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Der Nebel senkte sich freilich ziemlich rasch, und das versprach einen schönen Tag. Was half das aber der armen Immeke auf ihrem Heimwege? Was für ein Tag stand ihr bevor, und wenn das Wetter auch noch so gut wurde?
Sie kam heim mit bebendem Herzen, nassen Augen und nassen Strümpfen und Röcken, und dabei wenigstens war ihr das Glück günstig: der Herr Vater lag noch im tiefen Morgenschlummer, und die Frau Mutter setzte sich eben erst aufrecht an seiner Seite im warmen Bett und starrte mit ihrer allmorgendlichen Angst, sich verschlafen zu haben, um sich herum. Danach hatte es wohl noch zehn Minuten Zeit, ehe sie tagfertig zu Beinen war und ihr Ruf: »Hannchen! . . . Dörthe!«, durch das Haus erging und auch sie den Kampf ums Dasein im Namen Gottes, aber im völligen Verlaß nur aufs eigene richtige Verständnis von den Dingen von frischem aufnahm.
»Was soll ich tun? O liebster Gott im Himmel, was sollen wir anfangen?«
Es war gar nicht nötig, daß der Kapitän im Dienste Seiner französischen Majestät diese Worte aus der geängsteten Kinderseele vernahm. Wie schlimm es mit seinem alten Leichnam sonsten auch bestellt sein mochte: seine guten Augen hatte er noch und war der einzige im Pfarrhaus, der das »Immli« bei seinem Einschlupfen nach seinem Schreckenswege sah und, um ihr den höchsten Schrecken zu ersparen, nicht von ihm gesehen wurde.
Das wäre freilich wohl das Schlimmste gewesen, in solcher Ratlosigkeit und mit dieser Last auf dem kleinen Herzen den Feind im Haus zuerst zu Gesichte zu bekommen! –
Die Unruhe und das Ziehen und Reißen in den Gliedern hatten den alten Herrn nicht mehr auf seinem unfreiwilligen Gastbett geduldet. In seinen abgetragenen Kriegsmantel, seinen Rockelor, gewickelt, auf seines weichherzigen Gastgebers spanisch Rohr gestützt, hatte er sich mühselig bis zu dem Fenster geschleppt und in das Nebelgrau des neuen Tages mit Kopfschütteln und schwerem Seufzer hineingeschaut, der alte abgetragene Kriegsmann. Die zwei von Gottes Wunderwagen in das Boffzener Pfarrhaus Abgeworfenen, das junge Kind und der Greis – wie wenig wußten sie in dieser Stunde davon, wie sehr sie sich zum Trost bestellt waren für die nächste Zeit im angstvollen Dasein und den unruhigen Zeitläuften!
»Was ist dem Kindle arrivieret?« fragte sich Herr Balthasar Uttenberger, und es war gar nicht notwendig, daß er zu ihrem Händeringen und der Schürze vor den Augen auch noch ihre Worte von seinem Fenster aus vernahm:
»Was fangen wir an? Was soll ich tun? Wer wird uns helfen, liebster Gott im Himmel?«
Sein mitleidig Herz und seine väterliche Teilnahme an der Kleinen schufen es auch ohne das, daß das arme Mädchen den »Feind im Hause« nun doch schon auf dem Hausflur ihrer wartend fand mit der Frage:
»Mon dieu, mademoiselle, was haben denn mein lieb Immeli?«
Und wie der Pastor von Boffzen und der Kabinettprediger Cober gegen das Lügen gepredigt haben mochten: das Bienchen von Boffzen log doch, log wie – Salomon Geßner, wenn er bei beginnendem Siebenjährigen Krieg von der Welt als von Arkadien und von seinen Zürcher Bauern als unschuldigen arkadischen Schäfern und Schäferinnen sang.
Ob sie ihre verweinten Augen, zerzausten Haare und nassen Kleider auf den Iltis oder den Marder in ihrem Hühnerstall schob, ist wohl gleichgültig. Stinkratz, Edel- und Steinmarder hatten dem Boffzener Pfarrhofe gegenüber so viele ungesühnte Schandtaten auf dem Gewissen, daß es wahrlich nicht auf das ankam, was ihnen jetzt ungerechtfertigterweise auf den Pelz geschoben wurde. –
»Wenn nur der Herr Hauptmann der Frau Mutter nicht hiervon sagen wollten!« . . .
Kopfschüttelnd ließ der Herr Hauptmann das Kind an sich vorbei, hinein ins Haus, und stieg wieder treppauf zu seinem eigenen trübseligen Quartier, mit der festen Gewißheit, daß er vor Abend in Erfahrung gebracht haben werde, was dem Liebling passiert sei und ob er seinerseits, wie schon öfter, zum Guten reden, raten und helfen könne. –
Aber wohin sollte das Kind mit seinem überschweren ratlosen Herzen? In die Küche zu der Frau Mutter mit dem Stab Wehe und dem Kochlöffel in der arbeitseligen braven Faust, dem Haß gegen Schloß Fürstenberg in ihrem Herzen und dem Pastor von Derenthal in ihrem Sinn?
