Sie kennen doch das Deschlanwesen an der Occamstraße, bei den Sieben Schwaben?«

»Kenn' ich, gewiß, ja, das kenn' ich!«

»Wie ich gehört habe, interessieren Sie sich für das Grundstück. Es soll verkauft werden.«

»So, so! Ja, mei, interessieren, ja, ja ich hab' mich allerdings, früher halt, früher einmal interessiert. Aber er hat ja die alte Hüttn nicht hergeben wollen, ned? No ja, dann hab' ich mich natürli nimmer interessiert dafür, ned? Es hat mi dann weiter gar nimmer interessiert, ned?«

»Und augenblicklich?« fragte der Doktor kurz.

»Augenblicklich? Ja, mei, es kommt halt darauf an, wie er's hergibt. Ich müßt mich halt erst einmal erkundigen bei der Terrain-Aktien-Gesellschaft. Einmal erkundigen, wissen's! Vielleicht, man kann ja nicht wissen, ned wahr, wenn er's preiswert hergibt, warum nicht? Das Grundstück ist ja klein, sehr klein! Klein ist es schon! Es ist eben ein kleines Grundstück, was will man da machen? Wie gesagt –«

Die Herumdrückerei belustigte Mendone.

»Es ist nicht groß,« sagte er, »aber die Lage ist gut. Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Architekt: ich bin bevollmächtigt, das Anwesen zu verkaufen. Ich habe die Absicht, es so gut zu verkaufen, als nur möglich. Warum? Weil der Erlös nicht mir gehört, sondern dem Besitzer. Der Mann ist ein armer Teufel, der vier Kinder hat.«

Mendone war es nicht darum zu tun, hundert Mark mehr zu erzielen, wohl aber darum, ein allzugeringes Angebot, wie es von dem Häuserschacherer zu erwarten war, von vornherein abzuweisen.

Acht Tage später, nachdem der Baumeister mit seiner Immobiliengesellschaft »Rücksprache gehalten«, wie er sich ausdrückte, kam nicht ohne einige umständliche Sitzungen und Satzungen der Verkauf zustande. Es war nur für die Gesellschaft ein Geschäft, aber Mendone war zufrieden, daß es hinter ihm lag. Der Kauf seines eigenen Hauses war unterdes auch abgeschlossen worden, zwei wichtige Tage rückten näher und näher: der Tag der Gerichtsverhandlung gegen Yatsuma und der Tag der Hochzeit, beide nur durch einen einzigen Tag voneinander getrennt. Mendone war selbst nicht ganz im klaren, welches von den beiden Ereignissen nun eigentlich das wichtigere war. Jedenfalls machten ihm beide gleich viel zu schaffen, und er tröstete sich vorläufig mit dem Spruch: eines nach dem anderen. Da ihm Gluth, der sich übrigens lange nicht mehr hatte blicken lassen, nicht verlässig genug war, hatte er mit Götz vereinbart, daß Yatsuma nach seiner Entlassung einige Zeit, voraussichtlich nur wenige Tage, bei ihm wohnen sollte. Götz war Junggeselle und augenblicklich ohne Arbeit, so daß es sich bei ihm vortrefflich machen ließ.

»Ihr Kamerad Deschl,« sagte er am Morgen des Verhandlungstages zu ihm, »wir nennen ihn Herr von Landen, ist ein außergewöhnlicher Mensch. Ich habe ihn sehr gern. Lassen Sie sich nicht irremachen, wenn andere Leute etwas anderes sagen, ich bin Arzt und verstehe das besser. Er ist mein Freund!«

»Jawohl!«

Götz, elefantisch groß, mit gutmütigen, wasserhellen Augen und blondem Kahlkopf, der aussah wie ein Riesenkürbis, stand da wie ein kleiner Junge und sagte andauernd jawohl.

»Man muß eben auf seine Art ein wenig eingehen. Wenn Sie ihn manchmal nicht verstehen können, so betrachten Sie ihn einfach als Patient, wie ich es auch mache. Ich werde Ihnen einen Vorschuß für Ihre Unkosten und Auslagen geben –«

»Nicht notwendig!« beteuerte Götz, der keinen Pfennig in der Tasche hatte, diesen Einwand aber für höflich und ungefährlich hielt.

