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Geschichte und Vorgeschichte

Auch die Wissenschaften sind gewachsen, wie ein Baum wächst: wir sehen noch heute neue Zweige hervortreiben, wodurch Äste sich teilen, die vordem einfach gewesen waren; auch fehlt es nicht an absterbenden Zweigen und an Zweiglein, deren Wachstum stille zu stehen scheint. Das Bild des Baumes ist sicherlich für die Wissenschaft nicht weniger passend als für irgendein anderes lebendes Ding.

Zu jedem Baume aber gehören auch die Wurzeln, und die Wurzeln aller der hochgewachsenen Bäume der geschichtlichen Völker Europas reichen tief, tief in den vorgeschichtlichen Boden hinab. Ist das eine Geschichte der Deutschen, die mit den Cimbern und Teutonen beginnt oder auch selbst mit des Pytheas Nachrichten über Nordeuropa? Um die Zusammensetzung des deutschen Blutes zu verstehen, muß man sogar bis auf die Geschichte des deutschen Bodens zurückgehen. Denn es ist kein Grund, anzunehmen, daß nicht von der Zeit an, wo die Bewohner Deutschlands das Mammut und Rhinozeros am diluvialen Inlandeisrand jagten, immer Menschen auf diesem Boden gelebt hätten; wir finden Spuren des Menschen in allen Arten von Ablagerungen, die sich seitdem gebildet haben, und an einigen Stellen füllen dieselben Schichten an, deren Bildung Jahrtausende erfordert haben muß, während sie an anderen in einer und derselben Ablagerung so dicht liegen, daß wir mit Fug eine verhältnismäßig dichte Bevölkerung annehmen.

Ein Völkerursprung ist keine Sache von Jahrhunderten – es ist ein langer und langsamer Prozeß, in den, wie in einen Strom, der eine halbe Welt durchfließt, tausend Gewässer münden. Und was man den Ursprung eines großen Volkes nennt, ist nicht bloß das Zusammenfließen von vielen Blutstropfen, unter denen der Hinzutritt von einigen wenigen eine neue Mischung entscheidet, die Bestand haben wird; es ist auch der Ursprung einer Kultur und nicht zuletzt der Ursprung eines Geistes, der berufen ist, anderes zu erdenken und zu sagen, als bisher gedacht und gesagt worden war. Mit diesem Blut und dieser Kultur wird das neue Volk wuchern; Tochter- und Enkelvölker werden dieselben über die Erde tragen, und diese seinen Abzweigungen werden weiterwachsen unter anderen Bedingungen, als die des eigentlichen »Ursprungslandes« gewesen waren.

Die Geschichtsforschung wird die Rassenfragen auch dann nicht umgehen können, wenn sie ihr Gebiet auf Völker beschränkt, die scheinbar einer und derselben Rasse angehören.

Je mehr die Geschichtserzählung sich der Gegenwart nähert, um so mehr einzelnes sieht sie, und dieses einzelne ist natürlich in den meisten Fällen der Mensch, der hervorragenden Anteil an der geschichtlichen Bewegung nimmt.

Nicht bloß Urgeschichte erscheint uns hauptsächlich als Wandergeschichte – es treten die äußeren Bewegungen auch bei den Völkern, die der Völkerkunde zugewiesen werden, viel deutlicher hervor, als bei den geschichtlichen Völkern, und für das Studium der geschichtlichen Bewegung bieten sie das beste Material. Lesen wir die Berichte der Kolonialbeamten oder Missionäre über die Geschichte der Völker von Togo oder Kamerun, so finden wir Worte wie Drang nach der Küste, Pressung, Zertrümmerung, Verschiebung, Durchdringung (bei Binger: Pénétration mutuelle von den Fulbe des Senegalgebietes), Überlagerung, Völkerschichtung, Völkerwirbel. Darin spricht sich das Augenfällige der Bewegungen in der Geschichte dieser Völker aus.

Schwacher Halt am Boden kennzeichnet alle niedrigen Kulturstufen. Aber auch in den Geschicken viel höher stehender Völker spielen die räumlichen Verschiebungen eine große Rolle. Auch für ihre Wanderungen und Durchdringungen gelten dieselben Gesetze wie für die Völkerbewegungen auf niedrigerer Stufe, deren Darstellung einen großen Teil der Völkerkunde und der Anthropogeographie ausmacht.

Wir können nur für eine tiefere Stufe der Entwicklung der Geisteswissenschaft jene Forderung gelten lassen, daß die Feststellung von Tatsachen ihre Aufgabe sei. Vielmehr wird die Geschichte der Völker mit allen anderen Geschichten und hauptsächlich mit der Erdgeschichte das Streben nach Einordnung der Tatsachen zunächst in Zeitreihen oder Zeitfolgen teilen, und ihr Ziel wird sein, aus den Zeitfolgen, die ganz der Wirklichkeit entsprechen müssen, dann den Entwicklungszusammenhang zu erkennen.

