Wilhelm Raabe
Hastenbeck
Wilhelm Raabe

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Nach und nach kamen sie, bis auf die Frau Pastorin, alle dazu – alle, die denn doch im Hause mehr oder weniger dazu gehört hätten.

Zuerst Dörthe, welcher der nunmehr abgeschiedene Feind und Gastfreund gerade an diesem Tage ganz besonders zu treuer Pflege und Abwartung anbefohlen worden war. Sie konnte aber nichts dafür, daß sie bei dem stillen Abschied des lieben alten Herrn nicht zugegen gewesen war; Knecht Börries trug die Schuld.

War man nicht im Wiesenmonat und auf den Pfarrwiesen am Solling hohe Grasblüte? Wie sollte der Boffzener Pastor zu seinem Heu kommen, wenn Börries heute bei dem Prachtwetter dort nicht den Maulwürfen aufpaßte?

Und den Wiesen war der Wald immer noch so nahe wie sonst; und so auch heute an dem heißen Tage mit seinem kühlen grünen Schatten, und den Krug mit dem Dünnbier mußte doch Dortchen dem guten Knecht hinauftragen zu der schweren Arbeit; denn der Herr Pastor war ja verreiset heute, nach Holzminden zum Herrn Generalsuperintendenten, und die Frau Pastorin nach Derenthal abwesend, beim Herrn Pastor Störenfreden dorten – doch davon später.

Der Herr Hauptmann bedurften ja so wenig zu seiner Pflege, und heute mittag noch waren Sie ganz wohlauf gewesen und hatten Dörthen so freundlich die Backen gestreichelt und gemeint:

»Kindli, meinethalb keine Umstand! Geh du ruhig deinem Geschäft nach, Meitschi. Ich hab alles, was ich brauch bis zur Betglocke. Stell mir noch einen Trunk frisch Wasser her, nachher brauch ich weiter nichts mehr bis in die Nacht.« . . .

»Und nun mußte das so gekommen sein!«

Endlich wild mit ihrem Stock mußte die Wackerhahnsche aufstoßen, um dem Zetergeschrei, dem Heulen des Mädchens ein Ende zu machen und das Lautgeben des Schreckens und bösen Gewissens zum Schluchzen und stummen Händeringen herabzumäßigen.

»Halt das Maul! Das ändert nun nichts. Werfe ich's dir denn schon in die Zähne, daß du nicht anders bist als wir allesamt? Aber jetzt gib Bericht: wo sind die anderen? Der Pastor –«

»Ach Gott, ach Gott, Frau Förstern, ich wollte ja selber lieber so daliegen wie unser Herr Hauptmann, als dieses so erlebt haben! Ja, der Herr Pastor, der mußte heute morgen schon in Kirchensachen nach Holzminden zum Herrn Generalsupperdenten, und weil es so drängte mit der Gräserei und Börries nach unserer Wiese wollte, hat Kantors Junge, der älteste, kutschiert, und er wird ja nun wohl bald zurückkommen, der Herr Pastor, und dann wird es ihm gerade so ergehen und zumute sein wie mir unglücklichem Geschöpfe – o Gott, o Gott, o Gott!«

»Und wo ist die Frau Pastorin hin auf Visiten?«

»Ach liebster Himmel, weiß denn die Frau Förstern das nicht? Die ist ja schon seit vierzehn Tagen in Derenthal und hält sich beim Herrn Pastor Störenfreden auf. Es soll ihm aber, Gott sei Lob und Dank, besser gehen, und wenn nicht noch was dazwischen kommt, kommt er diesmal noch davon, sagt Herr Doktor Engelking aus Höxter.«

»Was ist das?« rief die Wackerhahnsche, von ihrem Sitz neben dem Lager Balzer Uttenbergers aufspringend und Dörthe bei der Schulter fassend. »Was babbelst du mir daher? Der Derenthaler Pastor liegt krank, und deine Frau Pastorsche sitzt zur Pflege bei ihm?«

