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Als Benson seinen schwarzen, steifen Hut aufsetzte, machte ihn Yatsuma darauf aufmerksam, daß dieser Gegenstand überflüssig sei. Der Hut war ja wohl nicht schön, oben zerknittert und die Krempe auf einer Seite abgebrochen. Der Staub darauf war so oft in der Sonne eingetrocknet und im Regen wieder aufgeweicht, als Jahre hinter ihm lagen. Nur wenn er durch und durch naß war, sah er ganz schwarz und sauber aus. Aber Yatsuma war nun in solchen Dingen gleich allzuradikal.
»Ich weiß,« sagte Benson, »das hutlose Gehen ist jetzt modern. Es soll gut für die Haare sein, wenn einer noch welche hat. Wenn es aber regnet? Und es regnet meistens. Auf meinem Bauplatz wächst doch nichts mehr und im Winter ist es ohne Deckel zu kalt. Mantel habe ich auch keinen, mein lieber Schwan! Für dich wär's auch besser, du tätest was aufsetzen. Das hilft ja alles nischt, in einen schäbigen Pelz kann man kein Haar mehr einsetzen. Futsch ist futsch, hin ist hin und verloren ist verloren!«
»Man kann nicht wenig genug an sich haben«, sagte Yatsuma. »Es kommt nicht darauf an, was man bei sich hat, sondern was man in sich hat.«
Benson dachte sich, da er nichts in sich habe, müsse er froh sein, daß er wenigstens etwas bei sich habe.
»Hoffentlich hast du kein Geld?« fragte Yatsuma.
»Nichts! Gott sei Dank keinen Pfennig!«
»Und was bedeutet das, dieser unnütze Ballast da?« Er zeigte auf den Pappkarton, den Benson nach der Entlassung in Empfang genommen.
»Der gehört nicht mir!« sagte Benson. »Das sind geliehene Sachen von meinem Bruder. Die muß ich ihm hinbringen.«
»Überhaupt wird es gut sein,« sagte Yatsuma, »wenn ich dir einige kurze Winke gebe. Das oberste Gesetz des Lebens, wie gesagt, ist: Kein Geld! Wer von Geld lebt ist schon verloren!«
»Da kann uns nicht viel passieren!« meinte Benson.
»Dann muß man sich vor allen Dingen den Weg erschweren! Zum Beispiel neben der Straße gehen und immer in der größten Hitze, wenn die Luft am unbeweglichsten und der Staub und die Mückenplage am schlimmsten sind –«
»Da haben wir die meiste Zeit –« Benson verschluckte den Rest.
Yatsuma ging tatsächlich gern in der Sonne, wenn auch nur im Winter oder in solchen Sommern, die der wahnsinnige Mensch für Winter hielt.
»Es ist verkehrt«, demonstrierte er, »während der Hitze zu rasten und in der Kühle zu gehen. Man rastet nicht im Schatten, sondern der Gewöhnung halber in der prallen Sonne. Bekanntlich ermüdet zu häufiges Rasten nur noch mehr. Ich lasse es gelten, wenn man durch Krankheit gezwungen ist, obwohl es natürlich auch dann eine Schwäche bleibt. Alle halben Jahre einmal oder zweimal rasten, muß genügen.«
»Zweimal ist zu viel!« sagte Benson.
»Ich freue mich über dein Verständnis!« sagte Yatsuma. »Ich habe von Anfang an beobachtet, daß mein Wort bei dir auf fruchtbaren Boden fällt. Man hat doch einigen Instinkt. Für einen ist alles leicht, für zwei alles schwierig. Schon das Schulkind ist der Feind des Schullehrers, und die meisten Menschen sind gleichgültig, wo sie nicht mitgerissen werden. Um so erfreulicher sind Ausnahmen. Ich will nicht behaupten, daß wir beide uns gleichen wie siamesische Zwillinge, sondern ich vergleiche uns mit zwei nebeneinanderliegenden, fast gleich großen und in der Form ähnlichen Bergen; etwa wie der Mauna Koa und der Mauna Loa auf Hawaii.«
Yatsuma betrachtete seinen Freund wohlgefällig, wie ein Vater seinen Sohn, wenn er gute Noten heimgebracht hat.
