Wilhelm Raabe
Hastenbeck
Wilhelm Raabe

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Fünfzehntes Kapitel

Die zerbissene Kugel aus Messina strich Hauptmann Uttenberger vom Tisch und schob sie in die Hosentasche; hätte er den zerknitterten Brief Ehrn Emanuel Störenfredens, den die Frau Pastorin immer noch in ihrer Tasche mit sich trug, dabei gehabt, so hätte er mit einem Griff in der hohlen Hand seiner lieben barmherzigen Gastfreundin, Johanna Holtnicker, das Werg hinhalten können, aus dem sie bis zum Heiligen Christ bei Tag und Nacht all ihre Gedanken, all ihren Grimm, all ihre Angst, all ihr Elend aus ihrem guten, mitleidigen christlichen Herzen zu spinnen hatte. Bei Tag und bei Nacht, im Wachen und, noch schlimmer, im Traum, im Verkehr mit Mann und Kind und Haus und Dorf und am grimmigsten mit sich selber!

Der Faden ihrer Tage lief ihr wahrlich die nächsten Wochen durch, bis zum Heiligen Christ hin, nicht ohne Knoten durch die Hände. Daß er mehr als einmal nicht ganz abriß, war aber jedenfalls ein Zeichen, daß unser Herrgott ohne sie in seiner verfahrenen Welt und besonders in Boffzen noch nicht auskommen konnte, daß Er (sein Name sei gepriesen!) und die Welt um sie her sie noch recht sehr nötig hatten!

Er hatte hochmögenden Herrschaften auf seiner Erde auf die scharfnägeligen blutigen Finger zu passen, der alte Herr da oben, und hat wohl nicht dabei geschmunzelt wie da, als er in der Nacht, nachdem die Wackerhahnsche ihr schauerlich Merkzeichen zu dem Kabinettprediger Cober und dem Salomon Geßner auf den Familientisch niedergelegt hatte, die Frau Pastorin schlaflos auf ihrem Bette sagen hörte:

»Und wenn sie mir alle verhungern – auch das Letzte wird in den hineingestopft! Die Verantwortung, den nicht heil aus dem Hause geschafft zu haben, nehme ich nicht mit auf mein Sterbebett! O du allbarmherziger Himmel, was legst du deinen Menschenkindern alles auf! Alles wird in ihn hineingefüttert – das letzte Huhn, das letzte Ei, der letzte Schinken! Was Mann? was Kind? was Hausgesind? Hat mich der Herr in die Hand des fremden Fressers gegeben, so soll er mich auch bereit finden, seinen heiligen Willen zu tun, aber dann auch –«

Unser Herrgott auf seinem allerhöchsten Richterthron mußte sich wohl den Schlußsatz selber machen. Für den Blumenmaler Pold Wille ging, was sein körperlich Wohlbefinden anbetraf, das Allerbeste aus dem nächtlichen Ringen seiner widerwilligen Gastfreundin hervor: was das andere, zum Beispiel seine Herzensbedürfnisse, anging, nun, so war da der Prozeß eben noch nicht entschieden, und das Ende lag gerade so im Dunkel wie das des eben begonnenen dritten Krieges um die Grafschaft Glatz und die Fürstentümer Breslau, Brieg, Schweidnitz, Liegnitz, Öls, Ratibor, Trachenberg, Jauer, Carolath, Münsterberg, Sagan, und wie sie sonst noch heißen mochten, die Königreiche und Standesherrschaften der Erde, wie sie so den Söhnen der Menschen nicht bloß von den Zinnen des Tempels zu Jerusalem gezeigt und zum Zugreifen hingehalten werden. –

