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In der Abteilung vierter Klasse des Krankenhauses befand sich am Kopfende jedes Bettes ein eiserner Ständer mit einem schwarzen Täfelchen, auf dem die Personalien des Kranken aufgeschrieben waren.
Yatsumas Bett gegenüber lag ein junger Mann, der den ganzen Tag in Büchern las, von denen ein mächtiger Stoß auf seinem Nachtkästchen aufgetürmt war. Kam der Arzt zu ihm, dann verfolgte der junge Mensch seine Bewegungen, Griffe und Anordnungen so kritisch, daß es aussah, als untersuche der Kranke den Arzt, statt umgekehrt. Für alles außer seinen Büchern absolut uninteressiert, sprach dieser Patient den ganzen Tag auch nicht ein Wort. Auf dem Schildchen über seinem Bett war zu lesen
Kurt Olchewski stud. med. geb.: 4. 8. 1902 in: Riga Relig.: keine |
Yatsuma, nachdem er achtundvierzig Stunden ohne Unterbrechung geschlafen, hatte sich körperlich recht gut erholt. Das erste, was ihm beim Aufwachen auffiel, war die Schrift über dem Bett des jungen Mediziners. Er starrte sie an, meinte, es sei eine der Tafeln, auf denen steht: »Schutt abladen verboten!« oder: »Vor dem Hunde wird gewarnt!«, stützte sich ein wenig auf, schaute im ganzen Saal herum, dann nach rückwärts, ob sich an seinem Bett, die gleiche Vorrichtung befinde, sah dort genau dieselbe Tafel, aber unbeschrieben, und entdeckte neben den Medizinflaschen auf dem Nachtkästchen ein Stückchen Kreide. Er setzte sich auf und las die Aufschrift gegenüber. Dann kniete er im Bett auf, nahm die Kreide und kritzelte auf seine Tafel:
Yatsuma
Alle anderen Rubriken ließ er unausgefüllt. Bei Religion aber schrieb er hin:
meine
Darauf legte er sich befriedigt nieder und sann in die Luft.
Die Kranken hatten den Vorgang beobachtet. Selbst von denen, die teilnahmlos, unbeweglich in den Kissen lagen, konnten sich einige eines matten Lächelns nicht erwehren. Die Schwester, die die Aufschrift sofort entdeckte, ging an diesem Vormittag, während sie mit den anderen Kranken munter scherzte, an den beiden Betten aber mit einer eisigen, leidend verschlossenen Miene vorbei, als durchschritte sie die Vorhalle der Hölle. Ihre Handreichungen aber besorgte sie auch hier mit gleichgebliebener Sorgfalt und ohne die geringste Nachlässigkeit.
*
»Jetzt weiß ich wenigstens,« sagte Mendone zu Hause, »wie der Name Yatsuma geschrieben wird. Sieh her, Ponychen!« Er schrieb ihn auf den Rand der Abendzeitung.
»Was ist das eigentlich für ein Name?« wollte Eli wissen. »Indisch? Oder chinesisch?«
»Das werde ich in diesen Tagen ganz genau erfahren!«
Die Geschichte von den Aufschriften auf den Täfelchen fand sie sehr ulkig.
»Ja ja, es ist ganz lustig. Das, was einmal etwas gewesen ist, ist heute nichts mehr. Und das, was einmal sein wird, ist heute noch nichts. Wir sind zwischen Anfang und Ende eingeklemmt wie der Hundeschwanz in der Tür. Wir photographieren dafür alle Götter, Statuen, Tempel und Heiligtümer der Welt. So viele Götter hat es noch nie gegeben!«
»Aber die Religion ist doch abgeschafft?«
»Die Einrichtung. Aber auch nur zum Teil. Ob die Religiosität sich ganz abschaffen läßt, ist eine andere Frage. Jedenfalls sind wir heute aufgeklärt. Die Tante Menschheit ist zwar erwacht, kann aber ihre Brille nicht finden. Es ist schon kurios!«
»Das verstehe ich nicht. Wie meinst du das, mit der Brille?«
»Ich will dich heute nicht damit langweilen, Schatz. Vielleicht ein andermal. Ich bin etwas überarbeitet.«
»Ist recht, mein Lieber, du sollst früh schlafen gehn!«
*
Als die Krankenschwester am anderen Morgen den Kaffee brachte, war Yatsumas Bett leer. Sie war erschrocken, daß er schon aufgestanden war und sah überall nach, fand ihn aber nicht. Jetzt bemerkte sie erst, daß auch seine Kleider fehlten, die am Kopfende des Bettes hängen müssen. Der Vorfall wurde gemeldet und alles durchsucht – merkwürdig, ohne jeden Erfolg. Yatsuma war verschwunden, niemand hatte ihn gesehen, niemand etwas gemerkt, niemand wußte etwas. Es blieb nur die Annahme übrig, daß er sich unerlaubter Weise aus dem Krankenhaus entfernt habe. Dem Personal erschien das um so unverständlicher, als Mendone, wie er das in solchen Fällen nicht selten zu tun pflegte, die Kosten der Behandlung für das Individuum Yatsuma, das weder Geld hatte noch in einer Krankenkasse war, auf sich genommen hatte. Man kannte seine sozialen Liebhabereien und Marotten und wunderte sich in dieser Beziehung über nichts mehr. Aber man fand das Verhalten Yatsumas sehr undankbar.
»Denken Sie sich, Herr Doktor –« ging ihm die Schwester ganz niedergeschlagen entgegen –
»Weiß schon, Schwester, weiß schon! Der Vogel ist ausgeflogen. Macht nichts. Ich habe es eigentlich erwartet. Hätte mich auch gewundert, wenn die Geschichte auf diese Weise schon ein Ende genommen hätte. Sehr groß scheint das Vertrauen des Autors in meine ärztliche Kunst ja nicht gerade zu sein, wenn er ihn mir schon wieder aus dem Wege räumt!«
Der letzte Satz war der Schwester unverständlich. Sie sah nur, daß der Doktor nicht im mindesten verstimmt, sondern freundlich und vergnügt war, wie immer, schaute ihn mit vor Bewunderung und Ehrfurcht unnatürlich hervorquellenden Augen an und fand ihn »sehr edel«.
Vor Yatsumas Bett blieb Mendone einen Augenblick stehen.
Der Name stand noch auf der Tafel, aber das »meine« war schon ausgewischt.
Er gestand sich, daß er sich mit dem merkwürdigsten aller Patienten, die er je gehabt, eigentlich recht gerne einmal ausführlich unterhalten hätte. Auch auf die Gefahr hin, daß es stundenlang gedauert hätte . . .