Wilhelm Raabe
Hastenbeck
Wilhelm Raabe

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Elftes Kapitel

Da wir mit ganzer Seele dabei gewesen sind, die unglückselige Kreatur, Musketier Wille, aus dem Jammer-Feldlager in der Landdrostei Stade, aus den Gräben der Landstraße, aus dem Landwehrturm im Bruckfelde, aus der Pflege der Wackerhahnschen wieder unter ein richtiges Dach und zu »Menschen« zu schaffen: so hatten wir Atem zu schöpfen und den Schweiß von der Stirn zu wischen wie Knecht Börries, nachdem er seine Elendslast im Pfarrhause zu Boffzen der Frau Pastorin vor den Füßen abgelegt hatte.

»Alle Hagel!« hatte der gute Knecht gesagt; – wir sagen das nicht, bei so viel verstörten Gesichtern rundum und einem so sehr tränenüberströmten drunter: wir sagen nur, daß es uns erst neun Tage vor dem ersten Advent möglich wurde, den Faden dieser Geschichte wieder aufzunehmen.

In was alles haben wir unsere liebe Nase erst stecken müssen, wie haben wir mit kümmerlichen Lämpchen in die »Nacht der Zeiten« hineinleuchten müssen, ehe wir alles, was jetzt dazu gehörte, an der Schnur hatten! Doch nun sind wir so weit, daß keiner auftreten kann und sagen:

»Herr, so ist die Sache nicht gewesen. Die Dinge sind ganz anders gelaufen, und ich bin's, der noch an besseren Quellen gesessen hat, sowohl was die Konvention von Kloster Zeven, wie auch was die Pastorin Holtnicker, den Pastor Störenfreden, den Blumenmaler von Schloß Fürstenberg und das Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten anbetrifft. Von den anderen gar nicht zu reden.« –

Der Römische Kaiser Carolus Magnus hat dem November nicht ohne Grund als Frankenkönig den deutschen Namen Wind- und Reifmond gegeben. Es windete stark in dem November des Jahres siebzehnhundertsiebenundfünfzig, vom Reifen ganz abgesehen. Ein Todkranker war zu jetziger Jahreszeit, was das Gesundwerden anbetraf, wahrlich besser, trotz allem, unter dem Dach des Pastorhauses von Boffzen als in dem Wartturm der Wackerhahnschen aufgehoben, wie Hauptmann Uttenberger aus eigener Erfahrung richtig bemerkt hatte. Und wer vor allen die festeste Überzeugung davon hatte, das war die Mutter des Hauses, so wider den Strich ihrem lieben, barmherzigen Herzen diese jetzige Krankenpflege sich aufdrängen mochte! –

Auch in der Nacht vor dem Morgen, von welchem an wir weitererzählen, hatte Boreas arg sein Spiel im Wesertal getrieben; doch von Tagesanbruch an war er still geworden und hatte dem ersten wirklichen Winterschnee des Jahres das Reich gelassen. Der kam nun herunter in großen, reinlichen weißen Flocken und legte sich auf ganz Niedersachsen; er ekelte sich nicht. Was hatte er da alles zuzudecken, was nicht erfreulich anzusehen war, auch wohl noch zum Himmel stank: Blutflecken, Brandstätten, vergessene Menschen- und Tierleichen an den Landstraßen, in Hohlwegen, im Wald, Busch und in der Heide! Der Herr Herzog von Richelieu, wenn er in späteren, kommenden Wintern in seinem Pavillon d'Hanovre zu Paris die Füße in den Schuhen mit den roten Hacken behaglich gegen den Kamin ausstreckte, durfte sie wohl mit schmunzelndem Nachdenken betrachten. Talons rouges – serres rouges! Rote Fänge haben ja auch wohl die Geier und sonstigen Aasvögel, wenn sie sich überfressen, beutefroh vom Kadaver erhoben haben und zum Verdauen im Horst niedersitzen? – Halten wir uns, und wenn auch nur für einen Augenblick, an den Schein des Friedens und der Stille, den der liebe unschuldige Schnee der Welt gibt! Wo blieben wir mit unseren Ansprüchen auf Erden an die Erde, wenn es uns nicht allgemach beigebracht worden wäre, uns hienieden an den Schein zu halten und uns mit unseren Ansprüchen auf dauerndes Behagen an etwas über dem Pavillon von Hannover und dem Schnee zu halten? –

