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Nur das Viertel der Erdoberfläche, das nach Abzug der Meere und Polargebiete übrig bleibt, ist bewohnbar und in Staatsgebiete geteilt; aber die ganze Erde ist Gegenstand der politischen Geographie, denn jedes politische Gebiet steht zur Erdoberfläche im Verhältnis des Teiles zum Ganzen.
Da die Größe der Erdoberfläche der Entwicklung der Staaten Schranken setzt, so können immer nur von wenigen Staaten in der gleichen Zeit sehr große Räume eingenommen werden. Und ebenso ist dann auch die Zahl der kleineren Mächte von den 124 Millionen Quadratkilometern abhängig, die allen zur Verfügung stehen. Auf diesen fänden zwar fast 200 Deutschlande Platz, aber dieser weite Raum schrumpft gleich zusammen, wenn die fünf wahren Großstaaten unserer Zeit: England, Rußland, China, die Vereinigten Staaten und Brasilien, sich darein teilen, denn diese nehmen schon fast die Hälfte davon in Anspruch. Was übrig bleibt, ist noch immer groß für geschichtlich befestigt in sich ruhenden Besitz, klein aber für weltgreifende Entwürfe eines neuen Alexander oder Napoleon. Die ganze Erde genügt immer nur für einige große politische Bestrebungen und ist um so enger, da sie ja nicht nur die politischen Räume zusammendrängt, sondern auch die Bewegungs- und Wachstumsantriebe beschränkt. Rußland kann nicht mehr wachsen, ohne mit dem britischen oder chinesischen Reiche zusammenzustoßen. Wir haben es erlebt, als nur Deutschland bescheiden genug in die Reihe der Kolonialmächte eintrat, wie sofort ein Gefühl der Beengung durch die Welt ging und der noch unverteilte Raum in kurzer Zeit genommen war. Wenn unser Land vergebens ein noch unbesetztes Land irgendwo in den gemäßigten Zonen sucht, alles besetzt und besiedelt findet, spricht sich die Tatsache erschreckend aus, wie klein die Erde heute für ihre Völker ist.
Wir können doch in jeder Zeit nur die Macht eine Weltmacht nennen, die in allen Teilen der bekannten Erde und besonders auch an allen entscheidenden Stellen, durch eigenen Besitz machtvoll Vertreten ist.
Noch sind in der Geschichte Europas die Folgerungen zu ziehen, die aus der unvermeidlichen Rückwirkung der außereuropäischen auf die europäischen Raumverhältnisse sich ergeben. Wie alles Unvollendete wirkt dieser Zustand beunruhigend, vor allem naturgemäß bei jenen Ländern, deren Größe nicht die Natur selbst angewiesen hat. Europa fühlt seine Zukunft bedroht durch die größere Entwicklungsfähigkeit Außereuropas. Es hat den Vorzug der zusammengedrängten Lage in der kulturgünstigsten gemäßigten Zone mit dem Nachteil des engen Raumes erkauft. Man kann von gemeineuropäischen Übeln sprechen, die in diesem Grunde wurzeln. Wie einfach und groß ist die Staatenbildung in Nordamerika verlaufen im Gegensatz zur europäischen! Die deutsche Ausbreitung nach Osten war ein mühsames Vordringen und Durchringen in einzelnen Gebieten, ein gezwungenes Zurückbleiben in anderen. So ist auch in den Zeiten mächtiger Expansion in Europa immer nur eine bruchstückweise Ausbreitung möglich gewesen, da jedem Wanderstrom Gegenströme entgegenwirkten, die ihn spalteten. Das Endergebnis war die zersplitterte Lage, überreich an Reibungen, der Völker und Völkchen in Völkerhalbinseln und -inseln. So ist auch eine europäische Krankheit die Notlage des Ackerbaues, die aus der Verdichtung der Bevölkerung auf zu eng gewordenem Raume, in der Erschöpfung des Bodens bei zunehmender Wettbeweibung mit größeren, jüngeren, dünn bevölkerten und billig erzeugenden Ländern entspringt. Langsam verlegt sich die Geschichte der ursprünglich europäischen Völker aus Europa hinaus, und in Europa wird künftig am größten sein, wer am größten in Außereuropa ist.