Kein Kuckuck konnte es im Nest eines durch ihn gefoppten Grasmückenmütterleins besser haben als der Fürstenberger Blumenmaler in diesen bitterbösesten Zeiten unter dem Dach und in der Pflege der Pfarrmutter von Boffzen. Und es gedieh ihm, gottlob! Bis zu Gewissensbissen trieb sein von Tag zu Tag sichtbarer werdendes Besserbefinden seine widerwillige Pflegerin. Versündigte sie sich auch nicht an den anderen, an Mann und Kind und Knecht und Magd und auch am armen guten Hauptmann Balzer Uttenberger durch das, was sie ihnen abdarbte, um es dem – nichtsnutzigen Malerbengel in den Hals zu stopfen – sich zuliebe? Ja, nur um ihn sich zuliebe so bald als möglich wieder marschfertig zu haben und ihn – aus dem Neste werfen zu können – letzteres ganz gegen die Naturgeschichte, was die Kuckucksauffütterung durch Mutter Grasmücke anbetrifft! –

Nun müßten wir an dieser Stelle eigentlich die damals zuerst angelegten »Landesinvasion-Kostenregister« aufgeschlagen dem Leser vorlegen, um der lieben Frau völlig gerecht zu werden! Was nützte es aber? Es war eben in Niedersachsen von der Elbe bis zum Harz kein Haus und keine Hütte, wo nicht die fränkische Räuberfaust in die Sparbüchse, die Speisekammer und den Brotschrank eingriff. Sie haben es natürlich heute vergessen in der Provinz Hannover, wie Anno siebenzehnhundertsiebundfünfzig der Marschall von Richelieu ihr damaliges Kurfürstentum dem Pariser Generalpächter Gautier in Pacht gab und es ihm zu zärtlichster Rücksichtnahme auf beiderseitigen Vorteil anbefahl und wie auch dieser letztere Herr sich seine Hilfsgenossen zu wählen wußte.

Am 23. Juli 1789 trugen sie in Paris auf einer Pike einen Kopf herum, dem sie eine Faust voll Heu in den Mund gestopft hatten. Joseph François Foullon hieß der Mann bei Lebzeiten, und die Frau Pastorin von Boffzen hat ihn persönlich kennengelernt. Die Lande Braunschweig, Lüneburg und Hannover erinnern sich seiner als Feind; seine eigenen Landsleute gaben ihm schuld, daß er gesagt habe: ihm sei es schon recht, wenn das französische Volk bis zum Grasfressen herunterkomme. Als sie ihn auf das unvorsichtige Wort hin von seinem hannoverschen Beutegut Juvisy als Vierundsiebenzigjährigen abholten, ihn an einem Laternenpfahl in die Höhe zogen und nachher das andere mit ihm vornahmen, gaben sie auch der armen Frau Hanne Holtnicker sowie den Landen rechts und links von der Weser eine späte Genugtuung. Daß gerade ein Jahr vorher Armand Duplessis, Herzog von Richelieu, Marschall von Frankreich, zweiundneunzig Jahre alt, in seinem hannoverschen Pavillon sanft und friedlich entschlafen war, noch in seinem Bette und nicht auf der Guillotine, ist wohl nur einer der behaglichen Scherze gewesen, die die Weltregierung sich dann und wann gestattet, hoffentlich nur, um uns zu zeigen, daß die allerhöchste Entscheidung immer noch ausständig bleibt bei einem letzten Tribunal jenseits des bedenklichen bunten Schattenspiels dieser Erde.

Es war keine Kleinigkeit im Jahre siebenundfünfzig unter dem »Mitindieschüsselgreifen« der Herren Richelieu, Gautier und Foullon so einen Deserteur von Kloster Zeven wenigstens annähernd wieder so zu Fleisch zu bringen, daß er einem Blumenmaler des Herzogs Karl von Braunschweig glich; aber Mutter Holtnicker hat es fertiggebracht – gerade noch zur richtigen Stunde, wie nachher die Wackerhahnsche sagte und, wie wir nun sehen werden, ihre Gründe für das Wort hatte. –

Sie lagen auch nicht auf Rosen in ihren Quartieren von der »Ostsee bis nach Eisenach«, von »Braunschweig bis nach Lippstadt«, die Freunde der Römischen Kaiserin und Gäste des Herzogs Karl von Braunschweig, die mit dem Herrn von Richelieu auf Besuch gekommen waren zwischen Weser und Harz. Die Hospitäler wurden voll und die Musterrollen der Regimenter leer, und die Veteranin aus dem Landwehrturm wußte es, wie man sich da unter solchen Umständen am besten in der Verlegenheit half in allen Armaden damaliger Zeit.

