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Man findet erfahrungsgemäß den besten Ausdruck für eine Naturerscheinung nur, indem man Aug in Aug ihr gegenübersteht. Wer aus der Erinnerung schildert, wird unwahr, ohne es zu wollen, häufiger noch flach, uninteressant. Nur das Detail fesselt. Dieses Details muß der Naturschilderer ebenso kundig sein wie der Naturforscher des Wesens der Naturvorgänge. Auch jener muß über ein Wissen von den Dingen der Natur verfügen, und wie der Naturforscher im Museum und Herbar, bewahrt er den Rohstoff seiner Darstellungen, das Material, worüber er denkt und welches ihm Gedanken zubringt, in seinen Tagebüchern. Man lese Heinrich Noë und frage sich, ob dessen allzeit treffendster, echtester, lebendigster Ausdruck anders als angesichts der Natur, die da geschildert ward, gefunden werden konnte. Erinnerung ist kein reines Spiegeln, sondern ein Verkleinern, Verschieben, Vermischen. Mit vollem Rechte sind wir vor allem empfindlich gegen Übertreibungen auf diesem Gebiete. Lieber gar keine Schilderungen als Verzerrungen, hinter welchen sich Unfähigkeit verbirgt. Die Naturschilderung erweist gerade in dieser starken Abneigung, wie enge Beziehungen sie zur wissenschaftlichen Auffassung der Natur bewahrt hat. Und wenn wir dem Maler und Dichter Phantasielandschaften gestatten, so gehört es doch zum größten Ruhme so mächtiger Geister wie Goethe und Lenau, der Natur immer in verehrungsvoller Treue genaht zu sein und über die Grenze des Wahren höchstens in das Gebiet des Wahrscheinlichen abgeschweift zu sein.
Ist Naturgenuß ein Erlebnis, so ist der Blick dem Berggipfel ein Erlebnis voll Überraschungen.
Indem ich das Stück Welt, das ich durchwandert habe, vom Gipfel herab betrachte, erscheint mir alles anders als vorher. Mein Gesichtspunkt ist ein neuer, und so ist auch das neu, was in meinen Gesichtskreis tritt.
Kein Ausblick in der Ebene, auch nicht der Blick aufs Meer vergleicht sich der Aussicht von einem Hochgebirgsgipfel an Mannigfaltigkeit und Größe; keinem ist so viel Fesselndes zu eigen, dessen Geheimnis wie unbestimmte Fragen und wie Aufforderungen, groß und tief zu denken, sich an die Seele drängt.
Der Berggipfel liegt immer in einer anderen Zone als die Hänge, diese in einer anderen als der Fuß. Der Berg knüpft daher eine Verbindung zwischen der Erdoberfläche und den höheren Schichten der Atmosphäre, deren Erscheinungen er tiefer hinabträgt, teilweise hinabgleiten läßt, wobei durch die Abstufungen des Gefälles, der Wärme, des Druckes, der Niederschläge und des organischen Lebens eine Fülle mannigfaltiger Erscheinungen und eine, jede Landschaft und damit natürlich die Gesamterde bereichernde Allmählichkeit des Überganges stattfindet.
Ein schöneres Wandern als in einem Gebirgstale ist nicht leicht zu denken; die Täler schließen nicht bloß den Geologen und Geographen die Erdoberfläche auf, sie tun es auch, und zwar viel freigebiger und bedingungsloser noch, der einfachsten Betrachtung, die, ohne nach Gründen zu fragen, sich an den Dingen erfreut, wie sie sind. Nirgends gibt sich die Natur reicher, in keiner andern Form bietet sie dem Blicke eine solche Fülle von Erscheinungen so zusammengefaßt. Schon die Form der Täler, ihr Grund, ihre Abhänge, welche meist in Hügel oder Bergreihen gegliedert, vielfach gegeneinander verschoben sind und in wechselnde Höhen sich erheben, begünstigt reichste Entfaltung der Formen und der Beziehungen des Erdreichs, der Felsen und aller Dinge, die auf ihnen leben, vorab der Gewächse. Ein Blick über die Ebene ist nur im Freien zu gewinnen und verliert durch die Verkürzung, die bald alles einförmig erscheinen läßt; aber in den Tälern bieten sich die Abhänge in der günstigsten Weise zur Betrachtung dar und umgeben dich oft von allen Seiten, als ob die sonst so dicht geschlossene Erde sich da zu einer halboffenen, farben- und formenreichen Riesenblume erhoben habe. Und dann ist ein Tal ein organisches Ganzes, in welchem nichts aus der Beziehung fällt, in welcher alle einzelnen Stücke desselben zueinanderstehen; der Bach oder Fluß, der sich das Tal geschaffen hat, faßt dessen einzelne Abschnitte wie Perlen an eine Silberschnur, und so durchstreift man, indem man sie verfolgt, keine Masse von unabhängigen, oft einander gänzlich widersprechenden Szenen, wie auf Ebenen oder in den Höhen, sondern geht sichtlich einem der Fäden nach, an denen die Natur ein Stück Erdgeschichte spinnt. Da ist alles auseinander hervorgewachsen, liegt nun in verschiedenen Entwicklungsstufen vor uns, und eines ist vollendet, während das andere erst im Werden ist; darum gibt es alte und junge Talstrecken, und wie an einem Baum ist das Hauptteil älter als die Zweige, die in es einmünden, und findet sich ein Wurzelsystem, das von den Quellen gespeist wird.
