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Einleitung

Friedrich Ratzel als raum- und volkspolitischer Gestalter

Kein stärkeres politisch-wissenschaftliches Temperament und keinen weitsichtigeren Erzieher seines Volks zu großräumiger Weltbetrachtung hat das Zweite Reich der Unsterblichkeit im Dritten Reich übergeben, als Friedrich Ratzel, mit seiner mächtigen, wenn auch späten Wirkung von der Wissenschaft her in die Raumpolitik. Am 30. August 1844 als Sohn eines Schloßbeamten zu Karlsruhe geboren, durchlebte er 15 glückliche naturnahe Jugendjahre zwischen dem kleinen Tierpark und der reichen Schloßbücherei: inmitten des Wellentals zwischen der großartigen Schwellhöhe der Befreiungskriege und ihrer Nachwirkung und dem Wiederanheben des Wogenkamms zur Gründung des Zweiten Reiches. Als dieses Reich von der Scheitelhöhe seiner kurzen Flugbahn schon im Herabgleiten war, aber dennoch voll von Auftrieb zur Weltgeltung und Glauben an eine weltüberspannende Bestimmung des deutschen Volkes, ereilte den rüstigen 60er am 9. August 1904, noch in voller Leistungshöhe, der Tod. Seine letzten Klagen galten dem vermeintlichen Leid, daß er keine Schule seines Wirkens hinterlassen habe, wenn auch eine kleine Schar von Getreuen wie Helmolt, der Sammler seiner kleinen Schriften und Herausgeber einer Weltgeschichte in Ratzels großartiger geographischer Auffassung, wie Eckert, Hassert, Hantzsch, Sapper und Schoene zunächst sein Andenken im deutschen Volk lebendig hielten.

Weit über die deutsche Erde hinaus strahlte jedoch Ratzels weltpolitische Erzieherwirkung. Sie kam über Rudolf Kjellén, den großen schwedischen Staatsforscher, den besten Freund Deutschlands in schwerer Weltkriegsstunde, den Begründer der Forderung der Geopolitik, in sein Vaterland zurück, in dem sie mit dem Dritten Reich eine glanzvolle Wiederauferstehung feiern sollte. Freilich ist das weltpolitische Gedankengut von Friedrich Ratzel auch bei unseren Gegnern, bei Angelsachsen diesseits und jenseits des Atlantischen Ozeans, bei Japanern, Romanen und Russen lebendig geworden. Wir spüren es bei praktischen Grenzschöpfern und Grenzzerstörern, bei theoretischen Führern zur Volksseelenkunde und bei großartigen politischen Rednern, die das der Wissenschaft entrissene Gestein mit glutflüssigem Leben erfüllen. Gewiß haben, von ihnen selber anerkannt, Ideen von Ratzel in den geschickten Händen von Jean Brunhes und Camille Vallaux, von Jaques Ancel oder Demangeon am Verderben unseres Volkstums gewoben, wenn sie den ganzen Begriff Mitteleuropa verschoben, wenn diese Träger der französischen Geopolitik einen Donauraum gestalten wollten, aus dem sie die Deutschen ausschlossen, wenn sie die praktische Folge zogen aus dem, was Ratzel »das größte Unglück der deutschen Geschichte« nannte, daß es nicht gelang, die Waldfestung Böhmen im Herzen des deutschen Lebensraums völlig einzudeutschen. Denn das ist die Gefahrfolge auch der höchsten, in ihrer Art nur in einem ganz bestimmten Volksboden möglichen Leistung, wie die Ratzels im deutschen Volksboden war, daß ihre Früchte weltüber dem gehören, der sie sich durch geistige Arbeit zu eigen macht, der sie erwirbt, um sie zu besitzen, wenn der eigentliche Erbe dem fremden Nutznießer nicht zuvorkommt und die Gaben seines Volksgenossen nicht behütet. Diese Unterlassungssünde mußte dem deutschen Volk zur Last gelegt werden gegenüber dem lebensvollen, im höchsten Schwung unsterblichen Werk Ratzels. Er hatte sein Gedankengut hinterlassen in den verschiedensten, in irgendeiner Ausstrahlung für jeden zugänglichen Formen: vom leicht beschwingten Gedicht und Skizzenbuch bis zum schwersten bändereichen, mit Bildern und Karten erfüllten Standwerk. Aber sein Volk hat zu lange gebraucht, bis es das Weltbild, die Grundsätze und die Warnungen dieses großartigen Einzelgängers verstand und vor allem zwischen seinen Zeilen lesen lernte. Andere Fremdvölker taten es dem deutschen Volk darin zuvor; und erst zu Ende des ersten Jahrfünfts der deutschen Erniedrigung nach Versailles trat darin eine rettende Wendung ein.

Wie kam es, worin lag die Schuld, daß dieser Mann, dessen Lehren in Reden des deutschen Führers Adolf Hitler oder seines Stellvertreters, Rudolf Heß, für Millionen von Volksgenossen volkstümlichen Klang gewannen, in der scheinbaren Sonnenhöhe des Zweiten Reiches ein Einzelgänger werden mußte? Ein Einzelgänger noch dazu, dessen verständnisvollere Aufnahme in seiner Wissenschaft und volksnahe Wirkung dem deutschen Volk viele seiner Fehler in dem entscheidungsschweren Jahrzehnt von 1904 bis 1914 hätte ersparen können? Seine Kenntnis unserer weltpolitischen Gegenspieler, sein weitgespanntes Weltbild, seine Fähigkeit, die Gefahren der überhöhten, zu wenig raumweiten Stellung seines Volksbodens zu ahnen, hätten das Zweite Reich vom Abgrund zurückreißen können, wie sich staatsmännische Lehren in dieser Richtung fast für jede Gefahrwendung der deutschen Geschichte zwischen 1896 und 1914 verstreut in seinen Werken finden. Diese Seite seines Wirkens herauszuheben, die hoffentlich wegen ihrer Volksnähe und volkspolitischen Bedeutung die Unsterblichkeit seines Volkes teilt, ist ein Hauptzweck dieses Erinnerungsbandes. Aber mit dieser einen Wirkungsrichtung ist die großartige Schwingungsweite seines Gedankengutes nicht erschöpft. Denn Ratzel kam ja in seiner Selbsterziehung von der strengsten beobachtenden Naturwissenschaft her, früh einen schwärmerischen, Einsamkeit liebenden Zug entwickelnd, in jungen Jahren von fast unüberwindlicher Schüchternheit, um zuletzt als weltpolitischer Seher zu enden, der mit unbeugsamem Verantwortungsmut an jeder kritischen Wendung seiner Volksgeschichte mit redlichem Rat und wirkungsfroher Weisheit seine Meinung enthüllte.