»Ach Gott ja, ich sage auf Ehr und Gewissen ja alles aus, so wie ich es weiß! Wie wollte hier vor dem Herrn Hauptmann jetzo ich was anderes sagen? Es ist recht schlimm in Derenthal gewesen. Einige sagen, der letzte französische Durchzug habe ihm, dem Herrn Pastor, das Fieber ins Haus gebracht und ihn damit angesteckt; andere aber meinen, das sei es nicht, sondern der Liebeskummer um unser Mamsellchen, unsere jetzige junge Madame in Braunschweig oder Blankenburg, und nachher das viele Ärgernis und der Verdruß mit dem geistlichen Gericht sei es gewesen, was ihn dazu gebracht hat, daß er so lange nichts von sich gewußt und nur von unserem Herzog seinem Konsistorium in Wolfenbüttel und unserm Herrn Hauptmann seinem Schäfereibuch da geraset hat. Erst als unsere Frau Pastorin bei ihm angelangt ist und ihn zur Ruhe gesprochen hat, ist es besser mit ihm geworden, und jetzt ist ja, gottlob, Hoffnung, daß es ihm nicht so geht wie unserem armen, armen Herrn Hauptmann da, der mir so was antun mußte und nun hier liegt und lächelt wie ein Kind, daß ich es bis zu meinem eigenen Tod nicht aus den Sinnen kriege!«

Daß die Hexe aus dem Landwehrturm hierzu gelächelt habe, konnte man nicht behaupten. Mit untergeschlagenen Armen saß sie wieder am Bett des zur letzten Ruhe gelangten Kriegs- und Weltkameraden und blieb so sitzen, ohne weiter ein Wort zu reden, bis zuerst Börries aus der Grasblüte unterm Solling heimkam, um sein Teil von dem großen Schrecken des Abends hinzunehmen.

Da er jedoch nicht viel sagte, sondern am Fußende des Sterbelagers nur seine Kappe zwischen den Fäusten drehte und zwischen verlegenem, unverständlichem Gebrumme und winselndem Geknurr ein vernehmbareres: »I verflucht, so was!« dann und wann hören ließ, hat sie sich auch gerade nicht bewogen gefunden, noch durch tröstlichen Zuspruch zur Aufrichtung in seinem Kummer beizutragen.

Mit Pastor Holtnicker aber, nach dessen Heimkehr von Holzminden, hat sie die halbe schöne, warme Sommernacht durch in anfangs sehr lebhafter, doch nach und nach immer ruhigerer Unterhaltung gesessen. Mit dem Kabinettprediger Cober auf dem Tische, jedoch das Buch unaufgeschlagen und beiderseitig ohne das Bedürfnis, an diesem Abend, in dieser Nacht Belehrung, Ermahnung, Warnung und Trost aus ihm zu nehmen und zu geben.


Die blutigroten, brandqualmigen Feuerfluten des Siebenjährigen Krieges sind bis zum Hubertusburger Frieden noch oft wiedergekehrt und haben sich, vom Westen zum Osten, vom Osten zum Westen, hingewälzt über das nicht neutralisierte Land zwischen der Weser und dem Harz.

Noch oft hat Niedersachsen unter den Fußtritten der feindlichen und freundlichen Heere gedröhnt und gestöhnt, doch zu einem »Hastenbeck« ist es nicht mehr gekommen. Für jeden Schlag ins Gesicht des deutschen Volkes ist auch die deutsche Faust oder leider besser die Faust der »hohen Alliierten« auf Frankreichs Nase gefallen. Es hat sich oft wiederholt, was Clermont einmal an den fünfzehnten Louis schrieb:

»Von Eurer Majestät Armee ist der erste Teil über der Erde als Diebe und Marodeurs und in Lumpen; der zweite unter der Erde und der dritte in den Hospitälern.«

Doch hören wir auch den Geschichtschreiber von dem Heer des Herzogs Ferdinand, des sieg- und glorreichen Führers der »Alliierten«, berichten:

»Den ersten Rang unter den verbündeten Truppen behaupteten die Engländer. Höchst tapfere Truppen auf dem Schlachtfelde, aber auch übermütige, nationalstolze, jeden Fremden fast verachtende, an keine strenge Disziplin gewöhnte, im Kleinen des Dienstes nachlässige, von Offizieren, die sämtlich ihre Stellen erkauft hatten und sich wenig auf den Dienst verstanden, befehligte und besonders auf Rückzügen höchst raubsüchtige Krieger! Ihr Fußvolk bestand aus dem rohesten Pöbel der Nation, unter welchem kaum ein Schatten von kriegerischer Manneszucht sichtbar wurde. Ihre Reiterei war vortrefflich, aber zu schwer, weswegen sie zum kleinen Dienst fast gar nicht taugte und obenein aus zu großer Liebe für ihre Pferde auf das gewaltsamste bei Fouragierungen plünderte.