Es hat sich immer von neuem wiederholt und wiederholt sich auch heute noch, daß die Zeit eines Vorganges, die leichter erkennbar ist oder zu sein scheint, zum Maßstab für andere erhoben wird.

Eine wissenschaftliche Chronologie kann folgerichtig nur eine Zeitlehre sein; es gibt keine besondere Chronologie für Geschichte der Menschheit und dann wieder für Vorgeschichte, für Erdgeschichte, für Geschichte der Pflanzenwelt und der Tierwelt.

Wenn ein Volk sich in einer und derselben Richtung bewegt hat, liegen in dieser Richtung seine älteren Spuren näher, seine jüngeren ferner, und es gelingt vielleicht, Ausgangs- und Zielpunkt seiner Bewegung zu erraten.

Wenn wir Sprachen oder andere Völkermerkmale von andern umschlossen und zusammengeschoben oder an die Ränder eines Erdteiles oder auf Inseln hinausgedrängt sehen, wie das Baskische und Keltische in Europa, die Steingeräte und eigentümlichen Bogenformen in Afrika, so halten wir das Zusammen- und Hinausgedrängte für das ältere: wir lesen im Raum die Zeit .

Heute liegt ein breiter Raum hinter der geschichtlichen Zeit Europas, im Vergleich mit welchem uns diese nur wie ein schmaler Saum erscheint. Wo immer die Geschichte bestimmter Völker in denselben hineinragt, erweitern sich oder vertiefen sich unsere Zeitvorstellungen. Und hinter diesem Übergang vom Geschichtlichen ins Ungeschichtliche liegt wiederum ein noch viel breiterer, in dem die Vorgeschichte des Menschen unmerklich in die Geschichte der Erde selbst verfließt.

Der Übergang von einer künstlichen zu einer natürlichen Klassifikation genügt z. B., um in eine Gruppe von Tatsachen, die verworren wie ein Urwald vor uns standen, so viel Ordnung zu bringen, daß unser geistiges Auge in ihre Tiefe bis zur jenseitigen Grenze hineinschaut.

Man faßt die Zeit wohl als Schicksal auf. Auch der Raum ist Geschick , dem wir nicht entgehen, aus dem wir nicht herauskommen; wir sind an ihn gebunden, und er bleibt uns auferlegt. Doch ist der Raum, in dem die Geschichte der Menschheit sich bewegt, begrenzt; die Zeit aber ist unbegrenzt.

Ein Volk ist keine ruhige Flamme, die wächst, kleiner wild und erlischt, deren Ausdehnung gering am Anfang, am größten in der Mitte und gering am Ende ihrer Zeit ist. Das Leben eines Volkes ist ein Flackern, ein Fasterlöschen und Wiederaufleuchten in oft mehrfacher Wiederholung.

Ich möchte sagen, darin sei die größte Lehre, die ein Land wie Australien der Betrachtung der Geschichte gibt: So klein der Raum der Erde ist, er ist doch groß genug, um mehrere Geschichten nebeneinander sich abspielen zu lassen. Betrachten wir die Urgeschichte in der weitesten Perspektive, so bleiben doch mindestens drei getrennte Völkergebiete: Die Alte Welt, die Neue Welt und Australien. Manches spricht für einen alten Zusammenhang Amerikas mit Ozeanien und Asien; aber es scheinen heute doch wenigstens fast alle Amerikanisten die selbständige Entwicklung der altamerikanischen Bronzekultur anzunehmen. Australiens Völker aber standen noch am Ende des 18. Jahrhunderts in einer rohen Steinzeit.

Für eine wirkliche Weltgeschichte, die als Geschichte der Völker der Erde und ihrer Staaten gedacht ist, kann die Schwierigkeit des Anfangs und der Anordnung nicht so leicht gelöst werden. Denn, wie wir gesehen haben, liegt es ja im Wesen dieser Geschichte, daß sie für unsere Erkenntnis keinen Anfang hat. Wir werden wohl nie die ganze Entwicklung der Menschheit darstellen können: ihre Erzählung wird für die älteren Abschnitte immer eine Aneinanderreihung von Bruchstücken sein.