Hin- und hergerissen ist auch dieses Leben in echt deutscher Weise zwischen Heimatliebe und Reiselust, zwischen echter Bodenwüchsigkeit und Bodenständigkeit und der Sehnsucht, Welt hinauszuwandern, der Bereitschaft zu raschem Flug. Diese Schwingungsweite seiner echt deutschen Seele hätte ihm das Leben eines Bücherwurms in Lebensfremdheit unmöglich gemacht. Nach dem Karlsruher Idyll wirbelte ihn das Schicksal als Fünfzehnjährigen zu vieljähriger Tätigkeit als Lehrling und Gehilfe in die Handwerkskunst der Pharmazie und ihre Begleitwissenschaften hinein; sie wurden ihm Anregung und Ansporn, schufen früh ein persönliches Verhältnis zu bedeutenden Gelehrten, den brennenden Wunsch zur Selbsterziehung in den Sprachen: alles abseits von genormter Laufbahn, abseits vom Dutzendtrott. Im Frühjahr 1862 bestand der Achtzehnjährige sein Gehilfenexamen in Neckarbischofsheim; 1863 wanderte er rheintalaufwärts nach Rapperswil in die Schweiz und von dort wieder 1863 rheintalabwärts nach Mörs bei Krefeld. Erst um Ostern 1866 durfte der noch mehr in harter Lebensschule als in der Pharmazie Erzogene seiner Anfangswissenschaft Lebewohl sagen und das Polytechnikum in Karlsruhe beziehen, wo ihn zunächst ein späterer Freund, Karl Zittel, für Geologie und Paläontologie in strenge Schule nahm, bis er im Herbst 1866 nach Heidelberg übersiedeln und dort im Mal 1868 das Doktorexamen bestehen konnte. Bis dahin galt seine wissenschaftliche Arbeit im strengen Rahmen der damaligen Zoologie, Geologie und vergleichenden Anatomie strengster naturwissenschaftlicher Spezialleistung. Ganz hat ihn seine erste Liebe auch nicht losgelassen? denn jener ersten reinen Spezialistenarbeit folgten noch andere, die nur über der späteren Geographen- und Journalistenleistung in Vergessenheit gerieten, wie auch der etwas kühne Anlauf zu einer Schöpfungsgeschichte, die unter dem Titel »Sein und Werden der organischen Welt« erschien. Manches darin, freilich durch Haeckels gleichzeitiges Werk überschattet, ist ein Vorklang zu den anregungsreichen späteren Bänden »Die Erde und das Leben«. 1868 und 1869 folgten die ersten Reisen nach Südfrankreich und nach Italien. Als Ratzel im Mal 1869 nach Heidelberg heimkehrte, hatte er sich schon einen Namen in der Presse und Wissenschaft gemacht und stand, wie noch manchmal in seinem Leben, vor der Wahl zwischen einer behäbigen wissenschaftlichen Anfangslaufbahn und fahrendem, wenn auch unsicherem Pressedienst. Kein Wunder, daß er den Pressedienst vorzog, wie er auch später einmal behauptete, daß jeder Politiker und jeder Wissenschaftler mit einem Tropfen journalistischen Öls gesalbt sein müsse. Auf diesen Fahrten war Ratzel bereits in Dresden vom Scharfblick von Karl Andree für die Geographie entdeckt worden, hielt aber zunächst noch an der Zoologie fest, geriet in die Fänge Adolf Bastians, unternahm Versuche, die Geographie mit der Ethnographie zu verbinden. Dabei schwebte ihm der Gedanke einer Ostasienreise vor, für die er bereits Malaiisch zu leinen anfing.

Inmitten dieser Vorbereitungen zum wirkenden Leben mit noch schwankenden Wunschzielen flammte das gewaltige Erlebnis des Krieges, das noch mehr als bei vielen anderen, nicht nur zur Feuerprobe des persönlichen Mutes und des ganzen Mannes wurde, sondern auch seinem ganzen Tun und Treiben eine mehr auf den Menschen gerichtete politische Leitlinie gab. Wir haben an anderer Stelle Vgl. Karl Haushofer »Friedrich Ratzel« in »Die großen Deutschen« Band 4, Berlin 1936. die »Glücksinseln und Träume«, Leipzig 1905, zusammen mit den »Bildern aus dem deutsch-französischen Krieg« (Grenzboten 64. Jahrgang) neben einzelnen Gedichten das edelste rein menschliche Dokument aus dem gewaltigen Schrifttum Friedrich Ratzels mit seinen 33 großen selbständigen Werken und mehr als 1240 Einzelstücken genannt. Bringen sie doch das starke Selbstzeugnis für den inneren Wandel in seinen letzten Seelentiefen, den der junge angehende Pressemann, Reisende und Wissenschaftler durch das Kriegserlebnis erfuhr. Erst dieses Kriegserlebnis hat ihn aus einem der vielen Berufenen zu einem Auserwählten unter den Volkserziehern gemacht, der er eben aus der vollerlebten Volksgemeinschaft im Kriege heraus geworden ist und bei seiner Seelenanlage weiden mußte. Der Höhepunkt dieses Kriegserlebnisses ist die Freundschaft, die Bewunderung für sein Vorleben der Kameradschaft, für sein Opfer der Pflicht durch einen, von dem kriegsfreiwilligen jungen Doktor ehrlich hochgeschätzten und nach seinem Heldentod verehrten blutarmen verwaisten Dorfschneider, dem er aus seiner Erinnerung heraus ein unvergängliches literarisches Denkmal gesetzt hat, das zu den edelsten und reinsten solcher Darstellungen im deutschen Kriegsschrifttum gehört.