Welche Klugheit mußte ein Feldherr besitzen, um, stets den Umständen angemessen, den englischen Nationalgeist zweckmäßig zu nützen, der hochgespannten Eigenliebe nicht zu nahe zu treten, durch zu harte Beschränkung der Indisziplin die Truppen nicht unwillig zu machen, doch aber Ordnung unter ihnen zu erhalten und die oft gefährlichen Händel mit ihren deutschen Kriegskameraden schnell zu unterdrücken!

Weit weniger hatte er in dieser Hinsicht mit den Hannoveranern, welche gleichsam die Seele des Heeres waren, zu schaffen. Aber der Eigendünkel und die Unfähigkeit ihrer Generale, der kleinliche Geist des hannoverschen Ministeriums und die Kabalen, welche hier herrschten, machten es doch schwer, das hannoversche Korps, im Einklange mit dem Ganzen, stets zweckmäßig handeln zu lassen.

Bescheidenere und doch die ersten Soldaten im ganzen Heere waren die Hessen, denen der altkattische Charakter geblieben und bei welchen Subordination und Disziplin tief eingewurzelt waren. Aber sie fühlten sich zurückgesetzt, denn schlechter wurden sie bezahlt als andere Truppen; als untergeordnete Hilfsknechte sahen sie sich oft von den stolzen Engländern, nicht selten sogar von den englisierenden Hannoveranern behandelt, und mehrere Male stand ihr Unmut auf dem Punkte, in wilde Rache auszubrechen.

Am wenigsten erschwerten Preußen und Braunschweiger das Kommando des Feldherrn. Mit Liebe, Achtung und Ehrfurcht gegen ihn erfüllt, vom wahren Kriegsgeiste beseelt, an Ordnung und Disziplin gewöhnt und fest überzeugt, der Oberanführer tue alles, was ihre Lage erträglich machen könnte, folgten sie ohne Murren stets seinen Befehlen – und fühlten nur den einen Unmut, daß auch sie von Engländern und Hannoveranern als untergeordnete Streiter angesehen wurden.« –

Es ist wahrlich keine Kleinigkeit gewesen, mit solchem Heere des Herzogs von Cumberland Hastenbeck zu rächen und seine Konvention von Kloster Zeven für Niedersachsen wiedergutzumachen! – – –


Am Tage Agapetus, dem achtzehnten August des Jahres siebenzehnhundertdreiundsechzig, saß an der Auslugsscharte im Landwehrturm an der Allerwiese bei Boffzen ein altes Weiblein, verhutzelt, verrunzelt, fracta bello, fessa annis, doch mit Augen, die von ihrer Höhe noch weit hineinreichten nach Westfalen wie nach Ostfalen: Großmutter Wackerhahn! vordem die Wackerhahnsche, die Försterin Wackerhahn aus dem Barwalde, die Weserhexe Wackerhahn.

Am fünfzehnten Februar war der Siebenjährige Krieg zu Ende gegangen und wieder mal Frieden – das, was man so nennt – in der Welt geworden. Wenigstens hatte für den Augenblick in Europa das ewige Krachen, Sturmglockenläuten, Trommeln, Trompeten und Querpfeifenquinkelieren aufgehört und riß man sich auf den Champs de bataille und in den Spitälern nicht mehr einander das blutige Stroh unter den Köpfen weg, um sich selber bequemer zu betten. Es konnte nun mal wieder im Frieden auch dem Kriegsmann so gut werden, wie es ausnahmsweise dem Hauptmann Uttenberger vom Regiment Lochmann zuteil geworden war: in seiner Garnison hatte er nicht nur auf regelrechte Auszahlung seiner Löhnung, sondern auch auf einen richtigen christlichen Sarg, wenn er dessen benötigt werden sollte, zu rechnen.

Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, wie man in den Kabinetten der Herrscher Verlust und Gewinn gegeneinander abwog und schon darob neue Fäden zu neuen, nur mit dem Schwert zu durchhauenden gordischen Knoten spann. Wir unsererseits halten nur ein buntes Knäulchen in der Hand, von dem wir den Beschluß unserer Geschichte von Daphnis und Chloe, von Pold und Hannchen, von dem Pastor und der Frau Pastorin von Boffzen, vom Derenthaler Pastor Störenfreden und der – Wackerhahnschen abzuwickeln haben.

Wie Kinder im Spiel sind wir auf dieser Erde, wenn sie, atemlos vom Jagen und Gejagtwerden, »Freistatt!« rufen.

Asyl!

Die Gelehrten sagen, das Wort komme aus dem Griechischen her und bedeute einen Ort, wo man nicht geplündert, beraubt, in Ketten gelegt, gemartert und totgeschlagen werden dürfe: wollen wir zusehen, ob die Wackerhahnsche solches pays neutre, solch neutralisiertes Gebiet in des Daseins Wirrwarr für ihre letzten Abendstunden gewonnen hat?

Verändert hatte sich ja ihr absonderlicher Witwenwohnsitz, ihr Altenteil im Heimatsdorfe zum Vorteil. Zwar erreichte man den Eingang immer noch vermittelst einer Leiter, doch hatte man ihn erreicht, so merkte man, daß da nicht bloß der Maurer, Zimmermann und Tischler am Werk gewesen war, sondern daß auch vernünftiges Zureden und liebevolles Zugreifen wenigstens in etwas geholfen hatten, aus der Höhle der wilden Wölfin aus dem Barwalde annähernd ein Großmuhmen-, »Großmutter«-Spinnstübchen herzurichten. Es gab jetzt einen Ofen und Glasfenster und eine vom Meister Schreiner hergerichtete Bettstatt im Landwehrturm. Das Spinnrad fehlte freilich, aber es gab Tisch und Stuhl, wie es sich gehörte, im Landwehrturm und sogar einen gepolsterten Großmutterstuhl mit Rücken- und Armlehnen.

Letzteren hatte Pastor Holtnicker vor dem Ankauf selber erst ausprobiert. Es ließ sich ganz bequem darin sitzen, und die Greisin saß auch darin an der zum besseren Ausblick nach Boffzen gleichfalls erweiterten Schießscharte. Sie hatte in ihm eben sogar ein wenig genickt: der achtzehnte August gehört immer noch zu den Hundstagen, und das Geschrill der Grillen draußen rund um das alte Gemäuer deutete an, daß das Geziefer mit dem Sommerwetter wohl zufrieden sei und es der Jahreszeit angemessen erachte.

In der Scharte, durch welche vordem so oft die Wächter des Turmes erst ihre Bogen und Armbrüste, nachher ihre Luntenbüchsen auf den heranschleichenden Feind gerichtet hatten, auf der Brüstung lag ein kleines Buch, von dem jetzt auch gar noch ein gut Teil abgerissen worden war. Mit einem spanischen Fluch hatte es die Veteranin drei Tage nach dem Begräbnis des Hauptmanns Uttenberger den Tatzen des braven Knechts Börries entzogen, der eben wieder im Begriff war, am Küchenherd des Boffzener Pfarrhauses seine Tobakspfeife mit ein paar Blättern draus anzuzünden.

Seit dieser Zeit bedeutete es die Bibliothek des Landwehrturmes an der Allermannswiese, dieses kleine Buch, welches alle die wunderschönen Geschichten von unschuldigen Schäfern und Schäferinnen, weißen Lämmern und lustigen Waldgöttern, von Sonnen- und Mondenschein, Milch, Wein und Honig in sich hatte und von Mord und Totschlag, Blut und Brand nicht das geringste wußte. Daß die Wackerhahnsche drin lesen konnte, wie auf Schloß Blankenburg die Frau Herzogin und ihre Damen, die sich aus ihm im Dritten Schlesischen Kriege als Chloe, Phyllis, Daphne anredeten, sagen uns weder Schrift, Druck noch Tradition. Sie konnte wohl gar nicht lesen, die alte Frau; aber wenn sie den Finger in die Kugelspur legte, die das Büchlein von Hastenbeck her an sich trug, dann fehlte ihrem Gedächtnis wohl nichts von dem, was einst über der Erde Schönheit, Unschuld und Lieblichkeit der arme Schweizerkapitän Uttenberger vom Regiment Lochmann aus ihm zum besten gegeben hatte, ehe der Herr Pastor Holtnicker und der Herr Kabinettprediger Cober zum Beschluß des Abends das Wort wieder ernster nahmen.