»Und Sie sagen mir dann, was Sie noch brauchen für Kleidungsstücke und so weiter. Nach der Information meines Anwaltes darf ich annehmen, daß er freigesprochen wird. In acht Tagen denke ich dann soweit zu sein, daß ich ihn anderweitig unterbringen kann –«

»Jawohl!«

»Ich muß mich natürlich auf Sie verlassen können. Ich habe ihn schon einmal der Obhut eines Freundes von mir anvertraut, der ihn davonlaufen ließ. Diese Unvorsichtigkeit hätte dem Deschl beinahe das Leben gekostet. Wollen Sie ihn vielleicht auch durchbrennen lassen?«

»Jawohl!«

»Hoffentlich nicht. Also, setzen Sie Ihren Hut auf, Herr Götz, wir müssen gehen, damit wir nicht zu spät kommen.«

»Jawohl!«

Die Verhandlung, zu der Mendone als Zeuge geladen war, dauerte keine Viertelstunde und verlief wie erwartet. Beide Anklagepunkte: Landstreicherei und Aufwiegelung durch unerlaubte Abhaltung politischer Reden, wurden auf Grund der medizinischen Begutachtung Dr. Mendones fallengelassen. Dank der von ihm außerdem abgegebenen Erklärung, daß er sich für die Unterbringung des Deschl in einer Privatklinik zu sorgen verpflichte, wurde auch der Antrag auf Überweisung in eine staatliche Heilanstalt zurückgezogen.

Er führte ihn hinaus, Götz kam ihnen entgegen.

»Darf ich bekannt machen,« sagte der Doktor förmlich, »Herr Götz – Herr von Landen!«

Yatsuma verbeugte sich, als gälte es, einen brahmanischen Priester zu begrüßen. Auf der Treppe des Justizpalastes blieb er öfters stehen und schaute sich verwundert um. Als sie aber ins Freie traten, ging es ihm wie einem Reisenden, der nach langer erwartungsvoller Fahrt endlich am Ziel, dem schönsten Punkt seiner Reise anlangt, vor dem er ergriffen steht und vor Staunen ganz stumm und starr wird: da war er also wirklich und wahrhaftig wieder auf der Erde, diesem alten und doch jungen, diesem unglücklichen, vielgeschmähten und von ihm verschmähten und doch schönsten, vom Licht verheißungsvoller Zukunft hoffnungsreich erleuchteten Stück Welt! Augenblicklich war es zwar nicht sehr schön, ein unfreundlicher, naßkalter Wind pfiff über den Platz, und Mendone spähte nach einem Wagen. Aber solche Äußerlichkeiten berührten Yatsuma nicht. Er fühlte sich, des Gehens seit längerer Zeit entwöhnt, merkwürdig unsicher auf den Beinen, nicht aus Müdigkeit, sondern er tappte immer zu kurz, als läge der Boden zwanzig Zentimeter über dem Pflaster, er konnte sich an die irdischen Luftdruckverhältnisse noch nicht wieder gewöhnen. Die langentbehrte, frische, starke Luft, die er deutlich roch, betäubte ihn, er spürte nicht nur den Rausch des aus dem Gefängnis Entlassenen, sondern es berührte ihn alles so unsagbar und überwältigend wie einen, der noch nie auf Erden war, sondern eben erst geboren und im Alter von zweiundvierzig Jahren in einer ganz fremden, merkwürdigen Ortschaft mitten auf die Straße hingestellt wurde. Dabei war nur dieses sein Gefühl das Fremde und Befremdete, die Örtlichkeit und Umgebung aber etwas ungemein Vertrautes, und auch seine beiden Begleiter muteten ihn an wie alte Freunde. Nicht, daß er sie erkannt hätte, aber er sagte sich erschüttert, daß es immerhin ein großes und unfaßbares Ereignis sei, einmal wieder echte Menschen vor sich zu haben. Was sie, jeder auf seine Art, ja auch waren.

Ich gestehe, daß ich es nicht für ein beneidenswertes Los ansehen kann, wenn jemand so veranlagt ist, daß er auch bei den allergeringfügigsten Anlässen so tolle, schreckliche Empfindungen erleben muß wie Yatsuma. Wenn es allen Narren so ergeht, dann ist es hundertmal bequemer und begehrenswerter, ein bescheidener Normalmensch mit einem regelmäßigen Monatsgehalt zu sein, als ein noch so geistreicher Närrischer.

