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Yatsuma war festgenommen und eingesperrt worden, ich weiß nicht mehr genau, war es der Prügel wegen, die er bekommen hatte, oder warum sonst, aber das ist ja auch Nebensache. Die Hauptsache ist, daß es wahr ist. So wenig meine Leser, ich und andere normale Menschen Sehnsucht haben, mit dem Gefängnis Bekanntschaft zu machen – obwohl kein Sterblicher von sich sagen kann, daß er ganz sicher ist, nicht eingesperrt zu werden; die Gefängnisse sind nun einmal zum Einsperren da, und es würde, müßten sie leer stehen, eine ganze Menge braver Menschen brotlos werden –, aber für Yatsuma war diese Einrichtung eine wahre Wohltat. Denn wenn es Menschen gibt, deren Leben noch elender, härter und aufreibender ist als ein Aufenthalt hinter Mauern, Schlössern und Riegeln, so gehört er in erster Linie zu diesen Armen. Befand er sich aber in Haft oder Polizeigewahrsam, dann hatte er endlich und wirklich einmal Gelegenheit zur Ruhe und Rast, bekam sein regelmäßiges Essen und erholte sich in solchen Perioden nach einiger Zeit immer ganz gut. Seine ganze Reise hätte keine vierzehn Tage gedauert, hätte er nicht auf solche Weise wenigstens hin und wieder Gelegenheit gefunden, einmal ordentlich auszuschlafen.
Es war in der Mandschurei, in einem Dorfe zwischen Tsitsikar und Charbin, um es genau zu sagen. Yatsuma war zu mehreren anderen Gefangenen in eine Art Löß- oder Lehmgrube geworfen worden. Wenn es nicht ein Schulhaus, ein Museum oder eine Kirche gewesen ist, welche Gebäude, wenn die regulären Gefängnisse überfüllt sind, dort zu solchen und ähnlichen Zwecken nicht selten herangezogen werden. Jedenfalls war es ziemlich finster.
Leider war aber auch diesmal seine Gefangenschaft nur von kurzer Dauer. Aufrührerische Volksteile durchstreiften das Land und öffneten gewaltsam die Gefängnisse, und auch um das dunkle Loch, in dem sich Yatsuma befand, tobten die Kämpfe der Aufständischen, um die Gefangenen zu befreien. Bei dem Lärm und Tumult, der immer näher und deutlicher durch die dicken, feuchten Wände hörbar wurde, bemächtigte sich der Häftlinge eine mehr als lebhafte Unruhe und Aufregung. Sie freuten sich der nahenden Freiheit, hüpften wie besessen in dem engen Raum umher, umarmten sich, sangen, tanzten, lärmten und traten sich gegenseitig auf die Hühneraugen.
Nur einer, ein alter Mann, saß gleichgültig und ruhig da wie ein Aufseher in einer Kinderbewahranstalt. Seinen Gleichmut brachte der bevorstehende Wechsel des Schicksals nicht ins Wanken.
Auch Yatsuma machte sich nicht viel daraus. Er hätte recht gern noch wenigstens einen Tag oder zwei mitgenommen. Er erklärte darum, soweit er sich in dem Tohuwabohu verständlich machen konnte, daß es ihn unberührt lasse, ob die Tore des Gefängnisses verschlossen seien oder gesprengt würden. Er werde, nachdem er einmal Gefangener sei, es auch bleiben, und den Ort, an dem er sich befinde, aus eigenem Antrieb nicht verlassen.
Der Alte nickte zustimmend. Die andern aber fragten, ob er nicht recht bei Trost sei. »Hast wohl Angst, was? Dir gefällt es wohl hier so gut, daß du dich gar nicht mehr trennen kannst?«
»Meine Handlungen, ihr Ostjaken,« sagte Yatsuma, »diktiert meine Überzeugung! Ihr seid Kulis, die vor den Karren gespannt werden wie Ochsengespanne in Transvaal, wenn nicht inzwischen die elektrische Tramway durch die Kalahari fährt. Was sollte wohl für einen lustigen, freien Geist daran, daß sein Körper eingesperrt ist, Furchterregendes sein? Seine Vernunft hat mehr Pferdekräfte als ein Flugzeug! Darüber, ihr guten Grabbewohner, daß euer Leib eine dreihundert Meter lange Ortsveränderung erfahren wird, sollt ihr euch nicht aufregen! Es ist sehr bedeutungslos, ob ein Knochengerüst, ein Fettbalg und ein Hautbeutel mit Eingeweiden sich drei russische Werst links oder vier englische Meilen rechts vom vierzigsten Breitengrad befindet. Was habt ihr wohl versäumt, seit ihr eingesperrt seid? Nichts: ihr habt euer Schlafen und Essen hier genau so wie draußen, wenn nicht besser. Nein, liebe Freunde, bedenkt lieber, daß eure Seele unter Dampfkesseln, Nieten, Schrauben, Rädern, Kolben, Turbinen und Antennen verschüttet liegt, eingeschlossen wie ein Bergmann unter einem Haufen Kohlen und Eisen! Wer das nicht einsieht, der wird immer an der Kette der Kurzsichtigkeit liegen, ein lebenslänglicher Sträfling seiner Magengrube! Vielleicht, wenn euer gefangenes Hirn befreit würde, wärt ihr die letzten, die hinausgingen!«
»Sei nicht so frech, du Hungerkünstler!« sagten sie, »Wie kommen die dazu, uns einzusperren? Wer erlaubt ihnen das? Warum erlauben sie sich das? Sind die vielleicht besser als wir?«
Erregt schwirrten die Fragen durcheinander.