So ist auch an diesem heißen achtzehnten August 1763 in ihrem kühlen Altenteil an der Weser das Verhältnis zwischen ihr und dem jungen Schweizerpoeten Salomon Geßner in Zürich gewesen, als sie sich plötzlich aus ihrem Halbschlummer und Traumspiel angerufen hörte durch eine Kinderstimme:

»Großmama! . . . Großmama Wackerhahn!«

Es war eine junge Frau, die mit einem Kind auf dem Arm unten am Turm stand und zu der grimmigen Auslugsöffnung emporblickte. Ein anderes Kind, ein kleines Mädchen, hielt sich an ihrem Rock, und es war's gewesen, was gerufen hatte:

»Großmama! . . . Großmama Wackerhahn!«

Das Lustrum, welches hingegangen war, seit dem Sommer achtundfünfzig verflossen war, hatte das Wetterhexengesicht, welches sich auf den lieblichen Anruf rasch aus der Schießscharte vorschob, nicht verjüngt und nicht verschönert. Jedes andere Kind würde mit Geschrei davor Reißaus genommen haben; aber der Immeke von Boffzen ältestes Töchterlein streckte nur beide Ärmchen empor:

»Sollt 'runterkommen, Großmama Wackerhahn!«

Und aufgeregt, und nicht bloß von dem heißen Tage, sondern auch vom raschen Gang erhitzt und hochrot, rief auch Frau Hannchen Wille, geborene Holtnicker:

»Ja, Mutter, Sie soll herunterkommen und mit uns so rasch als möglich. Pold ist von Braunschweig zurück und bringt gute Nachricht mit. Die allerbesten Nachrichten für uns und Fürstenberg und für Sie auch, Mutter Wackerhahn! Unser Herr Herzog will nicht nur seine Porcelainefabrik auf Schloß Fürstenberg halten, sondern hat sich auch noch große Dinge mit ihr vorgenommen. Seine Maler sollen nicht Hunger sterben, und gegen meinen Mann ist Seine Durchlaucht sehr gnädig gewesen, als er als Abgesandter von hier und guter alter Bekannter von ihm bei ihm gewesen ist. Und die Frau Herzogin auch und die allergnädigsten Prinzessinnen auch. Die haben ihren Zeichenmeister von Blankenburg her noch nicht vergessen gehabt, und seine Blumen, die er jetzt wieder hier malt, wären doch immer die schönsten, und sie tränken ihren Koffee und Schokolade nur aus seinen Tassen, haben sie gesagt! Wackerhahnsche, liebste, beste Mutter, mein Pold stünde natürlich selber hier, wenn ihn die anderen, Vater und Mutter, hätten loslassen wollen. Und Herr Pastor Störenfreden aus Derenthal ist auch, wie auf Bestellung, gerade heute auf Besuch da und verlangt ebenso nach Ihr, Mutter Wackerhahn, als wir anderen im Hause. Soll ich heraufkommen und Ihr die dumme Leiter herunterhelfen?«

Sie hatte bereits ihr Kleines in das Gras gesetzt; aber aus der Höhe schnarrte es:

»Dummes Zeug! Kommst wohl nächstens mit'n Kutschwagen vorgefahren bei mir? Bin gleich unten, Würmchen, und dann wollen wir zwei mal sehen, wer von uns beiden am schnellsten laufen und sich das Stück Kuchen, was Papa aus Braunschweig uns mitgebracht hat, holen kann.« – –