»Verlaß dich drauf, Immeken«, sagte die Wackerhahnsche. »Ich bin auf der Wacht für euch und bleibe darauf bei Tag und bei Nacht. Das Beste, was der Mensch aus der Welt mit nach Hause bringen kann, ist doch nur seine Bekanntschaft mit ihr. Und da es mir unser Herrgott nicht zugelassen hat, daß ich ein eigen Kind in den Mantel nehmen und tragen konnte, so nehme ich im Notfall, und wenn's zum Schlimmsten kommt, deinen Schatz herein und bringe ihn dir in Sicherheit. Die Wege durch den Solling kennt die Förstern Wackerhahn doch noch besser als des Königs von Frankreich Höxterscher Kommandante, und wo heute einzig und allein der richtige Unterschlupf für deinen Blumenmaler und des Cumberländers Deserteur zu finden ist, Kind, darüber habe ich mir auch schon meine Meinung zurechtgelegt. Heile Füße und festes Schuhwerk werden bei dieser Jahreszeit freilich wohl dazugehören.«

»Das habe ich alles!« sagte Immeke von Boffzen.

»Du?« rief die Wackerhahnsche, verwundert die Kleine ansehend. »Ja, Kind, wie meinst du denn das, und was denkst du dir?« fragte sie nach einer Weile lächelnd und strich dabei ganz zärtlich über ihres Lieblings Stirn und Scheitel.

Am Abend des Tages, an welchem dieses Gespräch vorfiel, saß sie noch lange in ihrem Turm, neben ihrem Feuerherd. Und als sie sich auf ihrem Fellager wie ein Igel zusammengeballt hatte, träumte ihr, daß sie mit zwei Kindern, auf jedem Arme eines, durch den Winterschnee, den Krieg, den Solling und den Harzwald sich durcharbeite, um Serenissimo, Herzog Karl von Braunschweig, auf seinem Schloß zu Blankenburg es deutlich zu machen, daß es sich für einen guten Landesvater wohl nicht recht schicke, wenn er nur für sich, die Seinen und seinen Hofstaat allein in solcher Zeit beim wilden Feinde Asyl ausmache. –

Ihr träumte von einer schönen Rede, die sie auf dem Blankenburger Schloß hielt und welche von dem besten Erfolg begleitet war. Am anderen Morgen aber in Höxter auf dem Markt erlebte sie etwas, was, wenn es nötig gewesen wäre, es ihr noch viel deutlicher anheimgegeben haben würde, daß solch ein Erfolg nach einem eindringlich zum Gewissen Reden vor Allerhöchsten Herrschaften etwas sehr Wünschenswertes sei für alles, wofür sie jetzt noch, so spät in ihrem Leben, grimmig-weichherzig, tränenvoll-bösartig in Mitleid, Zärtlichkeit und Herzensangst die Kinderfrau agieren wollte. –

»Das sind Münsterländische, Frau Wase«, sagte neben ihr im Morgennebel eine Stimme. »Sie fangen hier auf unserer Seite scharf an mit der Harke übers Land zu fahren und nehmen auch von deutschem Volk, was sie kriegen können. Das Fieber soll höllisch gewirtschaftet haben in ihren Regimentern an der Elbe. Na, Gevatterin Wackerhahn, und was verschafft uns denn heute morgen hier die Ehre? Hat Sie das Stillesitzen wieder mal satt? Will Sie diesmal für den französischen König wieder mit unter der Bagage auf dem Marketenderkarren?«

Sie hatten sie auch wohl auf dem Höxterschen Rathause schon in den Akten gehabt, und sie kannte den Ellbogen, der ihr zu dem Wort in die Seite gesetzt wurde, recht gut. Meister Voßkuhl, der Magistratsdiener, war's, der ihr aus alter, guter Bekanntschaft das Spektakel deutete, welches sich eben hier, links von der Weser, vor ihr abspielte und in welches sie unter ihren buschigen, grimmig zusammengezogenen greisen Augenbrauen weg schon ohne die freundschaftliche Hinweisung sachverständig genug hineinschaute.

