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Wenn auch alle Schriften über den sozialen und politischen Charakter der fast 130 Millionen unter dem Sternenbanner mit dem Bekenntnis anheben, es sei schier unmöglich, die Seele einer so großen und so bunten Masse zu analysieren, so wollen wir doch einmal eine Ausnahme machen und als Geographen nach dem fragen, was in dieser Volksseele kraft der Lage der Vereinigten Staaten von Amerika zwischen 49° und 25° N.B. und zwischen dem Atlantischen und Stillen Ozean, kraft der großen Züge ihrer Gebirgs- und Stromgliederung und kraft der kleinen Elemente ihrer Landschaft bis herab zum Spottvogel und zur duftenden Rhodora sein muß. Wir gehen nämlich von der Ansicht aus, daß die Beurteilung eines Volkes wesentlich vereinfacht wird, wenn man nach denjenigen Wirkungen der Umwelt zuerst fragt, die so sicher da sein werden, wie die Natur sich in unseren Augen spiegelt.
In den Vereinigten Staaten von Amerika heißt eine gebräuchliche Ermahnung: « Go west, young man, and grow up with the country .« Nun, dieses Aufwachsen mit dem Land, was ist es als ein innigeres Zusammenwachsen mit dem Land ? Das kann aber nur stattfinden, wenn die Seele sich ausweitet, um fähig zu sein, die weiten Räume zu umfassen, die dort immer jenseits der bewohnten und kultivierten Gebiete sich auftaten und noch heute in gewaltiger Ausdehnung, wenn auch nicht mehr menschenleer wie einst, von den dichtbewohnten atlantischen Gebieten westwärts hinausziehen.
Hier kommt die geographische Lage in Betracht, die den Raum eines halben Erdteils bewältigbarer erscheinen ließ, als er eigentlich war.
Der Atlantische und der Stille Ozean: das waren zwei Ziele von größter Bestimmtheit, auf die man hinstreben mußte, wo die denkbar besten und einfachsten Grenzen von der Natur selbst gesetzt waren. So zeichnete die geographische Lage die große politische Aufgabe des wachsenden Staates mit einer Sicherheit und Einfachheit auf die Weltkugel, die in der Geschichte noch nie dagewesen war. Das geflügelte Wort: »Die Eisenbahnen verkleinern England und vergrößern Amerika«, dessen Raum sie erst nutzbar machen, sprach die klare Einsicht in die Folgen dieses Verkehrsmittels aus.
Ralph Waldo Emerson, der neuengländische Seher, ermahnte die Gesetzgeber, welche Gesetze für ein Land zwischen dem Wendekreis und den Schneefeldern machen: »Sorget, daß die Größe dieser Natur in eueren Werken sei.« Er vertrat in diesem Ringen mit dem Raum den Anspruch der Seelen, die nicht mit Territorien, Gold oder Weizen abzuspeisen sind.
Der Griff nach den Philippinen, dem übrigens die Erwerbung von Hawaii vorangegangen war, ist nur der letzte Ruck jener aus zahllosen kühnen und opfervollen Zügen sich zusammensetzenden Bewegung nach dem Westen, die anhub, als der erste Karren virginischer oder deutsch-pennsylvanischer Ansiedler vom Waldrücken der Alleghanies in die grasreichen Taler von Tennessee oder Kentucky hinabrollte, dem noch unbekannten Westen entgegen.
Kalifornien hat seit dem Anfang seiner Besiedelung durch die Amerikaner nicht aufgehört, das Interesse der Welt zu fesseln. Erst waren seine Goldgruben staunenerregend und fast mehr noch das ungewöhnliche, wilde und bunte Treiben, das sie um sich versammelten; dann folgte die regelmäßige Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse und besonders des Ackerbaues, welche ein merkwürdig fruchtbares Land und ein ebenso unerwartet fleißiges und unternehmendes, auch im Kleinen rastlos tätiges Volk kennen lehrte, und gegenwärtig (1875) verfolgen wir mit demselben Anteil die Entwicklung seiner Weltstellung und vorzüglich seiner Welthandelsstellung, der eine so große Bedeutung bei der Hereinziehung der zwei großen ostasiatischen Kulturvölker in den Kreis unseres Verkehrs und unserer Ideen, zugewiesen ist. Das weiträumige Denken Amerikas würde sich nicht zur beherrschenden Kraft eines großen Geschichtsabschnittes haben entwickeln können, wenn nicht die Anregungen der äußeren Umgebungen auf einen wohlvorbereiteten Boden gefallen wären.