Die Größe der Räume, in die hinein wir politisch denken und planen, hängt von dem Raume ab, in dem wir leben. Deswegen gibt es kleine und große Raumauffassungen , und wächst die Raumauffassung oder geht mit dem Raum zurück, in dem wir leben. Der große Raum fordert zu kühner Ausbreitung auf, der kleine verleitet zu zaghafter Zusammendrängung. Jeder mißt an der Freiheit der Bewegung und der Weite der Ausnützung die Größe des Raumes, und die Kraft des geistigen Auges wächst damit oder geht zurück. Und so in der Summe das Volk.
Wenn Clausewitz in seinem »Feldzug von 1812 in Rußland« sagt: »Die Idee, welche man in Berlin hatte, war, daß Bonaparte an den großen Dimensionen des Russischen Reiches zugrunde gehen müsse«, oder wenn Ralph Waldo Emerson, der neuengländische Weise, von den Vereinigten Staaten von Amerika rühmt, daß es ihnen besonders leicht falle, »die weitesten Anschauungen zu erzeugen«, handelt es sich um diesen Raum, der in den Geist der Menschen, beflügelnd oder lähmend, übergegangen ist. In diesem Sinne ist der Raum überhaupt eine politische Kraft und nicht nur ein Träger politischer Kräfte. Der Raum an sich , nicht ein bestimmter Raum, wird hier im Verhältnis zu der Kraft geschätzt, die zu seiner Bewältigung nötig ist, und diese wird an ihm gemessen. Sie wird mit der Zeit immer auch mit ihm wachsen.
Die Schule des Raumes ist langwierig. Jedes Volk muß von kleineren zu größeren Raumauffassungen erzogen werden, und jedes von neuem, wobei das Zurücksinken von diesen in jene immer wieder eintritt. Jeder Zerfall ist der Ausfluß einer zurückgegangenen Raumauffassung.
Die Schule des Raumes wird aber erleichtert dadurch, daß ein wachsender Staat bei gleichen Dimensionen immer größer erscheinen wird als ein im Stillstand begriffener, denn ein Stück von der erst kommenden Größe fügt sich vor unserem geistigen Auge der Größe an, die wir heute fassen und greifen können. Durch die Wachstumsmöglichkeiten wird das Bild des wachsenden Staates vergrößert, das wir nie mit scharfen, abgeschnittenen Umrissen, sondern hoffnungsvoll unbestimmt in die Zukunft hineinragend erblicken. Der Staat im Stillstand schrumpft dagegen vor unserem Blicke ein.
Die modernen Völker werden sich der Raumverhältnisse immer mehr bewußt. Das Anwachsen politischer Räume in Asien und Amerika hat dem Raum überhaupt in unserer Zeit eine Beachtung und ein Studium zugewendet wie nie vorher. Die großen Räume werden mehr und mehr zu einer allgegenwärtigen Tendenz der Völker und Staatenentwicklung, die man am Ziele der verschiedensten Bewegungen suchen muß. Heute sollte jeder europäische Staatsmann in Asien oder Amerika etwas von dem Raumsinn zu lernen suchen, der die Kleinheit der europäischen Verhältnisse und die Gefahr kennen lehrt, die in der Unkenntnis der großen außereuropäischen Raumauffassungen liegt. Es ist wichtig, in Europa zu wissen, wie sich die politischen Größen unseres Erdteiles von der Höhe amerikanischer oder asiatischer Raumvorstellungen ausnehmen. Europas Staatengedränge mit asiatischem Blicke gemessen, kann zu Entwürfen von gefährlicher Kühnheit verlocken.
Die Maßstäbe für die politischen Räume ändern sich ununterbrochen und müssen immer von Zeit zu Zeit größeren Verhältnissen angepaßt werden. Die politische Geographie muß sich naturgemäß dieser Aufgabe unterziehen, da sie ja die politische Raumverteilung in jedem Abschnitt der Geschichte und besonders genau die bestehende verfolgt. Die Geschichte ist rückwärts gewandt und verliert daher leichter den Raummaßstab, der für die Gegenwart und die nächste Zukunft der wirkliche ist.