Sie standen im Waschhaus am Waschfaß, das Boffzener Bienchen und Dörthe Krüger, und die Frau Pastorin war auf einem Wege im Dorf, und sie glaubten sich für ein oder zwei gute Stunden in Sicherheit vor ihr, Dörthe und Mamsell Hannchen, und sie taten ihre Arbeit um so eifriger, je weniger sie ihren Zungen Zwang anzutun brauchten, und – wir können nichts Besseres tun, als bis die Frau Mutter wieder nach Hause kommt und nach dem Rechten sieht, ihre Stelle hinter der Tür einzunehmen und auf das zu horchen, wovon die Rede zwischen den beiden Mädchen ist, während draußen der erste Winterschnee niederfällt. –

»So gebe Sie sich doch endlich zu, Jungfer Hannchen«, schluchzte Jungfer Dörthe. »Was hilft es Ihr denn, daß Sie da der Frau Mutter Hemde auch mit Ihren Tränen wäscht? So wahr ich hier dem Herrn Hauptmann sein drittes und letztes (nun gucke nur einer, wie da der Wind durch die Löcher gegangen sein muß!) in Händen habe, Sie kriegt ja Ihren Wunsch und Willen, wenn es noch ein Einsehen vom hohen Himmel her gibt! So tue Sie doch nicht, als ob Sie jetzt schon in die Weser um den Herzensschatz gehen müßte! Aus dem Bett ist er ja seit gestern auf, wenn auch knickebeinig genug; aber Börries sagt, das täte ihm gar nichts; wenn man 'nen Menschen nach so was so weit wieder hätte, so käme es bloß noch auf gute Fütterung an und den Doktor brauche man für ihn nicht mehr im Stall.«

»O Dörthe!«

»Ja, Mamsell, seine Worte weiß er wohl nicht zu setzen, unser Börries, aber seine Meinung und aus bestem Herzen ist's und meine auch. Tut ihm, und da meine ich unseren Herrn Pold, die Frau Mutter kein Gift in die Suppe und tun sie ihn nicht unter die Spitzruten oder hängen ihn an den Galgen, die Franzosen und Unsere, so kann er unserem Herrn Herzog Karl oben in Fürstenberg noch lange was anmalen, sagt mein – sagt Börries. Und Ihr auch, Jungfer Holtnicker, und nicht bloß auf Pötte und Teller und Tassen, sondern um Ihr ganzes liebes junges Leben herum, lauter Lilien, Rosen, Veilchen und Vergißmeinnicht – die Myrte nicht zu vergessen. Da guck, was holt Sie sich da aus dem Büketubben, Mamsellchen, wie ein Zeichen, daß Ihr der liebe Gott zu Ihren Wünschen mit dem Kopfe nickt? Ist das nicht eines von Ihren eigenen? Jetzt braucht Sie ja bloß sich zu denken, es sei Ihr Brauthemd, und wenn Sie dazu Brauttränen in die Seife weinen will, so tue Sie es meinetwegen; aber denke Sie sich auch nur Ihren Bräutigam dazu und nicht der Frau Mutter ihren, den Herrn Pastor in Derenthal, gegen den guten, jungen geistlichen Herrn ich sonst ja eigentlich gar nichts hätte, denn ein guter Mensch ist er, unser Herr Pastor Störenfreden, und an seiner Schlechtigkeit gegen Sie, Mamsell Hannchen, ist er wohl gar von sich selber aus nicht so schuld, als wie Sie ihm unseres, ich meine Ihres Musche Wille wegen schuld geben muß. Und was ihre Hübschigkeit angeht, nu, da braucht wohl keiner von beiden gerade vor den Leuten auf die Leine sich in die Sonne zu hängen! Wie unser junger Malermeister aus dem Felde nach Hause gekommen ist, ist der Unterschied nicht mehr groß, was ihren Staat vor dem Spiegel angeht; doch des Menschen Wille ist eben des Menschen Wille, und Sie, Sie will nun eben nicht unseren jungen geistlichen Herrn Störenfreden, sondern unsern jungen künstlichen Herrn von Schloß Fürstenberg, und so prophezeie ich, daß, wenn unser Herrgott nicht vorher Himmel und Erde und alles untergehen läßt, Sie trotz allem Ihren Willen kriegt, Mamsellchen Holtnicker!«