Da wir uns allmählich von der Straße und den Gebäuden des Passes entfernten und so steil, als es nur gehen mochte, an den tiefverschneiten Abhängen anstiegen, um keine Zeit zu verlieren, wurde alles, was das Auge umfassen konnte, immer fremdartiger und einfacher. Da war nichts als das Blau des Himmels, das in allen Richtungen in ungeminderter Wärme und Tiefe von Berg zu Berg gespannt war, und das Weiß des Schnees, das auf der Erde so weit ging, wie der Blick nur reichen mochte; über allem aber stand froh und still das Leuchten einer klaren Morgensonne und die kristallene Ruhe der kalten, ganz reinen, unbewegten Winterluft. Und die beiden Farben waren kaum abgestuft, so daß, wenn sonst der Himmel in seiner Farbeneinheit die bunte Fülle der Erde beruhigend und klärend überwölbt, nun diese selbst nur mit dem einzigen leuchtenden Weiß ihn an allen Enden berührte und anstrahlte. Es ist das mit Worten nicht wohl des weitern zu beschreiben, nur das kann ich sagen, daß dieses ungestörte Zusammenwirken von Sonnengold und Weiß und Blau allem im Gesichtskreis eine wunderbar reine und ruhige Einfachheit, die nirgends aus sich herausstrebte, überbreitete, und daß in dieser Einfachheit ein Fremdartiges, Tiefes lag, das solchen Zustand der Natur kaum mehr den irdischen Dingen vergleichbar erscheinen ließ. Wiederum zeigte hier der schrankenlos herrschende Winter seine schöpferische Macht und trat in ganz anderer Bedeutung hervor als etwa in unfern tieferen Regionen, wo er nur ein kämpfendes, oft früh erliegendes Dasein führen kann. Hier war er reich und mächtig erschienen, hatte höchst freigebig die winterlich verarmte Erde, die Reste der sommerlichen Blütezeit zugedeckt, hatte die Furchen und Schrunde des altverwitterten Erdenangesichts geglättet und den Schutt des gewaltigen Ruinenfeldes, das wir Gebirge nennen, mit seinen reichlichen Spenden mitleidig umhüllt. In Riesenfalten schließt sich diese weiße Hülle dem hagern Leibe des Gebirges an; aber ihre Linien sind nicht hart und gebrochen, sie streben alle zu leichten Bogen und übertreffen jegliches Gestein in der Kühnheit und Mannigfaltigkeit, deren sie besonders an den sturmausgesetzten Punkten fähig sind, wo sie sich oft sehr weit in einer dünnen Schicht von den steilsten Abhängen waagrecht ins Blaue hinausbauen, wo Säulen und Pfeiler voll der phantastischsten Kanten und Aushöhlungen vom Winde zusammengeweht und geglättet sind. In diesen Formen wird der Sturm in seiner ganzen Kraft und Willkür abgezeichnet, und oft liegt so ein durchwühltes Schneefeld wie ein erstarrtes Stück sturmgepeitschten Ozeans vor dir.