Wie viel auch der friedlich sich ausbreitende Verkehr zur Erweiterung der wirtschaftlichen Räume beigetragen hat, der Krieg ist doch immer eine große Schule der Fähigkeit der Raumbewältigung geblieben. Wenn Feldherren durch unerwartete Märsche die größten Erfolge errangen, so ist darin nicht bloß eine physische Leistung zu erblicken und nicht bloß der Heroismus, eine so gefährliche Waffe zu schwingen, die in demselben Augenblicke den Freund verwundet, wo sie gegen den Feind gezückt wird, sondern ein rein geistiges Element überlegener Raumauffassung tritt hinzu; man denke an das Wagnis des Marsches Hannibals von Neu-Karthago an den Po oder daran, daß im Krimkrieg der weite, unbewältigte Raum gegen Rußland entschied, der 1812 ihm zum Sieg verholfen hatte, oder daß die deutschen Stämme den Raum nicht politisch zu nutzen verstanden, der gegen die Römer ihr Bundesgenosse gewesen war.
[In der neuesten Geschichte treten die Eroberung der Mandschurei durch Japan, der deutsche Polenfeldzug, die Besetzung Norwegens und die siegreiche Beendigung des Feldzuges im Westen in nur sechs Wochen als Meisterleistungen der Raumbewältigung hervor. D. Hrsg.]
Oft ging dieser Gewinn verloren; im Falle Alexanders und Cäsars blieb er der Nachwelt erhalten, deren Horizont er erweiterte. Es wiederholt sich in der Geschichte, daß jedes größere Land auch dem Krieg größere Aufgaben stellt, und daß der siegt, der sie löst. Es ist ein Kampf um Raum, durch den die Raumauffassung beständig wächst. Ein Krieg erweitert plötzlich den Schauplatz eines Konfliktes, der, auf engstem Raum entstanden, um sich greift, und, von einem zum anderen sich fortpflanzend, die Völker und Staaten in feindliche Lager teilt.
Die Fähigkeit der Raumbewältigung , die in der »Herrschergabe« und im »Organisationstalent« liegt, muß derselben Fähigkeit im Volk begegnen, wenn sie zu dauernder Vergrößerung eines politischen Raumes führen soll; sie wird die wirtschaftliche Arbeit in einem Volke beflügeln; und so wird die Weltwirtschaft mit der Weltpolitik gehen. Die Verbindung der weitblickenden Raumbeherrschung des Staatsmanns mit der Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit der Masse erreicht allein die größten Erfolge. Aus ihr schöpft die Geschichte eines Volkes den Schwung und die Nachhaltigkeit, die einst die Kolonisation der Deutschen im heutigen Nordost-Deutschland und später die der Anglokelten in Nordamerika und Australien auszeichneten.
Das Gesunde liegt eben in dieser Verbindung. Wo, wie noch heute in Amerika, die wirtschaftliche Ausbreitung sich auf einem Boden bewegt, dem sie unmittelbar auch politische Ergebnisse abgewinnt, da erkennt man erst die Ursachen so mancher Hemmungen und Beengungen in unserem Erdteil, wo die Geschichte ein Gedränge geworden ist und Wirtschaft und Politik ängstlich auseinander gehalten werden müssen. Staatsmänner und Geographen Europas sehen wir daher in gleicher Weise bemüht, in außereuropäischen Fragen die kleinen Auffassungen wegzuräumen, die Europa eingibt. [In den autoritären Staaten der Gegenwart wird Politik und Wirtschaft nicht mehr auseinandergehalten; in ihnen ist die Wirtschaft der Politik untergeordnet. D. Hrsg.]