Wenn je das Boffzener Pfarrhaus eine Ähnlichkeit mit dem Grünauer aufzuweisen gehabt hat, so ist das an diesem Nachmittag und noch mehr am Abend gewesen. Es gab heute sogar »Koffee« wie am Hofe zu Braunschweig, und aus Fürstenberger Porzellan mit Blumensträußen und Kränzen vom besten Fürstenberger Blumenmaler trank man ihn auch. Und die Frau Pastorin hatte gestern schon, auf die Rückkehr des Herrn Schwiegersohns von Braunschweig hin, Kuchen gebacken (Dörthe Krüger hatte ihr freilich nicht dabei helfen können; denn die saß seit zwei Jahren als Frau Homeisterin Börries auf dem adeligen Gut Deensen jenseits des Solling), und wenn es auch bei dem Boffzener Pfarrherrn nicht ganz so hoch und delikat herging wie bei dem Grünauer, so mangelte doch des Nötigen und des Erquicklichen nicht bei dem Bewillkommungsfeste. Die Hühner hatten während des Siebenjährigen Krieges und gar nach dem Hubertusburger Frieden nicht aufgehört, Eier zu legen, und dazu waren sie auch noch selber vorhanden zur Suppe und gutem Braten. Es hingen auch im Boffzener Pastorhause wieder Speckseiten, Würste und Schinken in der Rauchkammer.

Ja, war es denn heute was mehr als ein böser Traum, alles, was man die langen, bangen letzten Jahre durch hatte erleben müssen? Hatte die Sonne aufgehört zu scheinen, der Regen naß zu machen? Waren sie nicht alle noch vorhanden zu ihrer richtigen Zeit, die Früchte auf dem Felde, die Blumen im Garten, an den Rainen und auf den Wiesen, die Vögel in der Luft und im Gezweig, jeder nach seiner Art, bei Tage und bei Nacht?

Und gar die alte Weser dort hinter der Gartenmauer! War denn die nicht mehr da? Da rauschte sie wie immer, und es war ihr ganz gleichgültig, wer Schlesien hatte und wer Kanada. Hatte sie sich je um so was gekümmert wie die Schlacht am Idistavisus, den Nero Claudius Drusus, den »aischen Karl« und sein christlich fromm Sachsenköpfen bei Verden? Was ging sie der Herzog von Cumberland, die Schlacht bei Hastenbeck und die Konvention von Kloster Zeven an?

Und die Kinder! Was ging es die Kinder der Boffzener Immeke an, daß Niedersachsen dem Herrn Herzog von Richelieu seinen hannoverschen Pavillon in der Stadt Paris hatte bauen müssen unter freundlicher Vermittelung des Herrn Herzogs Wilhelm August von Cumberland? –

In der Flieder- und Nußbaumlaube um den runden Steintisch, an welchem einst, verstohlen, hinter dem Rücken der Frau Mutter Holtnicker, Hauptmann Uttenberger dem Boffzener Bienchen und dem Blumenmaler Leopold Wille seines jungen Landsmannes betrübliche und tröstliche Geschichte vom Daphnis und der Chloe bekanntgab, saßen sie, bis auf die, so Gottes Wunderwagen von dannen getragen hatte; alle, welche uns im Laufe dieser unserer Geschichte bekanntgegeben wurden, und – die Kinder noch dazu. Das Kleinste, wie das Weltganze, ruhig im Schlaf auf dem Schoße der Mutter.

Wie mit aller Welt Herrlichkeiten von der Braunschweiger Messe beladen, war »Malermeister« Wille von der Oker zur Weser zurückgekommen, und wie eine Meßschachtel reichte er auch der Greisin aus dem Landwehrturm das, was er ihr im besonderen mitgebracht hatte.