Aus dem Kriegserlebnis heraus, in dem er sich selbst durch einen kecken nächtlichen Patrouillenvorstoß vor Auxonne als erster Gemeiner seines Regiments das Eiserne Kreuz erkämpfte, erwuchs Ratzel der innere Zwang zur geopolitischen und ethnopolitischen Volkserziehung, die Abkehr von der reinen Naturwissenschaft um ihrer selbst willen, die Hinwendung zu dem später so stark betonten Persönlichen, zur Völkerkunde, zur Hervorhebung des Menschen in der Landschaft, zur Anerkennung der politischen Dynamik in dieser Landschaft. Diese innere Umrichtung und Umschichtung gipfelte zuletzt über die Anthropogeographie emporschreitend in der politischen Geographie und ihrer staatsmännisch weitschauenden Anlage. Sie mußte schließlich eine Geographie der Staaten, des Verkehrs und des Krieges werden, sie mußte zu so schwungvollen Aufrufen seines Volkes führen, wie »Die Alpen inmitten der geschichtlichen Bewegung« oder »Das Meer als Quelle der Völkergröße«. Im gleichen Ton erklang das hohe Lied seines Deutschlandbuches, das Erich von Drygalski ebenso erneuert hat wie Eugen Oberhummer die politische Geographie, in der großzügigen Überschau »Die Erde und das Leben«.

Dem Kriege folgte für Ratzel ein bewegtes Wanderleben. Das Problem des Grenz- und Auslanddeutschtums erfaßte ihn in seiner vollen Macht bei Wanderfahrten in Siebenbürgen, im Sachsenboden dort, in der Wallachei und Bukowina. Im Herbst 1871 studierte er von Pest aus die ungarische Sprache und den Donauraum. Nach einem kurzen Aufenthalt in München reiste er nach den liparischen Inseln, noch einmal nach Sizilien und bestieg zweimal den Ätna. Auf die italienischen Wanderungen folgte eine Vertiefung in die Alpen als Arbeitsfeld, aus der schließlich eine der großartigsten politischen Einzelschriften hervorging. Im Juli 1873 ging Ratzel zwei Jahre über See in die Vereinigten Staaten, nach Cuba und Mexiko. Er ist bei aller Heimatliebe und Erdverbundenheit ein bodenfreier und raumüberwindender Geist geblieben, dessen Denken mehr dem ozeanischen, als dem kontinentalen Ausblick angepaßt war, wie er denn auch von dem Übergang von der Festlandbindung an die Küste und dem Schritt auf das Meer hinaus und auf die Gegenküste zu behauptete, daß er das großartigste sei, was über einen einzelnen und eine Völkergruppe ausgesagt werden könnte. Diese raumweite, weltüberschauende Denkungsweise blieb ihm auch zu eigen, als er nach seinen Wanderjahren zuerst in München und dann in Leipzig im akademischen Leben landfest und bodenständig wurde, ohne freilich trotz aller Hochschulverbundenheit jemals vom bayrischen Hochland, dem schließlichen Ziel seiner Seßhaftigkeit und letzten Ruhe, wieder loszukommen.

Auch die Überwindung dieses Gegensatzes war auf der einen Seite das notwendige Ergebnis seiner inneren, meerüber gewandten, ozeanumspannenden Fähigkeit zu schauen, für die eigene Person in großen Räumen weltumspannend zu denken und andere Menschen zu solchem Denken und zu solcher Weltschau zu führen, fast noch mehr durch Beispiel als durch Lehren. Auf der anderen Seite standen die Folgen der inneren Intensität seines Reiselebens und der Eigenart der Räume in der Neuen Welt, wohin es ihn zog, die ja damals in ihrer stärksten Bewegung und raumpolitischen Entwicklung waren. Es wäre naturwidrig, wenn einen solchen Mann der erneute Schritt des Deutschen Reiches auf das Meer hinaus, die Flotten- und Kolonialbewegung der Jahrhundertwende, nicht aufs stärkste erfaßt und zur Betätigung seiner Führergaben getrieben hätte. Im Vollschwung dieser Bewegung ist er gestorben; er hat wohl ihre Gefahr, aber auch ihre Notwendigkeit erkannt und gezeigt, aber zu seinem Glück den Rückschlag nicht mehr erlebt, nur immer wieder als Möglichkeit geahnt. Nach einigen Anzeichen in seinen Schriften hat er aber doch geglaubt, ein Hineinreifen der geistig ungenügend vorbereiteten deutschen Welt in ein weltumspannendes großes Völkerschicksal werde vielleicht das Überwinden der damit verbundenen Gefahr gestatten. Einen ähnlichen Vorgang hat er bei dem raumgeschichtlich verwandten, aber noch großräumigeren Heraustreten des japanischen Inselvolkes und Inselstaates in die Weltöffentlichkeit zu erkennen geglaubt und in dem gedankenreichen Aufsatz »Inselvölker und Inselstaaten« geschildert. Zu einer letzten, von Ratzel immer wieder beabsichtigten Zusammenfassung seines politischen Vermächtnisses an sein Volk ist es nicht mehr gekommen. So blieb dieser umfangreiche Erkenntnisschatz in Ratzels vielen politisch-geographischen Werken zerstreut. Er konnte nur später teilweise von seinen Jüngern Helmolt und Schoene gesammelt werden und wurde endlich auf dem Wege über Rudolf Kjellén Grundgut der geopolitischen Bewegung innerhalb des Dritten Reiches. Trotzdem ist Friedrich Ratzel vorbildlich geblieben mit seinem Verpflichtungsgefühl des akademischen Lehrers, an jeder Schicksal- und Zeitenwende seines Volkes rechtzeitig auch in der Formung der öffentlichen Meinung durch Presse und Vortrag hervorzutreten und rechtzeitig Farbe zu bekennen, nicht erst in einer Stunde, wo ein solches Bekenntnis keinen Wert mehr hat, weil es zu spät ist. Dieses Zwingen der politischen Erdkunde zum Farbebekennen, ihr Heranführen an die Vorstufe zur Prognose, zur Pflicht des Vorherkündens und Wegweisens in politisch bewegten Zeiten scheint mir das Einzigartige in Ratzels Stellung zwischen dem rein naturwissenschaftlichen und dem praktisch politischen Antlitz der darin nun einmal doch doppelgesichtigen Erdkunde auszumachen. Dieser Pflicht diente Ratzel aus dem Zusammenbau aller Grenzwissenschaften der wissenschaftlichen Politik heraus, aus der Erkenntnis ihrer Führeraufgabe innerhalb der politischen Volkserziehung und ihrer andern Aufgabe, der Volksführung unmittelbar den bestmöglichen Erkenntnisrohstoff zu liefern.

