Hans Reiser
Yatsuma
Hans Reiser

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LI.
Neue Freundschaft

Zwei, drei regnerische Tage waren vergangen. Gluth hatte die »Weinlese« fertiggemalt und Yatsuma fühlte sich wieder fähig, auf zwei Füßen zu stehen, wurde unruhig wie ein gefangener Tiger. Es hieß ihn hinauslassen.

Der Herbstmorgen war dunstig kühl, aber der Tag ließ sich freundlich an. Um neun Uhr verzog sich der Nebel, aus seinem verschwebenden Schleier tauchte wie eine Erscheinung die mattgoldene Silhouette der Stadt.

Yatsuma fiel das Marschieren anscheinend noch recht beschwerlich, er ging sehr langsam. Gluth schlenderte ihm genießerisch nach, die schwache Sonne auskostend wie einen letzten guten Tropfen im umgestülpten Weinglas. Die Stadt war ein Aquarell: die Häuser im Vordergrund rosig-gelb, alle Konturen und Härten in weiche Schatten und zarte Reflextöne aufgelöst, die Ferne schwamm, blau hingehaucht, kühl verwischt und doch in großen Formen zusammengehalten. Der Himmel klärte sich auf wie ein grauer Irrtum. Es schien heiß werden zu wollen. Die Straßen waren überschüttet mit rotem und gelbem Laub, es wurde immer farbiger und prunkhafter.

Das Leben ist schön! dachte Gluth. Seine Augen leuchteten, er hätte dichten mögen. Ein unbändiger Arbeitsdrang, eine wahre Besessenheit ergriff ihn, und er hatte nichts bei sich, keine Wasserfarben, keinen Pastellstift, nichts als sein Stümpchen Blei und das verschmierte Skizzenheft. Er hatte diesmal vorsichtig sein wollen, einen kleinen Imbiß mitgenommen und auch Yatsuma ein dickes Stück Brot in die Tasche gestopft (die ihm Benson seinerzeit mit zwei gefundenen Sicherheitsnadeln zugesteckt und brauchbar gemacht hatte), und darüber alles andere vergessen.

Die Welt, diese gewöhnliche, alltägliche Welt, auf einmal ein Gemälde, ein Kunstwerk, ein Wunder, murmelte er unglücklich, und ich kann nichts tun! Daß ich auch immer diesem Kerl nachlaufen muß! Der Doktor könnte sich endlich entscheiden, was er eigentlich mit ihm vorhat!

Er war außer sich. Als sich aber Yatsuma müde auf eine Haustürstufe niederließ, beruhigte sich Gluth und zog sein Heft heraus. Er wollte sich wenigstens einiges notieren und skizzierend festhalten. Er konnte es ja dann zu Hause malen.

Nach einiger Zeit sah er sich auch einmal wieder nach seinem Schützling um und steckte augenblicklich erschrocken sein Heft ein: Yatsuma war nicht mehr da.

Ja, wohin jetzt?

Er rannte zur Straßenecke, suchte links, suchte rechts, spähte vor und zurück, sah nichts, lief zur nächsten Straßenkreuzung, natürlich ebenso erfolglos. Er hätte jahrelang suchen können und ihn doch nicht gefunden; denn was hilft denn das alles, wenn der Verfasser es nun einmal nicht haben will. Ihm wäre es doch eine Kleinigkeit, Yatsuma an irgendeiner Ecke wieder auftauchen zu lassen.

Das sah Gluth denn auch ein. »Was soll ich da nun lang' suchen!« murrte er. »Da kann einer stundenlang nach allen verkehrten Richtungen rennen!«

Ich sage ja eben! Jahrelang sogar!

Verzweifelt starrte Gluth geradeaus.

»Ach was, jetzt ist mir alles gleich! Ich fahre heim! Es ist ja doch aussichtslos! Jetzt ist es schon so, ich kann es auch nicht ändern. Ich will wenigstens den Tag noch ausnützen!«

Gemächlich ging er zur nächsten Haltestelle, fuhr mit der Tram nach Hause und holte sein Malzeug. Und das war auch das Vernünftigste, was er tun konnte.