»Wem der Regen zu naß ist,« fuhr er fort, »das Leben zu schwer und das Denken zu anstrengend, der verdient nicht Mensch zu heißen. Aus solchen verkrüppelten Geschöpfen besteht aber die halbe Menschheit!«
Benson machte eine wegwerfende Handbewegung. »Dämliches Affengesindel!«
»Wir wollen Großes leisten, Benson! Jede Sekunde, die keine Bewegung erfüllt, ist umsonst gelebt. Auch der mit Plänen und Arbeiten überladene Berufsmensch opfert seiner Unternehmung die notwendigste Ausspannung und Pause und selbst die Schlafenszeit, die Zeit zum Essen und die Zeit zum Denken. Nur ist seine Tätigkeit wertlos, das Opfer umsonst gebracht. Essen und schlafen ist überflüssig.«
»Es scheint. Darum werden auch die Suppen immer dünner. Man muß schon bald jedem einzelnen Brocken mit der Badehose nachschwimmen!«
»Etwas anderes ist es, wenn man vom Fürsten des Landes, vom Schah von Persten oder vom Fürsten von Monaco, von einem edlen Singalesen, Gouverneur, Dakairihäuptling oder Reichspräsidenten, von einer papuanischen Prinzessin oder dem König irgendeines Stammes zu Gast geladen wird!«
»Alles schon dagewesen!«
»Denn dann treten an die Stelle von wirtschaftlichen die Gesetze der Höflichkeit und Gastfreundschaft. Was auf den Bäumen wächst, auf Feldern und in der Wildnis, das darf man natürlich nehmen. Übrigens wollen wir uns mal eine Sekunde ausruhen!«
Yatsuma setzte sich nieder und Benson ließ sich nicht zweimal bitten. Wenn er die Sache so auffaßt, dachte er, dann ist es ja noch zum Aushalten. Wahrscheinlich ist jetzt bei ihm ein halbes Jahr vorbei. Er hat ja auch beinah so lang geredet!
Sie waren auf dem rechten Isarufer, auf dem Weg nach dem Herzogpark. Die Wahrzeichen Münchens, die altehrwürdigen Kuppeltürme der Frauenkirche, waren auch im Sitzen noch zu sehen. Sie sind von jeder Seite, man mag kommen von wo man will, sichtbar, und werden außerdem so oft zitiert, daß man sie auch sieht, wenn sie unsichtbar sind.
»Die Minarette von Damaskus sind bereits sichtbar!« sagte Yatsuma. »Wir werden die Stadt umgehen, wie an einem funkelnden Fenster des schwarzen Erdteils vorbei nach Afrika eilen in nie gesehene Gegenden. Damit die Zeit der Rast nicht ungenützt verstreicht, gebe ich dir noch einige Verhaltungsmaßregeln zu bedenken. Man muß den Zornigen besänftigen, für den Unschuldigen Partei nehmen, den Schuldigen entlarven und verfolgen. Alles sehr gefährliche Unternehmungen! Aber ein Leben ohne Gefahr ist der Tod bei lebendigem Leibe. Außerdem: sich nicht wehren, außer mit Weisheit, und nicht kämpfen, außer mit der Vernunft! Tue nichts zu deinem Vorteil! Kaufe nicht und verkaufe nicht –«
»Nein, nein, ich sage ja, die Schachtel gehört meinem Bruder!«
»Sei nachsichtig gegen andere und rücksichtslos gegen dich. Antworte nach deinem Gewissen. Sei höflich, mitleidig, freigebig und hilfsbereit. Schweige, wenn du nicht gefragt bist –«
»Hab' ich was gesagt?«
»Ich meine nur im allgemeinen! Dabei stets und jedermann die Wahrheit sagen, ohne zu verletzen, niemand ein Unrecht zufügen, in jeder Weise geduldig und nachgiebig sein, und was das Wichtigste ist: immer heiter und froh bleiben!«
»Bin ich! Bin ich, Mensch!« versetzte Benson. »Du sollst mich einmal sehen, wenn ich gut aufgelegt bin, was ich für Tänze aufführe! Du kennst mich noch nicht in dieser Beziehung! Da kannst du was erleben!«
Während Yatsuma seine humanen Fanatismen entwickelte und, weil sie sich an einen anderen richteten, noch etwas strenger formulierte als sich selbst, hörte Benson immer noch das Mittagläuten, das vor einer halben Stunde entweder von der Föhringer oder von der Ismaninger Kirche her durch die klare Winterluft geklungen, und fand das viele Reden bei leerem Magen ziemlich langweilig. Wenn es nicht so kalt gewesen wäre, hätte er vorgezogen, in Ermangelung anderer Beschäftigung ein wenig einzuschlafen.