Mit der Erfüllung dieser Forderung ist Ratzel um zwei Jahrzehnte dem heutigen Gebrauch gedankenschneller politisch-wissenschaftlicher Einwirkung auf Massen als Führeraufgabe vorangeschritten. Er hat an die politische Wissenschaft die Forderung gestellt, mit der gleichen Gedankenkraft und überlegenen Anwendung von Zeitraffer und Zeitlupe zugleich die langsamen Wellenbewegungen geologischer Zeiträume, die langfristige Einsickerung und Umformung von Rassenströmen, wie die rasende Geschwindigkeit der weltpolitischen Verlagerungen durch die raffinierten Nachrichtenmittel unserer Zeit und die dadurch bedingte Verkleinerung des Erdballs zusammenzuschauen. Weil der Schwerpunkt seiner Einwirkungen auf die Menschheit durchaus in diese Richtung glitt, die aber der heutigen weltpolitischen Bewegung entspricht, sind gerade manche Sonderwerke, die ursprünglich seinen Namen in der Wissenschaft begründeten, manche Arbeiten des Fachgelehrten, weite Teile seines völkerkundlichen Schaffens, manche Reisebeschreibungen, auch wohl das reiche biographische und kritische Lebenswerk Ratzels an Bedeutung zurückgesunken. Was sich aber dauernd über dem Sehkreis hielt, ja was mehr und mehr polwärts herausrückte und dennoch in volksnaher Strahlung blieb, das sind die Werke der politischen Volkserziehung, auch wenn sie nur in kurze Aufsätze zusammengedrängt worden waren. Dabei ist es schwer, die volle Tragweite abzuschätzen, mit der ja solche Aufsätze in die politische Urteilsbildung ihrer Zeit eingegriffen haben, wie »Die Alpen inmitten der geschichtlichen Bewegungen« durch ihre weitgehende Verbreitung in der Zeitschrift des Deutschen Alpenvereins und ihr scharfes Anschneiden künftiger Gefahren im Alpenraum, oder »Inselvölker und Inselstaaten«, verfaßt unter dem Eindruck des japanischen Aufstiegs zur Weltmacht oder »Beurteilung der Chinesen und Japaner«, geschrieben unter dem Vorschatten ihres künftigen Zusammenlebens oder Zusammenstoßes oder endlich »Das Meer als Quelle der Völkergröße«, das gerade für ein mehr und mehr binnenwärts zurückgeschnittenes Volk eine der dringlichsten Mahnungen ist, die Notwendigkeit seiner Atemfreiheit zum Weltmeer nicht zu vergessen.

Zwei große Wendepunkte scheinen von entscheidender Bedeutung im Leben jedes einzelnen, der an seiner politischen Selbsterziehung und dann an der Auswertung ihrer Ergebnisse für sein Volk mit ganzer Geisteskraft arbeitet: Der Augenblick, in dem er als politischer Soldat frontreif wird und von dieser Frontreife zum Führer innerhalb der Volksfront aufsteigt, und jene zweite, wo der immer nur Auserwählten gewährte Schritt vom Führer innerhalb der Front zum Führer vor der Front erfolgen kann. Dieser letzte Schritt bedeutet sehr oft zugleich den Sprung von der zeitlichen Bedeutung des einzelnen Volksgenossen und den vergänglichen Spuren seines Wirkens zur dauernden Bedeutung innerhalb der Geschichte der Kultur oder Wirtschaft des Volksganzen und der Menschheit im Lichte der ewigen Dauer seines Namens. Es ist ein seltener Glücksfall, wenn sich die einzelne Persönlichkeit selbst über diese beiden großen Schwellenüberschreitungen klar wird, ein noch größerer, wenn diese Schwellen sich unvergänglich in ihrem Werte hervorheben.

Für viele bedeutete im Werdegang des Zweiten Reiches jene erste Schwelle der Krieg von 1870/71, genau so, wie der Krieg von 1914 bis 1918 sie für die meisten der starken Persönlichkeiten bedeutet hat, die nachher das Dritte Reich aus den Trümmern des Zweiten und des großdeutschen Gedankens emporgetragen haben.

Den Schritt aus der Front heraus, vom Führer innerhalb einer gleichbewegten Front zum Führer vor der Front, den im Dritten Reich so mancher in den bittern Stunden des Jahres 1923 getan hat, den hat Ratzel nach unserem Eindruck zur Zeit der größten ostasiatisch-pazifischen Torheit des Zweiten Reiches, unter der Rückwirkung des chinesisch-japanischen Krieges von 1894/95 getan, zwischen der Studie »Inselvölker und Inselstaaten«, und dem großartigen Wurf der »Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten«. »Inselvölker und Inselstaaten« – so weitsichtige Prophezeiungen dieser Aufsatz enthielt – können doch noch als beste politische Geographie älteren Stils betrachtet werden, in deren Bannkreis der seherische Zug sich immer wieder aus statischen Einstellungen losringen muß. Aber freilich enthält diese Verheißung früher und großer Wirkungen Japans im Jahre 1895 bereits die Elemente, durch deren Vorhandensein Robert Sieger die Geopolitik von der politischen Geographie hervorzuheben wußte. Reine Geopolitik ist die Schilderung eines Inselkranzes, der mit seinen geographischen Vorteilen dieselbe Lage auf der Ostseite des größten Erdteils hat, wie die, von der aus auf der Westseite England seine Weltmacht ausgebreitet hat, die Heraushebung des Vorzugs vor dem britischen, daß Japan dem größten Meer der Erde angehört und tiefer gegen die Tropen herabgerückt ist. Die »Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten« aber lösen sich endgültig von der abgeglichenen Wissensgrundlage, von den beharrenden Zuständen seiner Zeit und des status quo los. Damit begann Ratzel in seinem ganzen künftigen Werk der wissenschaftlichen Front seiner Zeit so einsam vorauszuwandern, wie er es bis dahin nur gelegentlich in vereinzelten kühnen Überschreitungen des Normalrahmens getan hatte; dieser Unterschied in der Schrittlänge gegenüber der durchschnittlichen wissenschaftlichen Haltung seiner Zeit zu Staat und Volkspolitik war so groß, daß ihn diese Front zuletzt fast aus dem Gesichtsfeld verlor und daß er auf diese Weise genau so zum Einzelgänger und Einzelkämpfer wurde, wie ein Menschenalter später Benito Mussolini und Adolf Hitler vorwärts der Front des etatistischen Staatsdenkens ihrer Anfangszeit und jenseits von dem Sehkreis der Demokratie. In diesem politisch-wissenschaftlichen Schrittmachen liegt aber der entscheidende Unterschied der Bedeutung Ratzels gegenüber fast allen mit ihm lebenden polltisch-wissenschaftlichen Leuchten.