Es liegt ein eigener Reiz im morgendlichen Herauswandern aus dem Orte, an welchem man sein Nachtquartier aufgeschlagen hatte; die Sache wiederholt sich wohl tagtäglich, die Freude bleibt neu. Man ist gekommen, man hat ein rundes Leben ein paar Stunden betrachtet oder mitgelebt, hat Altes und Neues vernommen, was viele Geschlechter am gleichen Orte gewirkt und was sie an Erinnerungen hinterlassen haben; nun schreitet man die tausend Freuden und Sorgen und die zahllos, wie Blumen unterm Wiesengras, unter den Dingen der Gegenwart hervorknospenden Hoffnungen und Bestrebungen wieder vorbei, läßt sie hinter sich und trägt höchstens das Andenken einiger mit, die in der Sonne des neuen Tages bald verdorren wie die paar Blätter und Blüten, die man an einem Ruheplatz dem Hute ansteckt, um sie am andern gegen frischere, grünere zu vertauschen. Man lenkt jetzt das Schifflein aus der Bucht, in deren Enge die Wellen des Lebens sich fangen und stauen und in einen einförmigen Wirbel gezwungen sind, wieder ins Breitere und Weitere hinaus, wo es treiben mag, bis der sinkende Abend es von neuem vor Anker legt. Während sie hinter ihren trüben Fenstern noch schlummern, um nicht zu früh dem neuen und doch so alten Tage ins Gesicht schauen zu müssen, schreitest du froh dem Unaufgeschlossenen entgegen, und es ist in dieser kräftigen Morgenluft etwas, das dir Mut und Lust einhaucht, der fesselnden Kraft dieser Wirbel auch ferner noch zu widerstehen. In keiner andern Stunde wird wahrlich das Glück des ungebundenen Wanderns so voll empfunden wie in dieser, und wie der Morgentau den Blumen am Wege den Durst des ganzen Tages stillt, so erzeugt jene genug stille Fröhlichkeit, um allen Dingen dieses Tages Sinn und Herz offen und dankbar zu erhalten.
Da wird es wohl in einer Dezembernacht noch viel stiller, und man wacht morgens von der ungewöhnlichen Ruhe auf, in die die Welt tief versunken zu sein scheint, vielleicht auch von der Kälte, besonders aber von dem sonderbaren Schein, der durch die Fenster fällt. Das ist ein Schneetag. Die ganze Nacht hat es ohne Aufhören heruntergeschneit, und nun reicht die Straße fast bis an die Fensterbrüstungen, und die Dächer sind erhöht, der Brunnen trägt eine weiße Mütze, und jeder Dornzweig ist um einen Silberstreifen verdoppelt. Nichts ist vergessen, nicht einmal die dürren Wegwartstengel, sie leuchten von ihrer weißen Auflage. Und alle diese weißen Lasten scheinen den Geräuschen des Tages die Hand auf den Mund zu legen. Nur Licht der Wolken und leuchtender Schnee, der einförmige, tiefe Himmel um eine Idee grauer als die Erde, Grau und Grau, nur morgens und abends bei tiefstehender Sonne lange bläuliche Schatten; aber über das alles eine Einheit der Stimmung, der nur wir gegenüberstehn, wir, eine kleine Welt, die sich nie so sich selbst fühlt wie in diesen abgeschlossenen Tagen, wo die »andre Welt« wie verloren gegangen ist.
Bei den jungen Bäumen kommt es vor, daß sie auf eine harte Bodenschicht stoßen, die ihre Wurzeln nicht zu durchdringen vermögen, da sieht man, wie plötzlich ihr Wachstum stockt; sie sterben nicht ab, aber sie machen auch keine Fortschritte, denn es geht gegen ihre Natur, die Nahrung in der Breite zu suchen. Wozu haben sie ihre starken Wurzeln, als daß sie damit in die Tiefe gehn? Sie sollen sich nicht bloß damit festhalten, sondern auch die Nahrung und die Feuchtigkeit in tiefern Schichten erreichen. So werden nun ihre Schosse jeden Frühling dünner, ihre Blätter bleiben klein, ihre Blüten sind weniger, als es sein sollten, und die Früchte, die sich daraus entwickeln, fallen zum größten Teil vor der Reife ab. Man sagt: Das Bäumchen hat keinen Trieb. Da plötzlich ändert sich das alles: in einem Frühling sproßt es stärker, sein Laub wird mehr und dunkler, seine Blütenfülle ist unerhört und gibt die schönsten Hoffnungen für die Zeit der Reife. Es ist, wie wenn eine Lust und Freude zu leben über das Bäumchen gekommen wäre. Man sagt jetzt: Es ist in den Schuß gekommen. Wie kam das? Seine eifrig suchenden Wurzelfasern haben eine Spalte in der Steinschicht des Bodens gefunden, sind durchgedrungen, und nun erweitern sie die Spalte in fröhlichem Wachstum und speisen die letzten Zweige aus der frischen, inhaltreichen Nahrungsquelle, die sie da unten erschlossen haben.