In der Fähigkeit zur Raumbewältigung erkennen wir drei Typen, die sich überall in der Geschichte wiederholen: 1. Die Fähigkeit der Raumbewältigung ist bei den Führern vorhanden, fehlt aber in den Massen. Franzosen . 2. Die Fähigkeit der Raumbewältigung ist in den Massen stärker als in den Führern. Spanier . 3. Die Massen und ihre Führer sind gleich gut für die Aufgabe gerüstet, die die Raumbewältigung stellt. Anglokelten . Im Großrussen lebt ein ähnlich expansiver Geist wie im Anglokelten, der aber nicht mit soviel individueller Selbständigkeit verbunden ist und seine Energie mehr in der Zähigkeit als der Raschheit zeigt, die noch besonders interessant dadurch ist, daß sie auch offenbar mehr über die Elemente zur kontinentalen als zur ozeanischen Ausbreitung verfügt.
[In der Gegenwart können die aufstrebenden Großmächte Italien und Japan dem dritten Typ zugezählt werden; das nationalsozialistische Deutschland begann sein Schaffen auf der Stufe des ersten Typs, erreicht aber zusehends durch eine zielsichere raumpolitische Erziehung des Volkes die des dritten. D. Hrsg.]
Vor die Aufgabe der Erfüllung und Ausbeutung eines weiten Raumes gestellt, droht ein Volk ein großer wirtschaftlicher Ausbeutungsorganismus zu werden, dessen Lebensäußerungen das wirtschaftliche Bestreben ganz durchdringen. Von den Nordamerikanern hat man gesagt, nur die Religion teile sich mit der Erwerbsarbeit in die Interessen des Volkes. [Und ein Gleiches läßt sich von den Engländern behaupten. D. Hrsg.]
So wie der Kampf ums Dasein im Grunde immer um Raum geführt wird, sind auch die Kämpfe der Völker vielfach nur Kämpfe um Raum, deren Siegespreis daher in allen Kriegen der neueren Geschichte ein Raumgewinn ist oder sein wollte. In jedem der geschichtlichen Zeitalter lassen sich die Völker nach der Auffassung des politischen Raumes abstufen. Jene »großartige Auffassung und Ordnung der Dinge«, in der Mommsen die Römer anfänglich gegen Pyrrhos und Mithridates unterlegen findet, ist derselbe politische Raumsinn , durch den die anglokeltischen Völker in der alten und neuen Welt die besten und größten Länder erworben haben. Die größere Raumauffassung gerät notwendig in Streit mit der kleineren. Sie hat endgültig immer den Sieg errungen: auch wo sie unterlag, hat der kleine Raum, der siegte, sich vergrößert. In der Regel ist aber der kleine Raum im Kampf mit dem großen zu baldigem Erliegen verurteilt.
Die Stärke des noch unerfüllten Raumes liegt überhaupt im Reich der Hoffnungen und Pläne: Weiträumige Völker haben einen optimistischen Zug.
Die tiefere Erfassung und gründlichere Ausnützung der natürlichen Bedingungen läßt früher und schärfer die historische Individualität sich vollenden. Die Menschheit zeigt sich auch als Geschichtsbildnerin in der Beschränkung groß.
Die kleinen Reststaaten machen eine Ausnahme von den Wachstumsgesetzen der Staaten; sie sind wie versteinert. Darin liegt ihr großer Unterschied von den primitiven Kleinstaaten: Die höhere Kultur entwickelt große und duldet sehr kleine Staaten ; deshalb gehört das friedliche Nebeneinanderliegen der schwächsten und minimalsten Staaten zu den Merkmalen unseres europäischen Staatensystems.
Die politischen Wirkungen der dauernd engen Räume ohne Möglichkeit der Ausbreitung oder Kraftentfaltung faßt der Begriff Kleinstaaterei zusammen, den niemand klarer auseinandergelegt hat als B. G. Niebuhr , wo er die Geschichte des Unterganges von Achaja schildert: »Die Nation hatte Prosperität ohne Gelegenheit ihre Kräfte zu üben und diese Prosperität brachte sie moralisch zurück. Ein solcher Zustand wird korrigiert, wenn kleinere Staaten mit großen Staaten derselben Nation im Komplex stehen; wenn sie aber isoliert, unabhängig voneinander fortetistieren und sie haben keine Bewegung in sich, so muß alles Männliche und Bedeutende in ihnen aussterben, während eine miserable Lokaleitelkeit sich auftut. – In großen Staaten sind unmittelbar eigentümliche Leidenschaften, die unsere Gefühle nähren und uns beschäftigen, in kleinen wendet die Leidenschaft sich auf fremde Interessen.«
Mit der dauernden räumlichen Beschränkung ist gewöhnlich eine Einförmigkeit der Bestrebungen und Tätigkeiten verbunden, die alles überragende herunterzubringen und womöglich auszuscheiden sucht, und aus solcher Engräumigkeit geht oft die engherzigste Politik hervor.