Gerade ein Vergleich der 1896 von Ratzel niedergeschriebenen Raumgesetze für das Wachstum der Staaten mit dem volksdeutschen Werdegang von jener Zeit bis heute, wie auch mit dem gleichläufigen Werdegang der anderen Achsenmacht Italien und des japanischen Kaiserreichs zeigt uns eine Reihe von Wegweisern nicht nur für den weiteren Gang dieser volkspolitischen Entwicklungen; er zeigt auch, wie die Zukunftswege künftiger Führererziehung durch ein im Sinne von Ratzel und Burckhardt »in Ordnung gehaltenes Weltbild« erhellt werden können. Gleich zu Beginn der raumpolitischen Laufbahn jener drei Mächte der Erneuerung mit zu wenig Raum unter den Füßen, mit überwältigendem Volksdruck und hochgetürmtem Wirtschaftsbau steht wie ein Richtfeuer der Satz »Weiter Raum wirkt lebenerhaltend«. Dann folgt für die entscheidende Zweiteilung des Machtweges zwischen ozeanischer und kontinentaler Entwicklung die Warnung aus einem Leitsatz in »Erde und Leben«: »Bestimmend für Lage und Raum, für Grenzen und Entwicklung von Inselvölkern und Inselstaaten sind große Macht, von kleinem Raum aus geübt mit weitreichendem augenblicklichem Erfolg, aber auch von vereinzelten großen Entscheidungen abhängig.« Vor unserem weltgeschichtlichen Gedächtnis tauchen doch sofort die Namen von Aegospotamol, von Aktium, von Lepanto, von La Hogue, Trafalgar bis zu Tsushima und Jütland auf und bestätigen, wie furchtbar ernste Lebensgesetze hinter solchen Erkenntnissen der Geopolitik stehen, die von der politischen Erdkunde belegt werden.

Wird nicht die ablehnende Haltung der Achsenmächte, wird nicht die Todsünde Chamberlains und Daladiers gegen den Satz des Sallust: »Jegliche Herrschaft wird nur durch die staatsmännischen Künste erhalten, aus denen sie ursprünglich emporgewachsen ist« gemeinverständlich, wenn man in der heutigen Lage Europas zwischen Amerika und Eurasien den Satz von Ratzel liest: »Heute sollte jeder europäische Staatsmann in Asien oder Amerika etwas von dem Raumsinn zu lernen versuchen, der die Kleinheit der europäischen Verhältnisse und die Gefahr kennen lehrt, die in der Unkenntnis der großen außereuropäischen Raumverhältnisse liegt. Es ist wichtig in Europa zu wissen, wie sich die politischen Größen unseres Erdteils von der Höhe amerikanischer oder asiatischer Raumvorstellungen ausnehmen. Europas Staatsgedränge mit asiatischem Blick gemessen, kann zu Entwürfen von gefährlicher Kühnheit führen!«? Diese warnenden Sätze sind ahnungsvoll niedergelegt worden, als der deutsche Reichsboden mit im ganzen ungefähr 4 Millionen Quadratkilometer in Afrika, Ozeanien und seinem Vorkriegsbestand an Volksboden in Europa annähernd an die Raumbegriffe der Großraumbesitzer der Erde, der Briten, Russen, Franzosen, US-Amerikaner, Brasilianer heranreichte! Wie viel verständlicher wurde die Bedeutung eines solchen Weistums heute, wo Europas Staatengemenge um Dutzende von Kleinbildungen bereichert war, wo asiatische Raumvorstellungen von gefährlicher Kühnheit mit den Sowjetbünden in den Völkerbund, mit den Vereinigten Staaten in das Einkreisungsbündnis der Westmächte hereingekommen waren und Japan – von jeder pazifischen Ausdehnung mit der Möglichkeit der Ausfuhr von Menschen oder Waren abgeschlossen – festlandeinwärts gewaltige Raummaßstäbe sich zu eigen machte.

Wirkt es – von so hoher Warte gesehen – nicht wie das berechtigte Gegenfeuer gegen einen riesigen Präriebrand, wenn der deutsche und der italienische Führer ostwärts eine bessere Atemführung in das Staatengedränge zwischen Europa und Asien hineinbrachten – in Böhmen, Mähren, Memelland, Albanien? »Die Maßstäbe für die politischen Räume ändern sich ununterbrochen.« Diese Erfahrung legte Ratzel nieder und mit ihr zugleich ein zwingendes Urteil über das Vorwalten der Bewegung über den Stillstand, über die Vorhand des wirkenden, wuchtenden dynamischen Elements, gegenüber allem statischen Beharren; des kommenden Rechts gegenüber dem geltenden Gesetz-Buchstaben; über die Unhaltbarkeit einseitiger Gewaltverträge, die Unmöglichkeit eines » status quo «, der gegen die Gesetze des Lebens auf der Erde ist.