Die waldreichen Mittelgebirge Neuenglands und des nördlichen Neuyork haben vor den deutschen die tiefe Einsamkeit, die mannigfaltigere Zusammensetzung des Waldes und Buschwerks und den Reichtum an stillen, klaren, waldumrandeten Seen voraus, mit denen die Seen des Schwarzwalds und der Vogesen und des Böhmerwalds nicht zu vergleichen sind. Der Harz und der Thüringer Wald haben keine Seen, in ihren Wäldern herrschen die Fichte und die Tanne über weite Strecken hin unbedingt, und ihre Ruhe unterbricht sogar im Winter die Schar der Gäste, die selbst nur zu oft die Einsamkeit aufstören, die sie suchen. Es ist aber dennoch ein ganz andrer Genuß, den Harz zu durchwandern, als in den Urwäldern der Adirondacks zu streifen. Wir sind nun einmal Kulturmenschen, ob wir in Europa oder in Amerika wohnen, und die Würze unsers Naturgenusses ist eben die Kultur, die die Landschaft eines alten geschichtlichen Gebiets wie mit einem seinen Duft durchdringt, den man nicht immer genau bestimmen kann, dessen Fehlen aber bald ein Gefühl der Entbehrung erweckt. Der geschichtliche Hauch, der durch alle unsre Lande weht und in jedem Dorfe und um jedes alte Gemäuer webt, macht uns zu Aristokraten. Er erinnert uns daran, wie alt wir als Volk auf diesem Boden sind, dessen Mitbesitzer wir uns nennen können, wie unsre Väter dessen Miterwerber waren. Es quillt ein warmes Gefühl der Beheimatung daraus hervor. Vielleicht hat der Fremdgewordene, wenn er in den Bann dieser Erinnerungen zurückkehrt, eine feinere Unterscheidung dafür. Jedenfalls sind die geschichtlichen Stätten aus der Zeit der sächsischen Kaiser die leuchtendsten Erinnerungen meiner Harzwanderung.
Lübeck hat im höchsten Grade die Eigenschaften der echten alten Hansestädte, neben denen Hamburg nur ein Emporkömmling ist, allerdings einer, dem es sehr geglückt ist. Lübeck ist eine geschlossene Existenz, die ehrwürdiges Alter mit einigen Spuren des Rückgangs verbindet, unter denen aber noch immer ein Strom ruhiger Weiterentwicklung, wenn auch in behaglicher Enge, weitergeht. Eine gesunde Verbindung, die wohltuend anmutet. Welch erfreuliches Bild, wenn man aus dem Bahnhof tritt und Lübeck wie eine turmreiche Insel vor sich liegen sieht, im Flachland zwar und schon am Süßwasser, aber doch schon eine echte Küstenstadt in der Schiffe mastenreichem Wald, beherrscht von seinem dunkelbraunen Dom, der, wie der ganze Marktplatz, höher als die übrige Stadt liegt.
Das Meer ist die Urmutter der Erde und des Lebens. Darum verlange auch niemand vom Meere die Schönheit der Wiese oder des Waldes. Das Meer ist eine große, stille Quelle, aber was sie ununterbrochen ergießt, das sieht nur ein geistiges Auge. Das Meer ist ein gewaltiges Gefäß voll Möglichkeiten, aber was sich daraus verwirklicht hat und verwirklichen wird, sieht wieder nur ein geistiges Auge. Das Meer ist ein riesiges Grab, worin Millionen Generationen ruhen, aber nur Lot und Fangnetz dringen in seine Tiefe. Das Meer ist eine gewaltige Kraft, von deren Größe Sturm und Brandungswelle nur eine Ahnung geben. Das durchsichtige Grün des Wellengipfels, die Ringe der Schaumstreifen, das nächtliche Leuchten in der Kielfurche, das alles ist nur ein Träumen von der Wirklichkeit dieses gewaltigen, ewig an die Erde gefesselten, sich ewig aufbäumenden Riesen.