Yatsuma war der Gedanke, daß er seinen augenblicklichen Aufenthalt verändern soll, nun einmal nicht sympathisch.
»Ich will euch etwas sagen,« wandte er sich beruhigend an sie, »das Gesetz lautet einmal so. Gesetz, Gericht, Richter und Gerechtigkeit sind, wenn ich nicht ein vollkommener Narr bin, wahrscheinlich so mangelhaft, wie der Mensch und die Welt, in der wir leben, mangelhaft sind.«
»Das werden wir schon ändern, hab' nur keine Bange!« riefen sie. »Wir sorgen schon für andere Gesetze, da kannst du dich darauf verlassen! Wir warten gar nicht, bis sie von selbst vernünftig werden, soviel Zeit haben wir nicht, wir leben nur einmal und werden keine tausend Jahre alt!«
»Gut,« sagte Yatsuma, »aber wärt ihr um die Freiheit eurer Seele besorgt gewesen statt um das Wohl eures Körpers, dann wäre es nie so weit gekommen, daß der Unterste zu oberst ist, dann wäre die Welt nicht untergegangen! Wählt die Tüchtigen, die Guten und Vernünftigen aus, die Lebendigen, Unbeirrbaren und Unbestechlichen, die den neuen Staat auf die Beine stellen, und gebt ihm die besseren Gesetze –«
»Ja, wir geben's ihm!« schrien sie. »Wir schlagen ihnen die Schädel ein, du Esel! Seele, was brauchen wir eine Seele! Die hat man uns gestohlen, wie man uns alles gestohlen hat! Wir brauchen keinen Staat und brauchen keine Gesetze, das Gesetz sind wir, und der Staat sind auch wir! Da unterhalten wir uns nicht lang!«
Yatsuma war bestürzt. Wie entsetzlich mußte an diesen Menschen gesündigt worden sein, wenn nur ihre wildesten Leidenschaften ihnen noch einen Ausweg verhießen.
»Der Kamerad hat schon recht«, sagte der Alte, der bisher schweigsam zugesehen hatte. »Was sollen wir denn draußen machen, wenn es keine Arbeit gibt? Was tun wir denn, wenn der Winter kommt? Es gibt wirklich kein Gesetz und keine Ordnung mehr! – Ich habe«, wandte er sich, da sie nicht auf ihn achteten, an Yatsuma, »im vorigen Winter einen Wald angezündet. Kommt einer daher und fragt, ob ich ein Feuer angemacht habe. ›Ja,‹ sage ich, ›ich habe ein Feuer angemacht!‹ – ›Wolltest du dir Kartoffel braten?‹ – ›Kartoffel braten?‹ sage ich, ›nein, ich wollte mir keine Kartoffel braten, sondern ich habe den Wald angezündet!‹ – ›Da wirst du ja eingesperrt!‹ – ›Ja,‹ sage ich, ›es schneit ja schon! Man ist doch froh, wenn man unter Dach und Fach ist!‹«
»Auch ich bleibe hier,« sagte Yatsuma, »obwohl ich eine heilige Aufgabe verzögere. Daß ich mich den Gesetzen jedes fremden Landes füge, entschuldigt diesen unfreiwilligen Aufenthalt –«
Der Lärm draußen war inzwischen immer größer geworden, und in diesem Augenblick wurden unter furchtbarem Krach und Geschrei »Heraus mit den Gefangenen!« die Türen eingeschlagen. Ehe er sich's versah, war Yatsuma mit hinausgerissen worden und fiel mehr, als er ging, auf die Straße. Er hatte sich in dem fürchterlichen Gedränge den Kopf an dem niedrigen Türbalken angerannt, so daß eine der halb verheilten Wunden, die ihm geschlagen worden waren, aufbrach und grimmig schmerzte. Als er, noch halb betäubt von dem furchtbaren Stoß, wieder aus den Augen sah, stand der Alte allein da. Alle andern waren verschwunden.
Yatsuma legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Also,« sagte er schließlich, »mach's gut! Du wirst schon wieder hinkommen, wo du hinwillst. Nur den Kopf nicht hängen lassen!«
»Wollen wir's Beste hoffen!«
Der Alte hielt immer noch seine Hand fest. »Hast du's denn so eilig? – Na ja, dann laß dich nur nicht aufhalten!«