»Hörst du auch zu, Benson?« fragte Yatsuma. »Wir waren in Tasmanien –«
»Ja, ich hab' ja nichts dagegen!«
»Und befinden uns jetzt am Euphrat –«
»Schon?« Benson kam auf einen Einfall. Er nestelte ein Zeitungsblatt aus der Tasche. »Soll ich dir was vorlesen?« fragte er. »Was denn?«
Yatsumas Blick wurde ängstlich, aber Benson ließ sich nicht irritieren. »Also: Aus Stadt und Land. Ampermoching. Vom Unglück schwer heimgesucht wurde dahier der Gütler Josef Hintermeier. Kaum ist seine Frau von einer schweren Operation aus der Klinik zur Genesung nach Hause gebracht, mußte er auch noch eine Kuh samt dem Kalb beim Kälbern einbüßen. Der Fall ist um so mehr zu bedauern, da Hintermeier das Fleisch nicht verkaufen, sondern eingraben mußte.« – »Siehst du, so ist es: der eine ist glücklich, wenn seine Frau davonläuft und der andere, wenn sie heimkommt!«
Yatsuma schaute schwermütig in die Ferne.
»Genau wie in Europa –« sagte er niedergeschlagen. »Künftig, es mag etwa an die hundert Jahre her sein, sah ich einmal eine Zeitung, in der ein Roman abgedruckt war. Dieser Roman handelte vom Flug eines Luftschiffes ins Weltall. Nur davon handelte er. Das war sein ganzer und einziger Inhalt!«
»Und Gas!«
»Wie?«
»Gas! Das Luftschiff muß doch mit Gas gefüllt sein!«
»Kann sein. Aber der Roman hatte überhaupt keinen Inhalt! Es war ein Nur- und Nichts-als-Roman! Aber gerade darum wurde er von den Lesern der damaligen Zeit mit beispiellos wahnsinniger Gier verschlungen!«
»Gemein! Vielleicht waren sie schon halbverhungert?«
»Es war einer der deutlichen Beweise, daß das Menschengeschlecht im Untergehen war. Wie gesagt, es ist schon einige Jahrhunderte her. Seitdem hat die Menschheit dank meiner Einwirkung einigen Fortschritt erfahren. Es waren zurückgebliebene, eingebildete, ungebildete, hoffnungslose Zeiten. Man darf nicht zurückdenken.«
»Mir ist alles recht«, sagte Benson, »und alles gleich. Eine gebratene Taube in der Hand ist immer noch besser als ein Sperling auf dem Dach. Kalt ist es auch. Ich bin kein Freund von Eisbeinen. Außer solchen, die man essen kann. Ich denke, wir brechen auf. Das lange Sitzen verweichlicht nur!«
Yatsuma verschluckte eine Sentenz gegen das Essen, die ihm auf den Lippen lag. An neuen Formulierungen seiner immer gleichen Wahrheiten mangelte es ihm nie, aber augenblicklich war sein Hunger anscheinend der Stärkere.
Benson verkaufte den Inhalt seines Paketes, ein Paar genagelte Schuhe und einige Hemden, in einem Bogenhausener Wirtshaus. Für den Erlös konnten sie essen, trinken und übernachten. Yatsuma zu erklären, wie sie zu diesen Herrlichkeiten gekommen waren, war er nicht verlegen. Aber es hätte gar keiner langen Märchen bedurft, er fragte gar nicht darnach.
Im Verlauf dieses angenehmen Abends wurde Benson aufgeräumt und lustig, bekam aber, eingedenk seines Vorsatzes, keinen Schwips. Dazu reichte das Geld nicht ganz, weil sie ja zu zweit waren.