Wilhelm Raabe
Hastenbeck
Wilhelm Raabe

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Sechzehntes Kapitel

In seinem Leben des Markus Antonius schreibt Plutarch: »Mein Urgroßvater Nikarchos hat oft erzählt, daß alle Bürger von Chäroneia ein gewisses Maß Weizen auf dem Rücken bis an das Meer bei Antikyra zu tragen gezwungen waren und durch Peitschenhiebe fortgetrieben wurden.«

Das war vor der Schlacht bei Aktium: aus der Zeit vor der Schlacht bei Leuthen hätte mein Urgroßvater vielleicht erzählen können:

»Dreihundert heulende Bauernweiber aus dem Fürstentum Grubenhagen begegneten mir heute auf der Landstraße mit Körben, in denen sie die in der Bergstadt Lauterberg gegossenen Kugeln der französischen Besatzung von Göttingen zutragen mußten.«

Es bleibt eben immer dasselbe in der Welt: Wer die oberste Hand hat, verwendet sie selten zum Streicheln, sondern gebraucht sie lieber fest als Faust. Und wie die Welt nun einmal ist, tut er auch gar nicht übel daran, handelt jedenfalls durchaus nicht unverständig und gegen sein Bestes.

Am fünften des Christmonds fiel die Schlacht bei Leuthen vor, und am dreiundzwanzigsten Dezember fuhr der fränkische Besen über die Weser aufs rechte Ufer und versuchte dort, noch unter dem Scheine des Rechts, die von Kloster Zeven aus verstobene Spreu zum nützlichen Verbrauch durch Römisch Kaiserliche Majestät, die Frau Königin von Ungarn, und König Louis von Frankreich und Navarra zusammenzukehren.

Von den Hannoveranern war der herzoglich braunschweigische Untertan und Blumenmaler Pold Wille durchgegangen. Und durch die Hannoveraner ließ gerade um diese Zeit Herzog Ferdinand von Braunschweig die Truppen seines Herrn Bruders, des Herzogs Karl, augenblicklich von Richelieus Gnaden nur souveräner Herr der Grafschaft Blankenburg, umzingeln und ihren General von Imhof gefangensetzen, um ihr Durchbrennen nach dem Willen ihres Kriegsherrn zu hindern und sie zum Dienst und für den Gebrauch Seiner Majestät König Friedrichs in Preußen bei sich festzuhalten. Toller als wie damals nach Kloster Zeven ist wohl nur selten um Eid und Ehre deutschen Kriegsvolks und deutscher Ritterschaft von Monsieur Arlequin mit der diplomatischen Pritsche und Gevatter Hanswurst mit dem politischen Plumpsack herumgetanzt und zugehauen worden, und – »gerade zur Weihnachtszeit und ins Kuchenbacken für den Heiligen Christ hinein!« . . .

Ach ja – »so ein Fest und Kuchenbacken wie diesmal – dafür doch lieber gar keines – Gott verzeihe mir die Sünde!« seufzte im Boffzener Pastorhause die Frau Pastorin. »Säße nicht der Papa in seiner Stube über seiner Predigt, dazu mit einem Kopf, wie ich ihn noch niemals so dick und rot und schmerzensreich an ihm gesehen habe, ich ließe Backtrog Backtrog sein und sagte: Immeke! Dörthe! krempelt die Ärmel herunter und laßt den Teig stehen, wie er steht. Geht meinswegen über die Weser ins Katholische und fragt da an: ob sie noch mehr Lust als wie wir hier zu so was haben?! Oh, du himmlische Güte, ist es denn eine Menschenmöglichkeit, daß ein christlich lutherisches Eheweib und noch dazu eine Pfarrersfrau durch die Zeitläufte zu solchen sündhaften Worten und Reden gebracht werden kann? Aber was mein Pastor tun kann, tue ich auch und gebe Gott und seinen angeordneten heiligen Gebräuchen die Ehre, bis sie nach seinem Willen und besseren Einsehen ihre Flintenkolben mir auf die Krähenaugen setzen. Nachher weiß ich freilich nicht, was wir noch zu seinem Lob und Preis in dieser Zeit tun können, Mädchen!«

Ach, und trotz allem wußte sie doch noch nicht genau genug, wie nahe die Gewehrkolben ihren Zehenspitzen waren und was sie zu dem gröblichen Aufstampfen sonst noch erleben sollte – gerade in dieser lieben Weihnachtszeit, zum Heiligen Christ, wo die Kinder sonst doch am artigsten zu sein pflegen und am wenigsten etwas tun, was Vater und Mutter Verdruß und Kummer verursacht oder sie gar außer sich bringt und sie die Hände überm Kopf zusammenschlagen läßt.

Was ihr am dreiundzwanzigsten Dezember das von Gottes und des Kabinettpredigers Cober Wunderwagen in die Arme gefallene Pflegekind – ihr Kind, ihr Kind – unser Bienchen von Boffzen antat und, wie es meinte, nach Gottes Willen antun mußte, das konnte geschehen; aber wenn noch für Mutter Holtnicker ein Zeichen, daß die Welt untergehen wollte, fehlte, so war solches hier gegeben. Immeke von Boffzen ließ an dem Tage Vater und Mutter um des Liebsten willen.

Wie das kommen mußte und also auch so gekommen ist, das zu erzählen erfordert ein eigenes Kapitel, und ist es hier, an dieser Stelle, mehr als sonstwo in unserem treuen Bericht schade und ein großer Mangel, daß der Hauptmann Uttenberger vom Regiment Lochmann keine Papiere hinterlassen hat. Was wir über die Sache von einem vergilbten Blatt in der Handbibel Ehrn Gottlieb Holtnickers in Erfahrung gebracht haben, ist uns zwar sehr von Nutzen gewesen, aber reicht in Anbetracht der Merkwürdigkeit des Falls längst nicht aus. So tritt denn wieder einmal die Tradition in ihre Rechte, und wir gehören wahrlich nicht zu denen, welche das Wahre aus mündlicher Überlieferung in der Geschichte der Völker, der Religionen und des menschlichen Herzens glauben entbehren zu können, die nur das für das zu Recht Beglaubigte halten, was seit Erfindung der Hieroglyphen und der Buchstabenschrift in Stein gehauen, in Ton gedrückt oder auf Papyrus, Lumpen- und Holzpapier schwarz auf weiß vorgelegt werden kann.

 


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