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Unsere Erde ist in sich ein Ganzes durch die alle Einzelkörper und Einzelwesen beherrschende Schwerkraft; sie ist auch nach außen ein Ganzes, gehalten im Sonnensystem durch dieselbe Schwere und sich nährend aus dem ungeheuren Born lebendiger Kraft, der in der Sonne quillt. Dadurch ist alles auf unserer Erde mit einer solchen tiefen Notwendigkeit in eines verbunden und gefügt, daß nur der Reichtum der Einzelentwicklungen manchmal die zusammenzwingende Zusammengehörigkeit übersehen lassen kann. Es leuchtet ja ein heller Schein von Freiheit über der menschlichen Gesellschaft. Aber wird sie nicht zu Staub, von dem sie genommen ist? Wir wissen nicht, welcher höheren Sphäre die Seele des Menschen angehört. Was wir vom Menschen wissen, gehört der Erde an, stofflich, physikalisch und entwicklungsgeschichtlich.
Daher kann auch die Anthropogeographie nur als ein Zweig der Biogeographie gedacht werden, und eine Reihe von biogeographischen Begriffen muß ohne weiteres auf die Verbreitung des Menschen Anwendung finden. Dazu gehört das Verbreitungsgebiet oder die Ökumene, die Lage auf der Erde in allen ihren Kategorien, wie Zonenlage, Lage zum Erdteil oder anderen größeren Abschnitten der Erdoberfläche, besonders auch zu den Meeren, Randlage, Innenlage, Außenlage, zerstreute Lage. Es gehören dazu ferner die Raumverhältnisse, der Kampf um Raum, die Lebensentwicklungen in engen und weiten Räumen, in insularen und kontinentalen Gebieten, die Höhenstufen, die Hemmungen und Beschleunigungen durch die Formen des Bodens, die vorauseilende Entwicklung in einschränkenden, zusammendrängenden Gebieten, der Schutz, den die isolierten Lagen gewähren. Endlich muß man auch alle Eigenschaften der Grenze als Erscheinungen an der Peripherie lebendiger Körper auffassen.
Man hat gestritten, ob man das Volk und den Staat einen Organismus nennen dürfe. Verglichen mit Pflanzen und Tieren, bei denen am vollkommensten der Organismus ist, in dem die Glieder dem Ganzen die größten Opfer an Selbständigkeit zu bringen haben, sind Völker und Staaten äußerst unvollkommen, weil in ihnen die Menschen ihre Selbständigkeit sich bewahren, selbst als Sklaven sie nicht abzulegen vermöchten. Der Mensch ist auch als Glied des Volksorganismus das individualisierteste Erzeugnis der Schöpfung, er opfert keine Faser und keine Zelle dem Ganzen, nur seinen Willen opfert er, indem er ihn hier beugt und dort fürs Ganze wirken läßt. Völker und Staaten ruhen also allerdings als Lebewesen in demselben Grunde wie Pflanzen und Tiere; soweit man sie mit diesen vergleichen kann, sind sie aber nicht eigentliche Organismen, sondern Aggregat-Organismen, die erst durch die Wirkungen geistiger und sittlicher Mächte den höchsten Organismen nicht bloß ähnlich, sondern weit überlegen werden an zusammengefaßtem Leben und Leisten.
Dagegen teilen die Völker einen Grund ihres Zusammenhanges mit allen anderen Lebewesen. Das ist der Boden , der die einzelnen zusammenbindet. Er ist das einzige stofflich Zusammenhängende in jedem Volke. Im Fortschritt der Geschichte wird diese Verbindung nicht etwa durch die fortschreitende Freimachung geistiger Kräfte lockerer, sondern sie wächst mit der Zahl der Menschen, die von demselben Boden leben müssen, und mit der Ausnutzung der Schätze des Bodens. Daher auch in aller Geschichte das Wachsen der Neigung, das Volk mit dem Boden enger zu verbinden, es gleichsam einzuwurzeln. Unser Blick in die Geschichte der Menschheit umspannt nicht jene großen Zeiträume, die notwendig sind für die Herausbildung neuer Formen; wir haben daher noch keine neue Rasse entstehen sehen. Wir kennen nur Völkervarietäten, die unter günstigen Bedingungen sich zu Rassen ausbilden könnten. Dagegen sind wir Zeugen von dem Aussterben von Völkern gewesen, die wir als rassenhaft und kulturlich ältere ansehen mußten, und haben gesehen, wie an ihre Stelle jüngere Teile der Menschheit, Träger einer jüngeren Kultur getreten sind. Jedenfalls kann uns die Menschheit, so wie sie vor uns steht, nur das Erzeugnis ihrer eigenen Geschichte und zugleich der Geschichte der Erde sein. Beide sind unauflöslich verbunden und werden es bleiben. So wie der Mensch erst gekommen ist, als die Erde schon eine lange Geschichte hinter sich hatte, könnte er auch wohl, als die höchste Blüte am Baum der Schöpfung, eher welken, als es für ältere Lebensformen Abend geworden ist.