Unsere Kleinstaaten haben unsere Ströme und Küsten lahmgelegt, und das hat sie mehr als alles unmöglich gemacht. Mit der Enge des Horizontes wächst das soziale, wirtschaftliche und staatliche Beharrungsvermögen und die Gebundenheit an eine enge Scholle, die sogar für die einfachsten Bedingungen des selbständigen Daseins selbstgenügsam zu sorgen vergißt.
Die größte Verdichtung politischer Kräfte wird in den Städten erreicht; in ihnen ist der Raum aus der Reihe der politischen Hemmungen geradezu ausgestrichen. Daher die rascheste Entwicklung in gewitterhafter Ausgleichung der Gegensätze zu türmenden Mittelpunkten über einen weiten Machtbereich, der tief unter ihnen bleibt. Die geistigen Fortschritte, die auf dem engen Zusammenarbeiten vieler beruhen, sind besonders an solche Brennpunkte geknüpft.
Die besondere Stellung der Seestädte liegt darin, daß der freie Seeverkehr die Zusammenfassung von viel Volk, Macht und Reichtum in einem einzigen Punkte begünstigt. Daher eine überragende Stellung mancher Seestädte, die zugleich dauerhaft ist, da ja das Meer passiv ist, nur Träger des Verkehrs bleibt.
Die Besetzung einer Stadt bedeutet im Krieg die Beherrschung der von ihr ausstrahlenden Wege und die Unterwerfung der von diesen Wegen durchzogenen Landschaften. Daher die Befestigung der Hauptstadt oder ihr Schutz durch Festungen, die um sie herum angelegt werden.
Wenn nicht immer in gleichen Formen, so sind doch die gleichen Kräfte von jeher in den Städten konzentriert gewesen und haben von ihnen aus auf das Land gewirkt. Daher ist der Gegensatz zwischen ländlicher und städtischer Bevölkerung immer vorhanden gewesen und hat sich bis zu Bauernkriegen und fehdebereiten Städtebünden verschärft. Indem die Stadt dem Lande in der Entwicklung vorauseilt, erteilt sie aber auch dem Lande eine politische Bedeutung, die es ohne die Stadt nicht haben würde.
Die Lebenskraft der Städte ist viel größer als die der Landgebiete. Die in die Mauern einer Stadt zusammengedrängte Macht kann allerdings durch eine solche Zerstörung wie Tyrus und Karthago sie erfahren mußten, vollständig gebrochen werden; die Einwohner können weggeführt und ihre stolzen Bauten der Erde gleich gemacht werden. Ein Landgebiet kann nicht in solchem Grade verwüstet und entvölkert werden: die Natur selbst duldet es nicht, denn sie läßt auch die niedergetretenen Felder neu ergrünen. Aber eine einmal zerstreute und verkleinerte Landbevölkerung verdichtet sich nur langsam wieder und wird schwerlich gerade die Machthöhe wieder erreichen, die verloren gegangen ist. Das eben ist nun das geschichtlich Bedeutende bei den Städten, daß die Menschen sich an derselben Stelle, aus Gewohnheit, Gewinnsucht und Schutztrieb, rasch wieder zusammenfinden, so daß bei allen Schicksalen z. B. Rom nie seine Lage und damit auch nicht seine bedeutende Stellung ganz verloren hat.
