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Die Schwüle vor dem weltgeschichtlichen Gewitter des Sommers 1870 ist keine Stilblüte der Geschichtschreiber; sie lag wirklich in der Luft und drückte auf die Gemüter, die allmählich des Hangens und Bangens der deutschen Einheitsbestrebungen, die nicht zum Ziele kamen, der französischen Drohungen, denen keine Taten folgten, und des österreichischen Rachegefühls, das dumpf brütete, müde wurden. Heil dem Krieg, der kommen muß , und der alles in die rechte Ordnung rüttelt! rief es in jungen Gemütern, die sich des Krieges von 1866 erinnerten, wie er als ein die Luft reinigendes Gewitter schrecklich hereingebrochen und heilsam vorübergezogen war, heilsam auch für den Feind, der unterlegen war.
Wenn ich zurückschaue, erscheint mir das Volk Süddeutschlands ln jenen Tagen [1870] wie ein zwischen Schlaf und Wachen ringendes. Weil es gesund war, mußte es erwachen. Wie eine lebenskräftige Idee Leben schafft, das Zeigte in jenen Jahren die gewaltige Wirkung des vaterländischen Gedankens im deutschen Volk. Es ging ein allgemeines Wecken dessen, was in Schlummer versunken war, hindurch. Das war der wahre Sinn der Barbarossasage, die zu dieser Zeit gerade deshalb so volkstümlich wurde, weil man in der eignen Brust das Erwachen vaterländischer Wünsche und Hoffnungen erlebte. Wie wirr auch in dem großen Kessel Deutschland, das damals noch Großdeutschland war, die Stämme und die Parteien durcheinander brodelten, es stieg ein einziger Rauch aus ihm zum Himmel, immer wärmer und immer dichter.
Obgleich ich etwas Unbekanntem entgegenging, und hinter mir im tiefsten Schmerz meine Eltern ließ, erfüllte mich doch eine eigentümliche Freude, wie ich sie noch nie empfunden hatte; es schien mir, als sei mein ganzes Wesen, Geist und Leib, von dieser Freude ergriffen und durchdrungen von dem Augenblick an, wo ich mich entschlossen hatte, mein ganzes Ich einzusetzen. Bei Licht betrachtet, hatte ich viel aufgegeben und wußte nicht, wie sich meine Zukunft gestalten sollte. Aber ich war einig mit mir selbst. Kein Bedenken trübte die Klarheit der innern Erkenntnis dessen, was der Augenblick gebot.
Auf die Kältesten und Widerwilligsten wirkte die große Einheit und Klarheit im Wollen und Stieben der Masse. Eine Volksbewegung, in der die Masse nichts Dummes tut, wie ihre Neigung ist, sondern den Winken eines genialen Staatsmannes mit der ganzen Inbrunst folgt, deren die Volksseele fähig ist, imponierte nicht bloß den »Achtundvierzigern«, die ganz andre Volksbewegungen gesehen hatten. Hier war in der Tat eine elementare Kraft an der Arbeit.
Über die große Erregung des Augenblicks hinaus lag das weit über den Gesichtskreis dieser bewegten Tage hinausziehende Gefühl, an großen Taten, auch an großen Gefahren teil zu haben, und die Aufforderung, die daraus an jeden erging, für beides die besten Kräfte bereit zu halten.
Es gehört ungeheuer wenig von seiten eines Vorgesetzten dazu, sich in den bessern Elementen seiner Untergebenen – und das ist die Mehrzahl – anhängliche Leute zu erziehen, die ihm jeden Wunsch an den Augen absehen und für ihn durchs Feuer gehen. Leichter bildet sich ja ein innigeres Verhältnis zwischen Kameraden, die in Reih und Glied nebeneinander marschieren; Stand, Besitz oder Bildung machen dabei keinen Unterschied, denn in diesem Augenblicke sind sie demselben Gesetz unterworfen, fesselt sie dieselbe Disziplin und leitet ihr Denken und Tun dieselbe Notwendigkeit der Ausebnung aller persönlichen Wünsche und Bestrebungen durch die Zugehörigkeit zu einer Masse von Männern gleichen Alters, gleichen Berufs und gleicher Pflichten. Ich möchte mich aber durchaus nicht darauf beschränken, zu sagen, das Leben in Reih und Glied sei der Freundschaft günstig; es handelt sich um etwas mehr. Ich habe erfahren, wie dieses Leben die ewigen Grundlagen menschlicher Gleichnatur im tiefsten Grunde männlicher Seelen aufgräbt und Quellen erschließt, die für gewöhnlich nur in engen Spalten mühsam tröpfeln oder rieseln. Not und Gefahr vereinigte entlegene Quelladern, und als starker Strom, der großer Leistung fähig ist, traten sie zutage. Was alles sich unter diesen Verhältnissen an Beziehungen von Mensch zu Mensch entwickelt, will ich gar nicht mit dem allgemeinen Namen Freundschaft decken, denn es spielt hier Achtung, Bewunderung, Nacheiferung, Schutz- und Anlehnungsbedürfnis, kurz eine Reihe von elementaren Gefühlen hinein, deren gleicher Natur sich die Menschen in andern Lagen kaum jemals so inne werden. Wann werden wir im bürgerlichen Leben uns des kaltblütigen Mutes bewußt, der ohne Wimperzucken dem Tode entgegengeht? Nun wohl, gerade auf dem Bewußtsein der Gemeinsamkeit dieser Eigenschaft habe ich die festesten Freundschaften, die zum Opfer des Besten, was jeder hatte, befähigten, entstehn sehen. Jede von ihnen hat freilich der Tod sehr früh gelöst, was man ja fast natürlich finden möchte, wenn man bedenkt, daß eben die Unkenntnis aller Todesfurcht ihr Kitt gewesen war. Was bedeutet aber die Zeit in dem Leben großer Gefühle? Eine Blume, die nur eine Stunde geblüht hat, macht mich solange glücklich, wie ihre Erinnerung in meiner Seele nicht verwelkt, wie ihr Duft durch mein frohes Gedenken zieht.