»Jawohl, Mutter, Sie weiß gar nicht, in welchem guten Andenken Sie bei Hofe stehet. Von den allergnädigsten Prinzessinnen gar nicht zu reden; aber auch Seine Durchlaucht und Ihre Königliche Hoheit, der Herzog und die Frau Herzogin, lassen Sie allerschönstens grüßen, und der Herr Abt Jerusalem haben selber mich in der herzoglichen Kunstkammer herumgeführt und mir in den Schränken allerlei Dinge gezeigt, die Sie in Ihrem Türkenbeutel mit nach Blankenburg gebracht hat und uns – o Mutter, liebe Mutter Wackerhahn! – mir und der armen Immeke in unserer Verlassenheit nicht bloß den allerhöchsten Schutz, sondern auch die erste Haushaltseinrichtung damit erkauft hat . . . und Sie, liebste böse Mama, will immer noch nicht ganz aus Ihrem Turm zu Ihren Kindern ziehen. Jawohl, jawohl, auch den Kopf hat die Frau Herzogin über Sie geschüttelt und sich zu dem Herrn Herzog gewendet und gemeint: ›Da sage man nun noch, daß mein Herr Bruder in Berlin den härtesten Kopf und den steifsten Nacken in der Welt habe!‹ Seine Durchlaucht haben darauf lachend etwas auf französisch gesprochen; ich kann kein Französisch und kann Ihr nur sagen, was die Frau Herzogin dann zu mir gesagt hat. ›Monsieur Wille‹, hat sie gesagt, ›höre Er wohl zu, Monsieur Wille, ich bestelle mir jetzt durch Ihn aus meines Herrn Gemahls Liebden berühmter Porcelainefabrique zu meinem persönlichen Gebrauch eine Mundtasse. Darauf will ich die Wackerhahnsche gemalt haben; aber nicht wieder als Hexe vom Brocken oder Köterberg, nicht als Försterin aus dem Barwalde, nicht als Marketenderin aus dem Polnischen Erbfolgekriege oder gar den Schlesischen Kriegen, nicht in einem Räuberturm, sondern im Fauteuil, in einer wirklichen Menschenwohnung, bei Kindern und Enkelkindern im Großmutterstuhl und in einer Dormeuse, die ich selber ihr allhier in den Sieben Türmen bei unserem Hofjuden Helfft aussuchen werde. Den Blumenkranz mag Er mir um das Porträt malen, Monsieur; aber es ist mein Ernst: sage Er dem alten Eigensinn im Boffzener Landwehrturm, sie und ich wollten nicht umsonst gute Bekannte in schwerster Lebensnot geworden sein, und nunmehro befehle ich es ihr als ihre gnädige Landesmutter ernstlich, Raison anzunehmen und in Kompagnie mit der Frau Pastorin in Boffzen ihre Mutter- und Großmutterpflichten nach Menschenweise ganz unter Menschen zu verrichten und nicht wie ein Uhu von dem unkommoden, grämlichen, désagréablen Kriegsgemäuer herunter.‹«

»Jawohl, Wackerhahnsche«, rief jetzt Frau Johanna Holtnicker, nicht wenig geschmeichelt, daß auch sie in der Vermahnungsrede der Frau Herzogin Philippine Charlotte eine Rolle gespielt hatte, »ganz meine Meinung, alter Murrkopf! Sie weiß, wie wir zwei vor Jahren auch in bitterer Lebensnot mit- und gegeneinander gestanden haben und wie viel oder wie wenig Liebe und Zuneigung damals zwischen uns gewesen ist. Aber da es sich nun doch nun so gefügt hat, daß auch wir beide bessere Bekanntschaft als wie damals miteinander gemacht haben, so nehme Sie nun, wie die Frau Herzogin befehlen, endlich Vernunft an und schließe Sie ganz Frieden mit der Welt! Meine Beine sind ebenso alt und stümperig als die Ihrigen, und das Leiterklettern und Aufstrohschlafen ist weder für mich noch für Sie was anderes als eine Lächerlichkeit, eine Dummheit oder ein Hochmut. Ich meine, seinerzeit habe ich Ihr doch derer da, des Herrn Sohnes und meiner Immeke wegen, mehr nachgegeben, als man eigentlich von mir verlangen konnte, und nun will Sie uns nicht mal diesen kleinen Gefallen tun? Meint Sie etwa, unser Herrgott rechne Ihr das gar als ein Verdienst an, wenn Sie, wenn er Ihr Ihren seligen christlichen Tod schickt, wie ein Huhn die Leiter herauf zu Bette steigt? Bilde Sie sich das nicht ein! Sehe Sie, wie mein Pastor und Pastor Störenfreden jetzt schon zu solcher Dummheit und Einbildung den Kopf schütteln. Da möchte ich mir ja, wenn es keine Sünde wäre, von dem Kirchhof dort drüben Ihren Freund und Kriegskameraden, unseren armen seligen Herrn Hauptmann Uttenberger, um seine Meinung herbitten! Sein ganzes Leben hat der erst bei dem Vieh auf der Weide und dann im Feldlager zubringen müssen und hat niemals anders als in einem Schäferkarren und nachher in Zelten sein Lager gehabt; aber in einem ordentlichen Bett und richtigen christlichen vier Wänden ist er doch selig abgeschieden, und auch er würde sagen: Wackerhahnsche, schließe Sie ganz Frieden und sei Sie keine alberne eigensinnige Närrin!«