Sie vernahm die gute Frau schon in heftigem Verkehr mit Knecht Börries, und Dörthes Stimme klang allbereits auch wieder wie dem Weinen nahe in das Rasseln von Topf, Kessel und Kelle des Frühhaushaltes am friedlichen Herd hinein: die Küchendecke wäre ja niedergebrochen, wenn Immeke da den Versuch gemacht hätte, der Mutter mit ihrem Jammer, ihrer Not vom Landwehrturm her um den Hals oder vor die Knie zu fallen! und – eine halbe Sekunde später, wenn so was nach der Zeit zu messen wäre, hatte »der liebe Gott ihr schon zu dem einzigen, was übrig war«, geholfen: sie kniete am Bettrande des Vaters und hielt den aus vollständigster Vergessenheit seines Erdendaseins Aufgerissenen in den Armen:
»Vater, Vater, helfe Er mir! Helfe Er uns!«
Aus einem Traum, der ihn eben in die Mitte der Offenbarung Sankt Johannis, auf den Marktplatz des himmlischen Jerusalems, vor den Thron des Lammes, geführt hätte, aufgeschreckt zu werden wäre behaglicher gewesen für den guten Alten, als so auf solche Weise aus der vollkommensten, süßesten Bewußtlosigkeit in das Bewußtsein des jetzt in Wirklichkeit vorhandenen Tages hineingerissen zu werden. Nur selten in seinem Leben hatte der Pastor von Boffzen verstörter um sich gesehen als wie jetzo in der Umarmung, unter den Küssen und Tränen seines Pflegetöchterchens. So hatte er den Stern Wermut noch nicht auf sein eigen Dach niederfallen, die vier grausen Reitersmänner auf sein eigen Pfarrdorf ansprengen sehen als wie jetzt, bei nach und nach kommender Besinnung unter dem Geschluchze des Kindes:
»Im Landwehrturm bei der Wackerhahnschen liegt er im Fieber. Von dem Kloster, dem Ort, von dem auch der Herr Vater und der Herr Hauptmann die letzte Zeit so oft und so schlecht geredet haben, hat er sich retten wollen, und – nun sind sie ihm alle auf den Hacken: alle Franzosen, alle Hannoveraner, alle Preußen und alle Braunschweigischen auch! O Gott, wir Braunschweigischen erst recht! Alle wollen sie ihn mir hängen oder zwischen die Spitzruten schicken, wenn sie ihn in seiner engelländischen Lumpenmontur fassen! O du barmherziger Gott im Himmel, und bei mir – bei uns hat er nun seine letzte Sicherheit gesucht; o du himmlischer Vater, Herr Vater, was soll aus uns, aus ihm und mir werden, wenn Er keinen Rat für uns weiß, wenn Er uns nicht helfen will in unserer allerhöchsten Not?« . . .
Daß der geistliche Herr in seinem Nachtkamisol, aufrecht im Bett und in seines Kindes Armen sitzend, nicht sofort begriff, um was es sich hier eigentlich handele, war wohl nicht zum Verwundern. Hätte das arme Geschöpfchen, sein Immeken, Stunden gebraucht, um für alles, was es auf dem Herzen hatte, Worte zu finden, so brauchte der Pastor wahrlich eine geraume Zeit, um sich nur notdürftig das zurechtzulegen, was er da vernahm und wofür er jetzt eintreten sollte, als letzte Hilfe, zu Schutz und Trutz. Ja, auch zu Trutz, und zwar in nächster Leibes- und Seelennähe. Dies letztere war das erste, was ihm ganz klar wurde, und so war es denn auch kein Wunder, daß ein Stündlein später, als sich die Hausgenossenschaft beim Warmbier zusammenfand und das Feuer im Ofen prasselte wie das Behagen selber, doch kein Behagen unter den Leuten war und trotz des Morgenpsalms und Gebetes nicht die geringste Erhebung über Lebensnot und Erdendrangsal. Sowohl sein Eheweib als auch Hauptmann Balthasar Uttenberger hatten wohl Grund, den alten Herrn einige Male mit Verwunderung und Besorgnis anzusehen. Daß sie sich nach seinem Befinden erkundigten, war nicht eine bloße Höflichkeitsformula. Daß er für gütige Nachfrage dankte und erwiderte, ihm sei ganz wohl und alles in ihm in bester Ordnung, wird ihm am Jüngsten Tage hoffentlich nicht als Todsünde zugerechnet werden. Gelogen war's aber. –
Von der Immeke Aussehen schweigen wir. Glücklicherweise war die Frau Pastorin mit ihren Gedanken so sehr in ihrem Schweinestall und bei der von Börries ihr verkündeten neuen Einquartierung ausgehungerter, gefräßiger fremder Völker, daß sie nachher selber sich die heftigsten Vorwürfe darob machte: gerade diesmal »so wenig Augen für das Kind gehabt zu haben«.
»Hättest du für mich später wohl einen Augenblick Zeit, liebe Johanna?« fragte mit verquollener Stimme nach gesprochenem Dankgebet der Pastor von Boffzen.
Und:
»Kannst du es mir nicht gleich hier sagen, was du willst, Holtnicker?« seufzte die Pastorin. »Mir brennt das Leben wie Feuer auf den Nägeln – der Herr Kapitän gehört nun nach und nach doch ganz wie zu uns.«
»Ich möchte doch lieber einen Augenblick mit dir in meiner Studierstube reden, Liebste. Der Herr Hauptmann verzeihen wohl gütigst – es ist nicht von Belang für Ihn«, erwiderte der alte Herr wie auch im Fieber mit schwerer Zunge und mit der zitternden Hand nach der Kehle greifend, als fühle er den Strick um sie gleichwie der arme Pold Wille, der Blumenmaler und Deserteur von Kloster Zeven im Turme der Wackerhahnschen. –