Die Anthropogeographie lehrt viererlei Beziehungen des Volkes zu seinem Boden: Wir bedürfen des Bodens, um darauf zu wohnen ; unsere Wohnstätte auf diesem Boden braucht Schutz , der nur wirksam sein wird, wenn wir unseren Wohnboden soweit frei von Feinden halten, seien es Menschen oder Tiere, wie unser Blick reicht; auch für unsere Toten brauchen wir Boden, in dem wir sie beisetzen, und unsere Erinnerungen haften an den Stellen, wo sie gewandelt sind; endlich brauchen wir Boden zur Ernährung , sei es Jagd, Fischfang, Ackerbau oder Viehzucht, Gewerbe oder Handel, die uns Nahrung bieten. So stehen wir also auf dem Wohngebiet, umgeben vom Schutzgebiet, das zunächst der Horizont begrenzt, und umgeben von unserem Nähr- oder Erwerbsgebiet, das groß und klein, nahe und entfernt sein kann; und über dem Ganzen schweben unsere Erinnerungen und Gefühle, die vorübergehend an dieser oder jener Bodenstelle, am festesten aber dort haften, wo wir oder die Unsrigen wohnen oder wohnten. In diesen vier Beziehungen steht auch jede menschliche Siedelung , sei es Hütte oder Stadt, zu ihrem Boden: Wohnplatz, Heimat, Schutzgebiet und Erwerbsgeist. Das sind gleichsam vier Kreise, die um unsere Existenz geschlagen sind.
Wenn wir den Menschen in alles übrige Leben der Erde eingliedern, so kann uns bei der Erforschung der Stellung des Menschen zur Erde nur dieselbe Methode führen, die wir auf die Verbreitung der Tiere und Pflanzen anwenden. Die Anthropogeographie wird ebenso wie die Tier- und Pflanzengeographie die Gebiete beschreiben und auf Karten zeichnen, wo Menschen vorkommen . Sie wird den von Menschen bewohnten Teil der Erde als Ökumene abgrenzen von den Teilen, aus denen Menschen ausgeschlossen sind. Sie wird die Verbreitung der Menschen innerhalb der Ökumene erforschen und auf Karten der Dichtigkeit, der Siedlungen, der Wege eintragen. Und da die Menschheit aus Rassen, Völkern und kleineren Gruppen besteht, die von Natur oder durch Geschichte verschieden sind, erforscht sie auch die Ausbreitung dieser Verschiedenheiten und stellt sie auf Rassenkarten, ethnographischen Karten, Sprachenkarten, politischen Karten dar.
Indem sie nun bei jedem Rassen- und Völkergebiet fragt: Wie ist es entstanden? treten ihr die Bewegungen der Menschen in ihrer Abhängigkeit vom Boden entgegen. Denn sie erkennt, daß kein Volk auf dem Boden entstanden ist, auf dem es heute sitzt, und schließt, daß es auch nicht ewig auf diesem Boden bleiben wird. Völker breiten sich aus und werden zurückgedrängt. Und bei allen diesen Bewegungen ist nun die Erde nicht bloß der leidende Boden. Sie weist ihnen mit ihren tausend Verschiedenheiten der Lage, des Raumes, der Bodengestalt, der Bewässerung und des Pflanzenwuchses die Wege, hemmt, fördert, verlangsamt, beschleunigt, zerteilt, vereinigt die sich bewegenden Massen.
Als eine dritte Gruppe treten uns die Wirkungen der Natur auf den Körper und Geist der einzelnen und durch diese auf ganze Völker entgegen.
Wir wollen ein Beispiel wählen: Als die von Nordwesten und aus höhergelegenen Gegenden in das östliche indische Tiefland einwandernden Arier unter dem Einflusse des erschlaffenden Tropen- und Tieflandklimas bald aufhörten, die »Würdigen« oder »Beherrschenden« zu sein, als welche ihr Name sie kennzeichnet, war dies ein rein physiologischer Vorgang, welchen die Physiologie des Menschen im Einzelorganismus zu verfolgen hat; sie wird dann seine Verbreitung über die Masse dieses Volkes und seine daraus sich ergebende Herleitung aus allgemein verbreiteten natürlichen Ursachen erforschen. Den Bezug, welchen sie so erst zwischen Natur und Einzelmenschen, dann zwischen Natur und Volk nachgewiesen hat, übernimmt die Geographie als Tatsache zu weiterer Verwertung.