Bewaffnete Begleitmannschaft zu beiden Seiten, zottelte und trottelte durch den frostigen Morgen ein Zug verkommenster Jammergestalten her und der französischen Kommandantur zu. »Wie man sie vom Stroh und von der Straße aufgegriffen hat!« meinte Meister Voßkuhl. »Für den Werbegroschen, den die noch in der Tasche haben, kauft sich auch keiner von ihnen einen Strick mehr, um seinem Pläsier und Gloria ein kurzes Ende zu machen. Lauter glorreiche Alliierte unserer Römischen Kaiserin (Gott erhalte sie!), die freiwillig müssen; der Herr Fürstbischof wissen auch wohl warum, weshalb Sie allergnädigst keinen Einspruch gegen die Gewalttat tun. Ja, ja, seit der Braunschweiger im Lager bei Stade die Sache des preußischen Ketzerfritzen in die Hand genommen hat, geben und nehmen wir alles hier links von der Weser, alles, was einen Platz in der Front und Feuerlinie ausfüllt. Nu, Sie weiß es ja besser als unsereiner, Frau Förstern, wie wenig in so eiligen und heiligen Zeitläuften nach der Landsmannschaft beim Appell gefragt wird. Wo ein Franzmann gestanden hat, da kann ja auch wohl nach ihm ein Bauerjunge und Bürgersohn aus dem Bistum Minden und dem Hochstift Paderborn eine Kuhle ausfüllen und sich mit einem ›Vive le roi‹ den Spaten nachschlagen lassen . . .«

Ein kümmerliches, verdrossen-widerwilliges Vivat hoch und Vive le roi klang gerade in diesem Augenblick von dem Quartier des gegenwärtigen Kommandanten von Höxter, vor dessen Tür der neue Zuzug zum Heer des Marschalls von Richelieu haltgemacht hatte, her. Monsieur le Colonel im Schlafrock und der Zipfelkappe legte sich eben zu freundlichster Begrüßung ins Fenster, und was an Gegenpolitesse durch fichtre – foutre – tonnerre de dieu – sales cochons, Faust- und Kolbenstöße aus einem westfälischen Rekrutentransport Seiner Allerchristlichsten Majestät während damaliger Zeitläufte herauszuholen war, das holte die Begleitmannschaft heraus. Die Wackerhahnsche stieß ihren Stock nicht auf wie sonst wohl, wenn es ihr ums Zwerchfell herum nicht so richtig zumute war oder sie einem Wort Nachdruck, einer Gedankenreihe Abschluß zu geben wünschte! Sie lehnte nur darauf, wie wenn sie im Boffzener Pfarrhause von ihrem Winkel aus dem Kabinettprediger Cober zunickte oder den Hauptmann Uttenberger vom Regiment Lochmann seinem Landsmann Geßner nachmurmeln hörte: »Nicht den blutbespritzten kühnen Helden, nicht das öde Schlachtfeld singt die frohe Muse; sanft und schüchtern flieht sie das Gewühl, die leichte Flöt in ihrer Hand –«

Oder gar:

»Es ist vorübergegangen, Daphne, das schwarze Gewitter; die schreckende Stimme des Donners schweigt. Zittre nicht, Daphne! Die Blitze schlängeln sich nicht mehr durchs schwarze Gewölk; laß uns die Höhle verlassen; die Schafe, die sich ängstlich unter diesem Laubdach gesammelt, schütteln den Regen von der triefenden Wolle und zerstreuen sich wieder auf der erfrischeten Weide. Laß uns hervorgehen und sehen, wie schön die Gegend im Sonnenschein glänzt . . .«

»Kinder, es wird Zeit! Ja, es wird Zeit, arme Kinderchen!« murmelte sie, als sie in diesem Jahre der Schlachten von Hastenbeck und – Roßbach, eine Woche vor Weihnachten, unter dem Schneehimmel ihrem Turm übers Bruckfeld wieder zuhumpelte.

 


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