Mit dem Arbeiten wurde es allerdings nichts. Erstens war die Luft nicht mehr so malerisch, wie in den ersten Vormittagsstunden, und dann auch dachte er anstatt an seine Arbeit, den ganzen Tag daran, wie er es dem Doktor beibringen könnte, daß Yatsuma ausgerissen war. Alle möglichen Ausreden schossen ihm durch den Kopf. (Nur auf die beste, daß es weiter nichts war als ein heimtückischer Kniff des Autors, kam er nicht.) Die Freude war ihm verdorben, er war zappelig, brachte nichts Rechtes mehr zustande.

*

Heiter und froh, wie in sich musizierend, war Yatsuma dahingegangen. Er hinkte zwar noch ein wenig, überhaupt schien es mit seinen Kräften immer mehr zurückzugehen. Seinem Gang aber war trotz allem immer noch die gleiche seltsame Leichtigkeit eigentümlich. Um die Mittagszeit wurde es drückend heiß. Er konnte sich kaum noch fortbewegen und wollte doch nicht ausruhen; es schien ihm, als würde er sofort niederstürzen, wenn er nur einen Augenblick stehenbliebe. Die atembeklemmende Staubluft, der Qualm der Teerkessel, die rasenden, stinkenden Kraftwagen, das donnernde Rasseln der elektrischen Bahnen, die gelb verbrannten, verblätterten Sträucher in den Anlagen, die schreienden Reklametafeln, Firmenschilder und sonngebleichten Plakate, alles drückte ihn lastend zusammen wie einen übriggebliebenen, im Motorgeratter seelisch und leiblich zusammengebrochen dahinschlürfenden Droschkengaul. Es flimmerte ihm vor den Augen, ein bekanntes Anzeichen, daß der, den es befällt, einer Ohnmacht nahe ist, er stolperte, taumelte und stürzte nieder.

Aber die Ohnmacht verflog wieder und nun zog er es vor, sich wenigstens auf den Stufen des Residenztheaters, vor denen er niedergefallen war, hinzusetzen. Auf den Straßen schwirrte der Verkehr, der jetzt, unter Mittag, etwas nachließ, die zugebaute Seite des Platzes aber ist ein leerer, stiller Winkel. Seufzend streckte er seine mißhandelten, langmächtigen Beine von sich und setzte sich zurecht. Noch halb betäubt starrte er auf die staubtrockenen Pflastersteine. Eine grenzenlose Verlassenheit, wie durch die Leere dieses Häuserwinkels hervorgerufen oder noch bestärkt, bemächtigte sich seiner, ein so schreckliches Gefühl der Abgeschiedenheit oder Ausgelöschtheit, oder wie man es nennen soll, das nur jemand empfinden kann, der sich einbildet, auf einen anderen Stern verschlagen zu sein.

Er zog das Stück Brot, daß ihm Gluth gegeben, aus der Tasche. Es war ziemlich ausgetrocknet und ließ sich kaum brechen. Aber sein Geschmack war dafür um so satter und ausgiebiger, ganz süß und unvergleichlich wunderbar. Kein Gourmand, kein Schwelger an gebogenen Tischen, hat je eine Delikatesse mit so genießender Gründlichkeit bis auf das letzte Krümchen auf der Zunge zergehen lassen, niemand, der sich täglich satt ißt, braucht zu hoffen, daß ihn jemals so erlesener Wohlgeschmack beglücken wird, und wenn er sich den Koch des Königs von England kommen ließe.

Vorläufig aber, als Yatsuma den ersten Bissen in den Mund steckte, schlich ein Hund, der in der stillen Ecke gelegen, zaghaft her, bis er endlich den Mut fand, sich ganz heranzuwagen und die heruntergefallenen Brotbrösel aufzulecken. Es war ein häßlicher Köter von undefinierbarer Rasse, ein Scherenschleifer erster Güte, alt und gefleckt wie eine Kuh und so mager, daß man fürchten mußte, seine Knochen müßten die schäbige Haut, die über sein Skelett gespannt war, jeden Augenblick durchstechen wie verrostete Drähte einen alten Regenschirm.

Sonderbar, dachte Yatsuma, man kann den Menschen einfach nicht entrinnen!