Bei den Vätern der Statistik und bei den Staatsmännern ihres Jahrhunderts galt die Ansicht, daß die Volkszahl das Maß der Kraft eines Staates sei. »Wenn ein Reich ebensoviele Einwohner hat als ein dreimal größeres, so ist desselben Ehre, Macht und Sicherheit dreimal größer oder die Herrlichkeit des letzteren dreimal kleiner.« Dieser Satz von Süßmilch ist der klassische Ausdruck einer politischen Überschätzung der Volkszahl, die seit Colbert das Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus beherrschte. Wer die Überschätzung der Flächenräume kennen gelernt hat, wird nun nicht leicht geneigt sein, die Volkszahlen zu unterschätzen; er wird in ihnen vielmehr das Mittel sehen, um die politische Schätzung der Flächenräume auf das rechte Maß zurückzuführen.
Gleichmäßig verbreitete Bevölkerung gleicht Ungleichheiten des Bodens aus, ungleichmäßig verbreitete schafft auf gleichem Boden Ungleichheit.
Will ein Volk aus beschränktem Boden größer werden, so muß es neuen Boden suchen, und damit ist die Auswanderung gegeben, die politisch das Überfließen eigener Bevölkerung auf anderen Boden bedeutet. In der Regel geht der Strom aus dicht- in dünnbevölkerte Gebiete.
Unter allen politischen Prophezeiungen dürfen die verkehrsgeographischen , wenn sie sich auf das beständige geographische Element stützen, den größten Anspruch auf Glaubwürdigkeit erheben. Man kann von einer neuen Eisenbahn, einem neuen Kanal mit einer gewissen Sicherheit voraussagen, welcher Verkehr sich ihm zuwenden wird. Drei Dinge sind darin unveränderlich: die Lage des Ausgangsgebietes, die Lage des Zieles und der Weg zwischen beiden. Die Bewegung aber, die zwischen den beiden stattfinden wird, läßt sich in vielen Fällen bis zu einem gewissen Grade voraussehen.
Die Entwicklung der Verkehrswege geht wie die Entwicklung der Staaten von kleinen Gebieten aus, an deren Grenze nach nur wenigen Meilen die Pfade undeutlich werden, und umfaßt immer größere, die sie, in naturgewiesenen Richtungen fortschreitend, bis an ihre natürlichen Grenzen zu beherrschen sucht. Dabei bewirkt der Verkehr, von dem Streben nach den kürzesten und leichtesten Wegen ganz beherrscht, einen mächtigen Differenzierungsprozeß, indem er mehrere Wege in einen zu vereinigen und immer mehr Hindernisse mit einer Arbeit zu überwinden strebt.
Es ist hierbei zu beachten, daß, je mehr Zeit und Arbeit die Überwindung des Raumes an sich kostet, um so weniger die Schwierigkeiten ins Gewicht fallen, die auf beschränkten Gebieten zu überwinden sind.
Die Entwicklung der Verkehrswege wird durch militärische Bedürfnisse gefördert. Viele Wege sind nur für sie geschaffen. Die Ausdrücke Heerstraße und strategische Bahn sind bezeichnend für diesen Zusammenhang. In manchen Staaten ist der größte Teil der politischen Beziehungen des Verkehres militärischer Natur. Da die inneren Verkehrswege Organe des inneren Zusammenhanges der Staaten sind, richten sich gegen sie in erster Linie die auf die Losreißung von Teilen eines Staates oder auf die Erschütterung des inneren Zusammenhangs gerichteten kriegerischen Unternehmungen. Je lockerer die Verkehrsverbindung einer Grenzprovinz mit dem übrigen Staatsgebiet ist, desto leichter wird sie losgerissen.
Wer die Knotenpunkte des Verkehrs beherrscht, befiehlt auf den Wegen, die von ihnen ausstrahlen, daher das Streben der Armeen, solche Punkte zu gewinnen, die immer auch politische Zentralpunkte sind, weswegen mit ihrem Vertust nicht ganz selten ganze Kriege entschieden sind.
Der Verkehr ist die Vorbedingung des Wachstums der Staaten , das ihm auf gemeinsamen Wegen folgt. Den Verkehr aber ruft die Mannigfaltigkeit der Stoff- und Massenverteilung auf der Erde hervor, die ungleich die Güter, die Arbeit und die Leistungen an Völker und Staaten verteilt.