Sie haben noch lange so ihr zugeredet – Pastor Holtnicker und Pastor Emanuel Störenfreden aus Derenthal auch. Letzterer, was das Einander-einen-Gefallen-Tun anbelangt, in wenn auch milderern, so doch ebenso bewegten Worten wie seine Frau Tante, die Pastorin von Boffzen. Es hat aber alles nichts gefruchtet: die Wackerhahnsche hat nicht aus ihrem Turm herab ganz zu den anderen Menschen zurückkommen und mit ihnen nach Menschenart leben wollen und – können.

Den eigentlichen Grund hat sie, nicht lange vor ihrem Tode, im Jahre siebenzehnhundertachtundsechzig, dem auch von ihr angenommenen Kinde, unserem Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten, der jungen Madame Wille, gesagt:

»Es ging nicht! es ging bei dem besten Willen nicht, mein Herz! Nicht die Welt, nicht ihr Jungen, nicht die Alten waren schuld daran – deine Kinder, deine kleinen armen Kinder sind's gewesen, Immeke! Der Herr Pastor hat mir neulich auch hier im Turm aus dem Herrn Kabinettprediger vorgelesen. Von der Gott befohlenen Himmelsreise hat er gelesen; aber es ist mir nur eines draus im Gedächtnis verblieben: daß, wenn einem Reisenden ein Myrtenstab in die Hand gegeben wird, er nicht leicht müde werden wird. Sieh, das habe ich, wie ich es verstand und vermochte in meiner Wildheit und Verlorenheit, dir und deinem Schatz getan, und nicht des Herrn Kabinettpredigers Herrgott, sondern eurem junger Glück meine fernere Lebensfahrt mit anbefehlen wollen. Das hat sich als eine Täuschung und Einbildung ausgewiesen, als eure Kinder gekommen sind! Ihr ginget an eurem Myrtenstab, ich mußte an dem in meiner Hand weiter, und der war zu scharf mit Eisen beschlagen und zu oft in Blutlachen niedergestoßen worden, als daß ich ihn hätte am Großmutterstuhl in der Kinderstube – in eurer Kinderstube absetzen können. Die Försterin aus dem Barwalde, die Hexe aus dem Landwehrturm, die nur ein totes Kind zu eigen auf dem Arm getragen, nie eines gewaschen, getrocknet, gekämmt, gefüttert hatte, was für Großmuttergeschichten hätte die deinen Kindern zu erzählen gewußt, Immeke? Blut an den Schuhen, Blut hoch am Rock hinauf – wie hätte die Wackerhahnsche in einen Großmutterstuhl am Winterofen mit ihren Geschichten gepaßt? Vor deinen Kindern habe ich Angst gehabt, denn ich habe in ihre Augen gesehen, wenn sie zusammengefahren sind vor einem Schandwort, vor einem Fluch von der alten Frau, die sie nach eurer Liebe und Güte auch Großmutter nennen sollten wie ihre richtige, die Frau Pastorin! Für eure Liebe und Güte habt Dank; doch mich müßt ihr lassen, wo ich bin. Und wenn ich mir mal eingebildet habe, es könne immer noch anders sein, so vergebt mir das. Gottes Wunderwagen ist ein kurioser Wagen; hier bin ich von dem Fuhrmann abgeladen worden, wie der mich hat werden lassen. Wer will mit ihm rechten? Ich nicht! Dein Liebster und du?«

»Pold kommt gleich. Der soll es sagen, wie lieb wir dich haben, Mutter!« . . .

 


 


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