Der deutsche Volksboden und Wirtschaftsbereich war praktisch bereits zu einer Zeit, wo Bismarck in seiner europäischen Einstellung das noch nicht anerkennen wollte, in Raumerweiterungsvorgänge eingetreten, die störende Wirkungen auf die eingelebten Altformen ausüben mußten, deren Verteidiger sich durchaus im klaren über Ratzels raumpolitisches Wachstumsgesetz waren, das lautet: »Das Wachstum der Staaten folgt anderen Wachstumserscheinungen der Völker, die ihm notwendig vorausgehen.« Diese Erscheinungen sind im Bereich der dadurch Bedrohten deutlicher wahrgenommen worden als bei uns selbst; genau so, wie die Wachstumsnotwendigkeit des Dritten Reiches als Gefahr den Großmächten älteren Stils vielleicht noch früher zum Bewußtsein gekommen ist als den Mächten der Erneuerung selbst. Gerade deshalb versuchten sie so, die starre Umgrenzung durch erzwungene Verträge den unter Volksdruck zitternden, zu eng und zu hoch überbauten Staatsgebieten wie dem Deutschen Reich, Japan, Italien gegenüber aufrechtzuerhalten oder noch straffer anzuziehen und ihnen Rückgangserscheinungen und Verdorren aufzunötigen.

Dagegen aber wehren sich die Erscheinungen des Lebens auf der Erde selbst, wie sie Ratzel in seinem großen Werk »Die Erde und das Leben« so wundervoll zur gegenseitigen Erleuchtung staatsbiologischer und naturwissenschaftlicher Vorgänge vorgeführt hatte. Begreiflich ist es daher, daß gerade in den beiden Achsenmächten die Fortentwicklung der politischen Geographie zur Geopolitik, der Zusammenbau politischer Wissenschaft so großes Verständnis fand, und wie es kam, daß gleichzeitig Rudolf Heß in Deutschland seine schützende Hand über die Entwicklung der Geopolitik hielt und geopolitische Erziehung für einen notwendigen Bestandteil der Ausrüstung aller politischen Soldaten seines Führers erklärte, und Mussolini bei der Überreichung des ersten Heftes der italienischen »Geopolitica« Exzellenz Bottai und den Herausgebern Massi und Roletto erklärte, Geopolitik sei weit mehr als politische Geographie, und er selbst werde der aufmerksamste und emsigste Leser ihrer Zeitschrift sein. Hatte nicht Ratzel vier Jahrzehnte vorher die Forderung erhoben: »Die Erweiterung des geographischen Horizonts muß mit allen unpolitischen Ausbreitungen zusammen dem politischen Wachstum vorangehen« und dazu festgestellt: »Bis auf die Gegenwart herab sind die größten Erfolge der expansiven Politik durch die Pflege der Geographie vorbereitet worden.«

Seltsam genug aber ist es, daß die französische Kulturpolitik nun, ihre eigene 800jährige Tätigkeit verleugnend, im Vollbesitz des für sie seit den großen Kardinälen, seit Napoleon I. wohlbedacht angelegten Aufwands, die so viel kärglichere Förderung der deutschen Kulturpolitik an den Pranger stellt, obwohl die »Deutsche Akademie«, schon von Leibniz und vielen anderen gefordert, 300 Fahre nach der französischen gegründet wurde! Wie kann die wissenschaftliche französische Politik angesichts der tatsächlichen Entstehung der französischen Ostgrenze, wie sie etwa Börries aus Straßburg kartographisch festgehalten hat, die Wahrheit des Satzes leugnen: »Das Wachstum der Staaten schreitet durch die Angliederung kleiner Teile bis zur Verschmelzung fort, mit der zugleich die Verbindung seines Volkes immer enger wird«? War nicht unter solchen Umständen das Wiederhereinwachsen Österreichs, der Sudetendeutschen, des Memellandes und Danzigs in den Reichsraum eine Selbstverständlichkeit, mindestens ebenso aus 300jährigen Wachstumsvorgängen Frankreichs zu rechtfertigen, wie aus dem Zeugnisbestand der deutschen Kultur- und Reichsgeschichte? Freilich warnte auch vor mehr als einem Menschenalter Ratzel vor einem »mechanischen Aneinanderfügen, das erst organisches Wachstum durch die Annäherung wechselseitiger Mitteilung und Vermischung ihrer Bewohner wird«. Diese Warnung steht über jeder Anschlußfrage; sie ist so selbstverständlich für die Widerstände, die die eigenste Rassen- und Volksart der Elsaß-Lothringer dem französischen Zentralismus immer entgegenstellte, wie sie unter der weisen schonenden Hand des Protektors Freiherr von Neurath für Böhmen und Mähren verständnisvollste Berücksichtigung finden wird. Denn wir lassen uns gesagt sein: »Staatenwachstum aber, das nicht über Angliederung hinausgeht, schafft nur lockere, leicht wieder auseinanderfallende Konglomerate, die nur vorübergehend durch den Willen eines eine größere Raumvorstellung verwirklichenden Geistes zusammengehalten werden.«

Wenn wir heute, um wieder eine Prägung Ratzels zu gebrauchen, hinter einem »Wall von herabgefallenen Steinen der alten deutschen Reichsmauer« im Westen: hinter Niederlanden und Flandern, hinter Luxemburg und Lothringen, hinter Elsaß und Burgund einen Westwall errichteten, der neben der Grenzdurchblutung durch wachsendes Volkstum geradezu eine Verwirklichung des endlich zu spät erwachten deutschen Grenzerhaltungswillens war, dann übertrugen wir damit nur eine Erkenntnis ins praktische Leben, die er als viertes Gesetz des räumlichen Wachstums der Staaten geformt hat: »Die Grenze ist als peripherisches Organ des Staates sowohl der Träger seines Wachstums wie auch seiner Befestigung und macht alle Wandlungen des Organismus des Staates mit.«

So folgte naturgemäß auf jahrelange Schwächeanwandlungen, aus denen alles eher als »Wachstumsspitzen« ausgesendet wurden, die mit reicherem Leben erfüllt sind als die übrige Peripherie, naturgemäß mit dem gesteigerten Lebenswillen der Lebenskraft des Dritten Deutschen Volksreiches eine ungeheuerliche Verfestigung seiner Westgrenze, eine »richtige Wertschätzung des Bodens« durch Erbhofgesetz und Abkehr von kosmopolitischen Strömungen und eine Gestaltung im Osten im Sinne ausreichenden Lebensraumes und genügender Atemweite.