Als das Tier die Brosamen peinlich sauber aufgeleckt, setzte es sich vor ihn hin und verfolgte, einen seltsamen Glanz in seinen vorher so trüben Augen, mit gespannter Aufmerksamkeit die Hände, die das Brot zum Munde führten, und die kauenden Kinnbacken. Yatsuma gab ihm hin und wieder einen Brocken. Als er einmal ein wenig einen Fuß rührte, erschrak der scheue Hund, ließ den aufgeschnappten Bissen fallen und schoß mit eingeklemmtem Schwanz davon. Hoffend und furchtsam blickte er von weitem her. Yatsuma hob das Stückchen Brot vom Boden auf und hielt es ihm hin, und das Tier vergaß alle Vorsicht, kam wieder her und fraß wie zuvor.

Betrachtete der Hund mit großen Augen den Mann, wie er aß, so betrachtete Yatsuma den Hundemenschen oder Menschenhund mit noch größerem Interesse. Mit unendlichem Behagen, mit einer andächtigen Innigkeit, zerknackte er einen harten Brocken, dem Yatsuma nicht Herr wurde, oder verschlang ihn mit einem einzigen, lautlosen Schnapper und leckte sich die Lefzen bis an die Ohren. Nach jedem Bissen sah er zu ihm auf und sagte: »Gib mir noch was, ich kann noch viel vertragen!«

Er hat einen weit größeren Genuß am Essen als ich, dachte Yatsuma.

Er strich ihm über den Kopf. »Ja, guter Freund, ich sehe schon, es ist auf allen Gestirnen so ziemlich dasselbe . . .«

Daß ihn jemand anders als mit Verachtung und Ekel anblickte, war dem Hund etwas Neues. Und daß ihn einer der vier Füße des Menschen, die doch zum Treten, Stoßen und Schlagen da sind, streichelte, war ihm schier unfaßlich. Er wich nicht von der Stelle.

»Wenn man euch Menschen«, sagte Yatsuma, »beim Essen beobachtet, so möchte man meinen, es wäre alles in Ordnung. Denn es ist kein Fehler, daß ihr dem Körper Speisen gebt. Nur ist damit noch nichts getan und auch nichts mehr gutzumachen. Es ist nichts mehr! Nur eine alte, leere, ererbte Gewohnheit. Geben Sie acht, was ich Ihnen sage: Was zum Leben zählt, steht höher, als was zum Tode zählt. Was ist also gut und was ist böse?

Lassen wir das beiseite, was ihr im allgemeinen gut und böse nennt. Das ist nur ein Abkommen, das ihr untereinander getroffen habt, um euch gegenseitig Übervorteilen zu können.

Was dem Leben dient und aus ihm kommt, ist gut! Und was dem Tode dient und aus ihm kommt, ist böse!«

Yatsuma hielt die Hälfte des Brotes noch in der Hand, er hatte es vergessen. Der Hund horchte aufmerksam zu. Es wäre ihm zwar lieber gewesen, wenn ihm der Mann das Brot gegeben hätte, anstatt soviel darüber zu reden.

»Wenn das aber richtig ist,« fuhr Yatsuma fort, »und wenn wir begriffen haben, daß das Lebendige gut und das Tote böse ist, dann sehen Sie auch, in welch böser Zeit das Weltall schwebt! Wie im Menschen, so ist auch in allen übrigen Geschöpfen der Gestirne nichts mehr lebendig. Das habe ich geahnt, es war der Grund, warum ich meine Bahn von den Plejaden bis zur Gemma und vom Prokyon bis zum Atair ausdehne. Der Einfluß der Welten ist gegenseitig und betrifft alle Wesen. Ja, ja, kratzen Sie sich nur hinter den Ohren! Begreifen Sie nun? Fehlgeburten, Frühgeburten, Totgeburten, das war der Zustand des Alls, als ich zur Welt kam. Von diesem Tag an aber wird die Zeit ausgelöscht und hinweggeschwemmt werden wie eine flache Sandbank in dem kleinen, unscheinbaren Bach, der im Frühjahr auf einmal als herrlicher, wütender Strom von den Bergen herabbricht und alle Ufer überflutet!«

Bei diesen Worten hatte Yatsuma die Hand mit dem Brot herabhängen lassen, der Hund hatte das ganze Stück längst verspeist, wartete aber immer noch. Yatsuma hielt ihm die leeren Hände hin.

»Aus! Wir haben Nichts mehr!«

Daß nichts mehr da ist, versteht und sieht in der Regel jeder Hund. Dieser aber schien, wie Yatsuma, über seinen Hunger den Verstand verloren zu haben. Er wendete seinen Blick keine Sekunde von seinem Spender ab. Unbeweglich, unverdrossen sah er zu ihm auf.