Für den Blick, der tiefer dringt, ist nicht die Entstehung einer neuen Disziplin mit Museen, Professuren, Zeltschriften usw. die Hauptsache, sondern die Richtung auf Annäherung und innigere Verbindung der älteren, zwischen denen sie emporgewachsen ist. Die Geschichte mit der Geographie und durch die Urgeschichte mit der Geologie inniger zu verbinden, die Rassenanatomie und -physiologie mit der Geschichte und Gegenwart der Völker in engere Beziehungen zu setzen, die Vorgeschichte der Gesellschaften und Staaten zu erkennen und dadurch der rein deskriptiven Gesellschafts- und Staatslehre einen historischen Charakter zu geben, die Sprachwissenschaft mit den Wissenschaften von anderen Äußerungen des Menschengeistes und -willens zu verknüpfen: das sind einige von den Bewegungen, die wir in dem weiten Gebiete der Wissenschaft vom Menschen sich vollziehen oder anheben sehen. Die Völkerkunde wird nicht die Wissenschaft vom Menschen sein, die sich ankündigt; sie wird aber mit ihrer jugendlichen Schaffenslust einst am meisten dazu beigetragen haben, daß dieselbe sich ausbildet.

In allen Völkerursprungsfragen liegt so viel Geographisches, daß es unmöglich ist, ohne geographische Methode zu einer Antwort zu gelangen.

Soll ich die geographische Auffassung dieser schwierigen Probleme kurz formulieren, so wäre etwa folgendes zu sagen: Der Völkerursprung ist im Grund ein verkehrsgeographisches Problem; wir sehen das heutige Verbreitungsgebiet eines Volkes, und wir suchen ein früheres Verbreitungsgebiet, das mit dem anderen durch Wege verbunden ist. Also Ausgang, Weg und Ziel . Es wäre, beiläufig gesagt, ein Fortschritt, wenn man überhaupt das große Wort »Ursprung« fallen ließe, das ja viel zu anspruchsvoll ist.

Die Raumfrage , die wir hervortreten sehen, ist für die Geographie der Völkerbewegungen wichtiger; sie ist eher zu beantworten als die Frage nach der Richtung. Die Richtungen, in denen ein Volk gezogen ist, lassen oft gar keine Spuren – die Räume, die es einst bewohnt hat, werden fast immer an zurückgebliebenen Resten zu erkennen sein. Wir werden schwerlich das Volk im engeren Sinne, wir werden aber an diesen Resten die Rasse, die Kulturstufe und die Verkehrsbeziehungen erkennen können.

Die Möglichkeit des Erfolges aller Forschungen über Völkerursprung sehen wir nur in der Teilung der Arbeit: Rasse-, Sprachen- und Kulturforschung mögen getrennt marschieren; sie werden nur so am gemeinsamen Ziel einst zusammentreffen. Bestehen sie darauf, wie bisher, dieselbe Straße zu gehen, so werden sie sich verwirren und verirren. Die Kulturforschung hat bis heute schon am meisten geleistet; sie wird nach allem Anschein am frühesten beim Ziele ankommen. So wie die Bronzezeit Nord- und Mitteleuropas aus der prähistorischen Dämmerung in das Licht der Geschichte gerückt ist und sogar schon die Fäden etruskischer, mykenisch-kretischer und weiterhin ägyptischer und westasiatischer Beziehungen geographisch als Verkehrswege festlegen kann, wird es ihr auch noch mit der Kultur der jüngeren Steinzeit gelingen, die allem Anscheine nach die wichtigsten Haustiere und Kulturpflanzen nach Europa gebracht und damit den Grund zur ansässigen Kultur, dichteren Bevölkerung, zu regerem Verkehr gelegt hat. Die Haustier- und Kulturpflanzenforschung wird ihr dabei vom wesentlichsten Nutzen sein, aber nicht mit der linguistischen Methode, sondern mit der naturwissenschaftlich-geographischen. Jene finden wir selbst von Sprachgelehrten immer mehr aufgegeben.

Über die Tatsache kommt nun einmal keine Forschung über den Ursprung der Völker Europas hinaus, daß die Gebiete zwischen 45° und 60° N.B. in Mitteleuropa eine starke Bevölkerung von hohem Kulturstand in der späteren Stein- und Bronzezeit gehabt haben, von höherem Kulturstand, als gleichzeitig in manchen Teilen Südeuropas zu finden war.

Ich selbst habe nie das Donauland aus den Gebieten ausgeschlossen, wo der Ursprung der Indogermanen zu suchen sei; aber ich halte, auch wenn ich von den Raummotiven absehe, für unmöglich, es allein in Betracht zu ziehen.

Eine Entwicklung, die mindestens Jahrzehntausende voraussetzt, wie die der Indogermanen, muß beim naturgemäßen Wachsen der Völkerzweige und Völkersprossen einen weiten und wechselnden Raum in Anspruch genommen haben. Ich meine, daß nicht bloß die Entwicklung einer Gruppe von Lebensformen, also auch einer Völkergruppe, in Ausbreitung und Zusammenziehung, d. h. geographisch in einem Wechsel weiter und enger Räume, stattfinde, sondern daß auch für neue Lebensformen, die sich behaupten sollen, weiter Raum zum Schutz gegen Vermischung und allzu scharfen Wettbewerb und zur Darbietung verschiedenartiger, die Differenzierung befördernder Lebensbedingungen nötig sei.


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