Gerade für die Eingliederung des Jahres 1939 galt eine Weisheit, die doch dem tausendjährigen Verhältnis Böhmens und Mährens zum Deutschen Reich zugrunde lag: »Der Staat strebt im Wachsen nach Umfassung der politisch wertvollen Stellen.« Wie viel mehr mußte ein besserer Ausgleich angestrebt werden, wenn eine politisch wertvolle Stelle des alten deutschen Reichs von Feindeshand zur tödlichen, absichtlich nie verheilenden geopolitischen Wunde umgestaltet war! Klingt nicht im Zusammenhang gerade mit dieser Erfahrung den Staatsmännern der Einkreisungsmächte als tiefe weltpolitische Wahrheit ins Ohr, was Ratzel sein 6. Gesetz nannte: »Die ersten Anregungen zum räumlichen Wachstum der Staaten werden von außen hineingetragen.« Lassen sich nicht aus solchen naturgesetzlichen Erkenntnissen alle Rückschläge der neujapanischen Ausdehnung auf die gewaltsame Landöffnung durch den US-amerikanischen Kommodore Perry, und auf die ungerechten Handels-Verträge erklären, der deutsche Gegenschlag von 1870 auf den beständigen Grenzraub durch Frankreich, die Forderungen des italienischen Duce auf Djibuti, auf gerechte Beteiligung am Suezkanal, auf anständige Behandlung seiner Landsleute in Corsika und Tunis, auf die Sanktionen und die Geopolitik der britisch-französischen Nadelstiche? Zukunftsbedeutung für uns und andere hat endlich das 7. Gesetz: »Die allgemeine Richtung auf räumliche An- und Abgleichung pflanzt das Größenwachstum von Staat zu Staat fort und steigert es ununterbrochen.« Daraus könnte ein Gesetz der wachsenden Räume entwickelt werden, und es war berechtigt zu sagen: »So wirkt das Bestreben auf die Herausbildung immer größerer Staaten durch die ganze Geschichte hin.«

Es war ein Schlag ins Gesicht geopolitischer Erfahrung, die sich doch in allen anderen Weltteilen, nicht zuletzt in der Entwicklung der sogenannten Pan-Ideen, den gestaltenden Weltmächten aufdrängen mußte, daß sie ausgerechnet in Europa versuchten, durch Schaffung von kaum lebensfähigen kleinräumigen Staatenbruchstücken die europäische Entwicklung raumpolitisch zurückzuwerfen.

   

Mit diesen Streiflichtern ist eine einzige Gedankenreihe aus dem gewaltigen Gedankengut Ratzels einigermaßen beleuchtet. Unberührt dabei ist aber geblieben, was darin nebenher über den Gegensatz zwischen Bodenfesten und Bodenschweifenden, zwischen Bewegungsgebieten und Beharrungsgebieten, zwischen den Staatengründungen der seefahrenden Völker, die geringe Kräfte zu großen Wirkungen zusammenfassen, und den zur Erstarrung neigenden, mit politischer Schwerfälligkeit geschlagenen Ackerbau-Kolonisationen gesagt ist, und was dabei schon vor 40 Jahren an rassenpolitischer Erkenntnis über das heute erst geklärte Verhältnis von Blut und Boden abfiel.

Wie vernichtend endlich klingt für die Wendung der britischen und deutschen Verständigungspolitik in ihr Gegenteil der Satz: »Im friedlichen Wettbewerb, wie im kriegerischen Ringen gilt die Regel, daß der Vordringende denselben Boden betreten muß auf dem sein Gegner steht. Indem er siegt, gleicht er sich ihm an.« Was England heute tut, das ist doch Abkehr von Europa, feindselige Haltung gegen seine mögliche Entwicklung zu großzügiger Kooperation; also etwas, das Naturgesetze raumpolitisch strafen werden, früh oder spät, genau so, wie sie die raumpolitische Abkehr und Hemmung gegenüber der Entwicklung der italienischen Halbinsel durch den Inselstaat Venedig gestraft haben.

Neben früh erlangter Weltgeltung, namentlich auch unter Angelsachsen und Franzosen, blieb Ratzel in dem eigenen Sprachgebiet und Volksboden, besonders auf dem Felde seiner eigensten Wissenschaft, umstritten. Obwohl er doch von beherrschter strengster Naturwissenschaft her kam, in deren Anwendung er sich nur nicht in die Enge reinen Spezialistentums verlieren wollte, mußte er zuletzt durch Geister, die seinen universalen Zug nicht zu überschauen und zu fassen wußten, den Vorwurf eines Hanges zum Mystizismus erleben, weil er es wagte, was jeder echte Führer wagen muß: voraus zu schauen, sein Ferngefühl zu offenbaren, zu warnen und zu lenken, statt lediglich zu registrieren. Solchen Richtungen gegenüber hat ihn mit Recht der Ausspruch überlebt, daß diese Art von Wissenschaft sich damit begnüge, Registratur zu sein, wo sie den Mut haben müßte, Rolle und Verantwortung des Generaldirektors zu übernehmen oder doch wenigstens dem Generaldirektor das beste erreichbare Material zur Verfügung zu stellen.

Gerade der klaren, scharf umrissenen und unerbittlichen raumpolitischen Erkenntnis muß sich als Gegengewicht die metaphysische Verankerung und Vertiefung verbinden, wenn die Leistung ihres Trägers nicht zuletzt im Materialismus verflachen soll. Dem nüchternen naturwissenschaftlichen Beobachter mußte sich der Seher, mußte sich die emotionale Fähigkeit zugesellen, wenn eine große raumpolitische und volkspolitische Erkenntnisleistung zustande kommen sollte, die zu lebendiger Gestaltung und Verwirklichung auf andere überspringen konnte. Solche Männer konnten nur angezogen werden durch eine erhabene Vereinfachung des Weltbildes, das nicht durch Massenanhäufung toten Wissens verschüttet wurde, sondern geläutert in der Durchdringung und Überwindung dieses Stoffes, die auf ein Sich-Eins-Fühlen mit dem Unendlichen gerichtet war.