Vielleicht war aber die bedeutendste Ursache von Yatsumas Erschütterung die, daß er die Erde jetzt mit Augen sah, die fast nichts mehr an ihr auszusetzen fanden. Sie ist so vollkommen, dachte er, als sie sein kann. Fehlt also nur noch, daß sie so vollkommen sei, wie sie sein soll! Und während sie alle drei in die Droschke stiegen, beschäftigte ihn aufs brennendste die Überlegung, wie er, ohne einen Stillstand erleiden zu müssen, seine Mission fernerhin fortführen werde.

Es war nämlich eine Droschke herangeholpert, bei deren Anblick Mendone der Einfall kam, diesem zum Tode verurteilten Gewerbe auch einmal eine kleine Unterstützung zuteil werden zu lassen, denn es war in der Tat schon mehr ein Almosen als ein Preis, was man für eine Fahrt in diesem musealen Gefährt entrichtete. Außerdem hatte es ein aufgeschlagenes Dach wie ein großer Kinderwagen, und auch dieser Gedanke gefiel ihm, abgesehen davon, daß es regnete; es war ihm dabei eingefallen, daß sie eigentlich alle drei rechte Kinder waren. Und so stieg man ein.

Vorher gab es noch einen kleinen Zwischenfall.

Gleich, als die drei Männer aus dem Justizgebäude gekommen waren, war ihnen ein großer, schäbiger, braungefleckter Hund entgegengesprungen, der unter grauenhaftem Geheul und Gewinsel an Yatsuma hinauf und um ihn herumhüpfte wie verrückt.

»Was ist denn das für ein räudiger Köter?« fragte Mendone. Er konnte sich nicht entsinnen, Yatsuma je mit einem Hund gesehen zu haben. »Kennen Sie das Tier?«

Yatsuma schaute den Hund forschend an.

»Eine Art Puma oder dergleichen!« meinte er dann.

Götz mußte lachen.

Der Hund konnte nicht reden. Sonst hätte er es schon längst getan und vernünftiger als Yatsuma, schon damals, als man seinen Herrn in einen Wagen geladen und ihn in Nacht und Nebel hinterher hatte laufen lassen, immer dem davonjagenden Licht nach. Und er hätte noch hinzugefügt, daß er sich dank seiner guten Nase die ganzen Wochen seitdem immer in nächster Nähe seines Herrn aufgehalten, obwohl man ihn oft genug verscheucht und vertrieben, und obgleich er während der ganzen Zeit noch keine drei abgenagten Knochen gefunden hatte. Das alles, samt den näheren Umständen und Ereignissen konnte der Hund nicht anders sagen als durch sein erbärmliches Gewinsel. Doch ließ er es sich nicht nehmen, mit in die Droschke zu springen, und war nicht zu bewegen, wieder herauszukommen.

»In Gottes Namen,« sagte der Doktor, »nehmen wir ihn halt mit, wenn er es nicht anders will. Wer so ein armes Vieh fortjagen kann, der ist selbst ein noch ärmeres Vieh. – Ein herrenloser Hund, man muß ihn auf der Polizei anmelden!«

»Jawohl!« sagte Götz. Später dachte er daran, daß man ihn eigentlich, das heißt, wenn sich niemand meldete, auch behalten könnte.

Die drei Männer schwiegen, jeder in seine Gedanken versunken.

»Wenn er gefüttert und gepflegt wird,« sagte Götz auf einmal, man war schon unterhalb des Siegestores, »dann wird er ein ganz schöner Bursche!«

»Wie?« fuhr der Doktor auf. »Ach, so – der Hund –«

Wieder schwiegen sie. Jeder schien mit wichtigen Gedanken beschäftigt zu sein.

Der Wagen hielt, Mendone verabschiedete sich.

»Herr Götz, ich hoffe, daß ich mich auf Sie verlassen kann! Sie sind mir verantwortlich, nicht wahr!«

»Jawohl, Herr Doktor, gewiß, da gibt es nichts!«

»Ich werde morgen nachsehen kommen, wie es Euch geht. Und wenn ich keine Zeit haben sollte, weil ich noch sehr viel besorgen muß, dann kommen Sie zu mir herüber, ich bin ja ganz in der Nähe!«

»Jawohl!« –

 


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