Wie aber die Arier, wenn sie dem Laufe der Jamuna und des Ganges süd- und ostwärts folgten, auf längst dort ansässige Völker stießen, dieselben zurückdrängten oder zwischen sie sich einkeilten und wie Stämme ihres eigenen Volkes nachdrängten und die früher hergezogenen weiterschoben, ist eine Raumfrage und damit ein rein geographisches Problem. Und nicht minder sind es die Staatenbildungen, in denen die verschiedenen Gruppen der Eroberer sich im neuen Lande festsetzen und gegeneinander abgrenzen.
Wie die Völker räumlich aufeinander folgen, von den Bharata am oberen Ganges, deren Festsetzung die Wanderbewegung abgeschlossen zu haben scheint, bis zu den südlich vom Ganges vorgedrungenen Magadha, welche wie die Spitze dieses arischen Keiles am tiefsten in die Urbewohner hineingetrieben waren, hat der Geograph zu erkennen und zu beschreiben oder zu zeichnen. Natürliche Gegebenheiten begünstigten oder beschränkten ihre Ausbreitung, ihre Absonderung, ihre selbständige Behauptung und Erhaltung, und außer der Feststellung aller jener räumlichen Tatsachen ist auch die Erforschung dieser natürlichen Gründe und Ursachen dem Geographen übertragen.
Neben jener physiologischen und dieser raumbestimmenden erscheint nun aber noch eine weitere Art von Wirkung in der Natur, wenn dieselbe Anlaß gibt, schon vorhandene Eigenschaften eines Volkes oder Volksbruchstückes auszubreiten oder zu verstärken oder durch gründliche Mischung neue zu schaffen. Ein abgeschlossenes Land begünstigt die Bildung eines einheitlich gearteten Volkes, indem es die Mischung mit von außen herkommenden fremden Elementen ausschließt oder vermindert. Daher sind vor allem die Inseln in der Regel durch größere Einheitlichkeit ihrer Bewohner nach Kultureigenschaften und sogar nach Rassenmerkmalen ausgezeichnet. Ein weit offenes Land begünstigt dagegen die Mischung, das Ineinanderfließen der Völker. In dem Falle, welchen wir hier als Beispiel gewählt, zeigten sich Wirkungen dieser Art in der starken Vermischung der Vaiçia oder eingewanderten Stammesgenossen mit den ansässigen Cudra, welcher in dem weiten Gangestiefland kein Hemmnis in Gestalt natürlicher Grenzen entgegenstand und welche darum durch keine noch so strenge Auseinanderhaltung der Kasten oder »Farben« zu hindern war, während in den Gebirgstälern, wo die Vorberge des völkertrennenden Himalaya natürliche kleine Völkergebiete absondern, das arische Blut und ebenso in einigen Gebirgslandschaften der Halbinsel das dunkle Blut der Eingeborenen sich reiner erhielt als ringsumher.
Lange ehe die aus der Verbindung des Menschen mit der Erde hervorgehenden Erscheinungen als Aufgabe der Geographie wenigstens zum Teil erkannt waren, hat die Geographie aus äußerlichen Gründen mit Vorliebe den Menschen und seine Werke dargestellt.
Die starke und zuzeiten übertriebene Betonung des menschlichen Elementes in der Geographie hat die Beziehungen zwischen Geographie und Geschichte verdunkelt. Die Geschichte braucht die Geographie, um den geschichtlichen Boden und die politischen Raumgebilde zu zeichnen, zu messen und zu beschreiben.
Weist man der Geschichte das zeitliche Geschehen , der Geographie das räumliche Sein zur Erforschung zu, so vergesse man nicht: alles Geschehen findet im Raume statt, jede Geschichte hat also ihren Schauplatz.
Herders Satz von der Geschichte als einer in Bewegung gesetzten Geographie bleibt wahr, auch wenn man ihn umkehrt, und so wie so folgt daraus, daß die Geschichte nicht verstanden werden kann ohne ihren Boden, und daß die Geographie irgendeiner Erdstelle nicht darzustellen ist ohne die Kenntnis der Geschichte, die darauf ihre Spuren gelassen hat.