Doch der ehrliche Ackerbau braucht in den jungen Ländern weiteren Raum als in den alten. Das wußte schon Georg Washington, der in einem Briefe aus seiner Landbauerzeit schreibt: »Es ist hier lohnender, viel Land schlecht als weniges gut anzubauen.«
Die Tatsache bleibt indessen bestehen, daß leicht ein blinder Glaube an die heilsame Wirkung des Großen, Umfassenden zu einem gefährlichen wirtschaftlichen und politischen Aberglauben wird. Einmal hat allerdings dieser Glaube nicht getäuscht: das war, als er vertrauensvoll in der Weite des Landes die Macht und den Reichtum des wachsenden Volkes geborgen sah; er hat seine heilsame Macht auch in der opferwilligen Entschlossenheit bewiesen, womit die Vereinigten Staaten der Loslösung des Südens vom Norden sich entgegenstemmten. Aber seitdem haben so viele große Fehlschlage bewiesen, daß mangelhafte Einrichtungen nicht besser werden, indem man sie über weite Gebiete ausbreitet.
Der anglokeltische Optimismus , der die Seele der unglaublichen Zähigkeit und Ausdauer ist, die sich selbst unter den widrigsten Verhältnissen bewähren, ist im Amerikaner unter der Gunst seiner Lage und seiner Hilfsquellen noch gewachsen. Das ist nicht mehr bloß ein Überschuß von Lebenskraft, es ist ein Grundsatz daraus geworden, der das Leben so leitet, als ob es immer nur ins Lichte und Sonnige hineinführe, immer vorwärts und aufwärts. Wenn ihm auch gewaltige Enttäuschungen nicht erspart bleiben, wenn er auch bedenkliche Bünde mit Lüge und Betrug schließt und beim Dummen zu lächerlicher und gefährlicher Leichtgläubigkeit ausartet, bleibt er doch eine Kraft in der Bildung neuer Gesellschaften und Staaten.
Heute gießt die voreuropäische Kultur Amerikas ein eigenes Licht über das geschichtliche Bewußtsein der Amerikaner. Ihre Auffassung der Geschichte ist deutlich beeinflußt durch die Tatsache, daß vor ihrer Kolonialgeschichte eine indianische Geschichte sich in undurchdringliche Welten erstreckt. Diese ganz nahe Berührung zwischen Geschichte und Ethnographie bringt die Probleme der Rassen- und Stammesgeschichten jedem geschichtlichen Sinn näher. Und dazu kommt die immerdar fortglühende Negerfrage, die noch weitere Perspektiven in die unberechenbare Verflechtung der Entwicklung eines Volkes europäischen Stammes mit Nassen afrikanischen und amerikanischen Ursprungs eröffnet. Dazu muß man endlich die wetten Räume rechnen, die überall durch die noch jungen Merke der Kultur durchschimmern) ihrer Bedeutung ist jeder praktische Politiker drüben sich so klar bewußt, daß sie unmöglich dem Geschichtsforscher fremd bleiben könnten. Das alles zusammen bildet ein ganz anderes Medium für geschichtliche Auffassungen und Studien als das enge Europa mit seiner alten, einförmig von Völkern derselben Rasse getragenen, ununterbrochen ihre eigenen Spuren von neuem beschreitenden Geschichte.
Wo der Anfang der Geschichte eines Staates die Lichtung des Waldes und die Erbauung des Blockhauses ist, da empfängt zunächst der Geist des einzelnen die Empfindung, enger mit dieser Geschichte zusammenzuhängen, als wo die Anfänge in mythischer Dämmerung liegen oder in Pergamenten aufgezeichnet sind, deren Sprache die Gegenwart nicht mehr versteht.
Eine große Auffassung der Beziehungen zwischen Boden und Geschichte tritt uns in manchen geschichtlichen Einzelarbeiten entgegen. Frederick Turner hat in seiner geistvollen Arbeit » The Significance of the Frontier in American History« (Annual Report American Historical Association Washington 1893) die Grenze der westwärts wandernden nordamerikanischen Kultur als den »äußersten Rand der fortschreitenden Welle, die Berührungslinie zwischen Zivilisation und Wildheit« studiert. Er fand nicht eine Linie, sondern einen breiten Wachstumssaum, in dem die Rückkehr zu primitiven Bedingungen sich unter langsamem Fortschreiten wiederholt.