»Ohne den Blick ins Unendliche gleicht kein Weltbild der Wirklichkeit und ist daher auch keine Weltanschauung möglich, die standhält.« In solchen Offenbarungen klang Ratzels Leben aus; sie waren natürlich ein Gegensatz zu jener starken materialistischen Strömung, die von der Gottähnlichkeit des Gebildeten-Begriffes schon in dieser Zeitlichkeit nicht lassen wollte; sie wurden im Zweiten Reich von einer letzten Welle des Mißverstehens der Gelehrsamkeit umrauscht, die sich im Dritten Reich nicht mehr in dieser Art erheben könnte.

So ist der Träger eines solchen Weltbildes zugleich ein Vorbild wirklich allgemeiner Bildung. Von natur- wie geisteswissenschaftlicher Richtung her untermauert, wirkt er weit mehr als Zeitgenosse des Dritten Reiches als ein solcher des Zweiten Reiches. Er blieb ein dauernd Wirkender am meisten gerade auf denjenigen seiner Arbeitsfelder, auf denen ihn die Mitwelt nicht oder am wenigsten verstand. Ganz ungesucht fiel ihm diese raum- und volkspolitische Überleitung vom Zweiten ins Dritte Reich für diejenigen zu, die ihn verstanden. Als suchender Arbeitskamerad, wie nur die Besten in einer heutigen Arbeitsfront, zog er aus, und einer der treuesten Kriegskameraden ist er gewesen. Mit der Selbstverständlichkeit, mit der das Schicksal Laufbahnen von weitschauender Anregerwirkung gestaltet, gewann er seinen Weg aus der Front zum Führertum in ihr und zuletzt zum Wegbereiter eines Führertums, das sich in der Verwirklichung seiner kühnsten politischen Ideen aus den Trümmern des Zweiten Reiches erhob. Es liegt Bestimmung darin, daß 1924 ein zerlesener Band seiner »Politischen Geographie« eines der wirkungsvollsten, viel verarbeiteten Stücke der mit heiliger Glut gelesenen kleinen Bücherei des Festungsgefängnisses Landsberg bildete. Es liegt höhere Fügung darin, daß ein Gedankengut, das noch 1904 wegen seiner mystischen Beimengungen, seines Anklangs der Rassengedanken in Kultur- und Volkspolitik von einer materialistischen Schule verspottet werden konnte, zwei Jahrzehnte später durch Adolf Hitler und Rudolf Heß Einlaß ins Grundgemäuer eines neuen Staatsglaubens fand und weiterwirken konnte in der italienischen Geopolitik bei einer verbündeten Achsenmacht. Eine späte große Rechtfertigung eines verkannten Sehers liegt auch darin, daß Ratzel ein volles Menschenalter, ehe das ostasiatische Inselreich dem einen Teil seiner Mitwelt beschwerlich fiel und dem andern die Hand zum Antikominternverband reichte, Japan in seinen wesentliches Lebensgesetzen erkannt und geschildert hat und daß diese Schilderung weiterwirkte in Männern, die von hüben und drüben den Baugrund für diesen Bund bereiten durften. Die Klage ist berechtigt, warum das Volk dieses Sehers von einem Lebensraum von 4 Millionen Quadratkilometer mit Atemfreiheit über alle Ozeane hinweg auf wenig mehr als 1/10 dieses Lebensraumes herab verstümmelt werden mußte, bis es der Feinfühligkeit, der Hellsehergabe, der Weitsicht eines Mannes gerecht werden konnte, dessen Fernschau und Weltgefühl ihm vielleicht diesen Zusammenbruch hätte ersparen können.

Wir sagen »vielleicht«, denn wie für die Bewegung, deren ungeheuere Federkraft den deutschen Raum aus entwürdigender Enge wieder geweitet hat, der Zusammenbruch von 1923 sich nachher als eine Quelle des Kraftgewinns erwies, so brauchte vielleicht der großdeutsche Gedanke die Höllenglut des Schmelztiegels von 1918 bis 1923, um sich verjüngt aus ihm zu erheben. Zu dem Erbgut, was als echtes Gold in diesem Feuer nicht schmolz, sondern klar geworden ist, gehört aber der unsterbliche Teil im Lebenswerk Ratzels. Deshalb ist in diesem Buch der Versuch gemacht worden, das unvergängliche Gedankengut von dem Wissen zu scheiden, das zeitbedingt war und als zeitbedingt und technisch mit jedem Tag mehr technisch veralten mußte. Davon loszulösen war, was an Tat und Wort persönlich war und dennoch vom Volk und seiner Persönlichkeit unzertrennlich und was deshalb ewig und darum vorbildlich bleiben konnte. Über die Auswahl aus einem solchen Lebenswerk wird man rechten können; der Mann, der diese Auswahl getroffen hat, kann nur das eine Verdienst für sich in Anspruch nehmen, daß er das ganze Lebenswerk Ratzels nicht nur kannte, daß er ihm persönlich aus Freundschaft der Väter nahestand, sondern auch, daß er die höchsten Leistungen dieses Lebenswerks an ihrer Wirkung auf die Zeitgeschichte nicht nur an führenden Persönlichkeiten des eigenen Volkes, sondern auch dem Schaffen der ihnen befreundeten Italiener und Japaner, der sie bekämpfenden Amerikaner, Briten und Franzosen erprobte. Nur Sätze, die auf diese Weise in Tat und Wort als wirksam erfunden wurden, sind in diese Auswahl aufgenommen: Worte, die im Reden und im Tun großer Volksführer leicht im Widerklang erkannt werden können. Möge ihnen diese Bewährung das Fortleben in künftigen Zeiten sichern, wie hoffentlich ihre Erkenntniskraft dieses Fortleben den raum- und volkspolitischen Werten sichert, die sich auf dieser festen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Grundlage im Zusammenbau erhoben.


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