Ich lernte ertragen, was mich am fremdartigsten berührt hatte, nie einsam mit meinen Gedanken zu sein. Eine große Sache für Menschen, die sich Sinnen und Denken zur Lebensaufgabe gemacht haben!
Wie wenig kennt der unsre alemannischen Bauern, der da meint, ihr inneres Leben sei so einförmig wie ihre Tagewerke und so einfach wie ihre einsilbige Rede! Die Kunst der Beurteilung der Menschen wäre leicht, wenn sie sich auf das beschränken könnte, was einer spricht; man muß aber mindestens zu ahnen wissen, was unter seinem Schweigen liegt. Die Augen deuten es an, und die Handlungen sprechen es oft mit überraschender Deutlichkeit aus. Vieles kommt erst zum Vorschein, wenn die Wärme einer herzlichen Liebe das Mißtrauen durchschmilzt, das die Herzen einfacher Leute umschalt und preßt, so daß sie sich kaum regen können und verlernen, in Freude oder Schmerz höher zu schlagen.
Der Bauernsohn marschiert von vornherein anders als das Stadtkind, ei ist besonders ein Virtuos im leichten Wegschreiten über Feld und Stein, besonders über frischgeackertes Feld, wo am schwersten durchzukommen ist. Solche Märsche sind ja sehr oft der Anfang einer Schlacht oder eines Gefechts, und sie ermüden einen Teil der Mannschaft außerordentlich und gewiß zur Unzeit. Die Kompagnien in eine breite Front auseinandergezogen, der Schützenzug ein paar hundert Schritte zurück, so sieht man sie durch Schollen und über Löcher hin sich vorarbeiten; immer ein mühseliger Anfang. Wieviel frischer und heiterer geht es auf braunem Heideboden vorwärts, wie man ihn in den Vogesenhöhen und wieder auf den Hügeln an der Sarthe hatte! Um über frischgepflügten Acker mit Behagen hinzusteigen, mußt du in der Furche hinter dem Pflug gegangen sein und mit harter Sohle die Erdschollen zertreten oder zur Seite geschleudert haben; Spaziergänger, die nur Pflaster und Asphalt betreten, lernen nie diese volle Rücksichtslosigkeit des »durch« und »drauf«.
Solange der Soldat nicht stumpfsinnig geworden ist, bietet er seine letzten Kräfte auf, in seinem Verbande zu bleiben. Ich möchte sagen: in Reih und Glied zu bleiben, ist die Bedingung des guten Gewissens beim Soldaten. Er schleppt sich in seinem Bataillon mit, bis er zusammenbricht. Der Soldat, der seine Nebenmänner, seinen Vor- und Hintermann verläßt, mit denen er sozusagen verwachsen sein muß, gibt sich selbst auf, ist kein rechter Soldat mehr, ist, auch rein menschlich genommen, ein Tor oder ein Subjekt, das auf Schlechtes sinnt. Die Entfernung zwischen ihm und der Truppe nimmt nicht bloß räumlich rasch zu; sie wächst moralisch mit der Entfernung noch schneller, verderblich und verführerisch schnell.
Nachtmarsch, bei deinem Namen senkt sichs düster wie späte Dämmerung um mich herab, und ich höre die Kolonne schlurfend, schweigend dahinziehn. Töne, die am Tage verwehen oder sich im Licht verflüchtigen, werden nun laut; man hört jeden Fehltritt, jedes Straucheln und das Klappern des Schlosses, wenn das Gewehr von der einen müden Schulter auf die andre wandert. Das dumpfe Rollen der Geschütze und Protzen und der Marsch der Kanoniere, die ganz hinten in der Kolonne kommen, machen jetzt eine ganz besondre Musik, Säbelscheiden, Karabiner, Satteltaschen, Schmierbüchsen, und was sonst um Pferde und Geschütze baumelt, klingt darein. Aber man hört auch aus dem tastenden Tritt der Hufe die Müdigkeit der Pferde.
Der Krieg ist für den Soldaten die Zeit des schroffsten Wechsels aller Lebensbedingungen. Er besingt diesen Zustand, ohne ihn viel zu bedenken, selbst fast jeden Tag, wenn er in den Morgen hineinmarschiert.