Die panamerikanischen Bestrebungen, die ganz Amerika als eine politische Einheit der ganzen übrigen Welt gegenüberstellen möchten, stützen sich auf die geographische Einheit der Neuen Welt. Niemand bezweifelt, daß Amerika als Erdteil ein Ganzes ist. Die Frage ist nur: Wieviel bedeutet das praktisch? Wir glauben, die ethnische Verschiedenheit sei ein politisch wichtigeres Merkmal Amerikas als der geographische Zusammenhang. Kein Meer vermöchte Nord- und Mittelamerika tiefer voneinander zu scheiden als der Gegensatz der Abstammung und der Geschichte seiner Völker. Was bedeutet es für Mexiko, breit mit Nordamerika zusammenzuhängen, im Vergleich mit der Tatsache, daß 81 Prozent der Bevölkerung Mexikos Indianer oder Mischlinge sind, deren Anschauungen, Sitten und Glauben den Stempel der spanischen Abkunft tragen?
Halbkultur im wörtlichsten Sinne des Wortes war das Produkt der indianischen Politik Spaniens, welche bekanntlich den Indianer förmlicher, gesetzlich ausgesprochenermaßen als ein unmündiges Kind behandelte, den sie deshalb den weltlichen Behörden möglichst entzog, um ihn wesentlich zu einem Bekehrungsobjekt der zahlreichen Geistlichen zu machen. Man sieht die Früchte in ganz Süd- und Mittelamerika, wo diese Politik den Indianer in seiner ganzen Trägheit und Geistesverlassenheit künstlich konserviert und zur Bildung von spanisch-indianischen Mischrassen Anlaß gegeben hat, welche allmählich das europäische Blut aufsaugen, die natürlichen Rassenschranken beseitigen und bei allen Kulturprätensionen jene reichen Länder offenbar in eine Barbarei zurückfinden, die noch unter der indianischen steht, weil sie vor lauter Prätension die Arbeit verlernt hat.
Nordamerika steht neben Mittel- und Südamerika als die germanische Hälfte der Neuen Welt und die Vereinigten Staaten noch besonders als das Land der ausgesprochensten Mehrheit und Vorherrschaft der reinen europäischen Rasse. Wer die ethnographischen Unterschiede der Völker der Neuen Welt einmal erkannt hat, der wird sich sagen: Trotz seiner geographischen Absonderung wird Amerika keine Einheit sein. Aus dem europäischen Gesichtspunkt ergibt sich daraus die Folgerung, daß Süd- und Mittelamerika für den politischen und wirtschaftlichen Unternehmungsgeist europäischer Völker einen ganz anderen, freieren Boden darbieten als Nordamerika.
Dennoch wird die Zukunft Amerika immer selbständiger als die größte einheitlich gebaute und geartete Weltinsel unserer Erde hervortreten und immer stärker über den Stillen Ozean hin wirken sehen.
[Die Selbstausschaltung Europas durch den Zeitraum innerer Kriege und Gegensätze, die seit 1914 kaum unterbrochen war, hat auch politisch und wirtschaftlich die Erfolgsaussichten panamerikaner Gedankengänge weit mehr verstärkt, als das zu Lebzeiten Ratzels angenommen werden konnte. Wenn auch auf den panamerikanischen Konferenzen, die unter dem führenden Einfluß der U. S. A. stehen, die von R. erwähnten völkischen Verschiedenheiten immer noch der Herausbildung eines amerikanischen »Überstaates« im Wege stehen, so ist doch eine stets enger werdende wirtschafts- und wehrpolitische Zusammenarbeit der amerikanischen Staaten festzustellen. D. Hrsg.]
Wenn man in Amerika die hinreißende Macht gesehen hat, womit räumlich große politische Gedanken auf die Gemüter der Menschen wirken, legt man größere Maßstäbe auch an die europäischen Verhältnisse. Wie in Amerika zuerst der Staat von Meer zu Meer, dann der Grundsatz »Amerika den Amerikanern«, endlich der Gedanke einer großen pazifischen Politik, den man in Europa noch immer nicht recht erfaßt hat, schwungradgleich die politischen Auffassungen in Bewegung und im Wachsen erhalten hat, ist im höchsten Grade lehrreich. Es ist ja möglich, daß kleinere Differenzen, wie die alten zwischen Nord und Süd, oder die neueren zwischen den atlantischen und den Mississippistaaten, darüber nur eingeschlummert sind. Aber jedenfalls schlummern sie einstweilen sehr tief.
Wenn ich nun sehe, wie den großen politischen Gedanken die großen wirtschaftlichen Entwürfe folgen und auch nicht etwa bloß Entwürfe bleiben, so muß ich jenen eine schöpferische Kraft zuerkennen, die durch gewaltige Werke wie die Pazifikbahnen oder den Interozeanischen Kanal oder die Kanäle im Seengebiet vereinigend wirken.