Yatsuma war nun selbst hungrig geworden.

»Armer Kerl!« sagte er. Reckte seine steifgewordenen Knochen zurecht, erhob sich und ging. Der Hund folgte ihm.

Yatsuma schaute ihn an. Er wedelte mit dem Schwanz.

»Man nimmt eine gewisse Verantwortung auf sich,« sagte er, »wenn man ein zweites Wesen an sich bindet. Ich kann verstehen, daß Sie sich mir anschließen wollen. Es ist genau so, wie wenn sich auf dem Delirius an irgendeinem Ort zwei Menschen begegnen, die beide aus einem etwas weiter entfernten Ort stammen. Dann bezeugen sie einander eine ganz seltsame, unbändige Freude, schütteln sich die Hände, umarmen sich, wollen ständig zusammenbleiben und sind ganz außer sich, nur weil sie zufällig in dem gleichen Land geboren sind und sich augenblicklich in einem anderen befinden.«

Als Yatsuma, mit dem Hund redend, unachtsam die Straße überqueren wollte, schoß ein Motorradfahrer um die Ecke, wich aus und stürzte. Yatsuma war erschrocken zurückgesprungen, ausgeglitten und niedergefallen, dabei aber dem Hund hinter ihm mit seinem alten Stiefel auf die Pfoten getreten. Erbärmlich winselnd hinkte das Tier weg und blieb in einiger Entfernung stehen, leckte seine Pfote ab und sah mit einem eigentümlichen Blick zurück.

»Kommen Sie, Erdenmensch!« sagte Yatsuma, als er sich wieder vom Boden aufgelesen. »Es tut mir aufrichtig leid! Ich habe es nicht absichtlich getan! Und meine Worte von vorhin, die etwas bedrückend auf Ihr Gemüt gewirkt haben, müssen Sie nicht zu ernst nehmen. Es war nicht so gemeint! Ich bin ein Freund der Menschen! Ihr müßt nicht glauben, daß ich euch feindlich gesinnt sei, wenn ich euch geißle!«

Die Leute, die sich bei diesem kleinen Unfall angesammelt hatten, lachten bei diesen Worten des komischen Menschen, der mit seinem Hund per Sie war, und sahen ihm kopfschüttelnd nach, wie er mit dem räudigen Vieh davonhinkte.

Die Schwüle war unterdeß unerträglich geworden und alsbald prasselte das Gewitter los. Denn eine Jahreszeit, in der es nicht gewittert, gibt es in unserer gesegneten Zone nicht. Nach dem Regen wurde es gleich sehr kalt.

Später drang die Abendsonne noch ein wenig durch und malte einen blaßgoldenen Schimmer auf den nassen Asphalt.

*

Mendone war recht verschnupft und einsilbig, als ihm Gluth die neue Nachricht telephonierte, zwei Tage, nachdem er Yatsuma verloren hatte. Eher hatte er den Mut nicht gefunden, aber einmal mußte es ja doch sein.

»Ja, was nun?« fragte der Doktor. »Jetzt ist guter Rat teuer! Was meinen Sie, was machen wir?«

»Ja,« meinte Gluth, »weit kann er auf keinen Fall sein! Es wird zwei, drei Tage dauern, und dann werde ich ihn wieder haben! Ich will schon herumlaufen!«

»Wie ist denn das zugegangen?«

Gluth hatte bis zum letzten Augenblick einige prächtige Ausreden parat gehabt, wußte aber nicht recht, welche die beste war.

»Zugegangen? – Ja – ich habe ein wenig skizziert und dann, natürlich – aber noch keine fünf Minuten! Und weg war er!«

»Himmeldunnerkeil!« fuhr der Doktor los. »Donnerwetter, Donnerwetter! Sie sind schon ein rechter Unglücksrabe! Kommen Sie doch heute abend zu uns herüber! Daß ich Ihnen ordentlich den Kopf waschen kann!

»Gut, ich komme!«

»Aber nicht zu spät! Himmeldunnerkeil noch einmal! – Ja, ja, Gluth, Sie sind schon ein echter Maler!«

Gluth blieb mäuschenstill.

»Sind Sie noch da? Also heute abend! Auf Wiedersehen! – Sie gottverdammter Dunnerwetterskerl!« sagte er noch – nachdem er schon angehängt hatte.

 


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