»Mit meinem Willen nicht!« erklang es hinter der Prophetin. »Kannst du prophezeien, so kann ich es auch und – da hast du das Siegel auf mein Wort, du Gans, du Schnatterliese, du Maulaffe! So also gehen die Mäuler unter euch, wenn man mal auf fünf Minuten den Rücken wendet, um Gottes Barmherzigkeit im Dorf auszuüben? Du bleib bei der Arbeit, Jungfer Trine, Jungfer Naseweis, und du, du, du böses Kind, laß nur dein – dein Brauthemd da in der Seife; es wird wohl noch Zeit haben, bis ich es dir aus dem Schrank hole. Jetzt komm und geh mit; ich will es dir ganz in der Stille sagen, was ich dir zu – zu – sagen habe! Ganz in der Stille und mit – Ruhe!« –

Es war die Frau Pastorin, die plötzlich hinter der Tür her, neben dem Waschfaß und vor den beiden armen aufkreischenden Mädchen stand; und wenn je eine Ohrfeige als gültiges Siegel auf eine Haut gedrückt wurde, so war es die, welche jetzt auf Dörthe Krügers gottlob wetterfeste Wange klatschte. Die Frau Pastorin aber führte ihr zitterndes Töchterlein wirklich ab und sagte ihm ihre Meinung »ganz in der Stille und mit Ruhe« noch einmal. Und als das arme Kind im Hause wieder zum Vorschein kam, da hatte es viel verweintere Augen als das wackere Dortchen am Waschfaß, denn das hatte wenigstens zu seinen Tränen auch seine Wut auslassen können, und zwar nicht in der Stille und mit Ruhe. Wie aber der unschuldige Dritte bei solchen Gelegenheiten oft am meisten zu leiden hat, so wurde es auch jetzt. Kapitän Uttenbergers drittes und letztes Hemde ging dem guten Mädchen in den vor kochendem Grimm bebenden Händen völlig zugrunde und in Fetzen und verunzierte nachher auf der Leine die diesmalige große Wäsche der Frau Pfarrerin von Boffzen schändlich. Unter keinen Umständen wäre es noch für Salomon Geßner auf der Leine in seinen Idyllen – in Arkadien, im Tal Tempe verwendbar gewesen, aber im Oberstock des Hauses, im Quartier des Hauptmanns lag der doch auf dem Tische aufgeschlagen und nahm wieder sein Recht in der zänkischen, der wilden und blutigen Welt. Es konnte etwas anderes sein, aber es sah aus wie ein Blutfleck vom Felde bei Hastenbeck her, was sich über die Idylle von der »Erfindung der Gärten« hingelegt hatte und bis auf die Blattseite durchgesickert war, von der es melodisch her lispelte:

»Itzt schließt uns der stürmende Winter ins Zimmer, und Wirbelwinde durchwühlen den silbernen Regen der Flocken. Itzt soll mir die Einbildungskraft den Schatz von Bildern öffnen, die sie in dem blumichten Lenz und in dem schwülen Sommer und in dem bunten Herbst sich gesammelt; aus ihnen will ich itzt die schönsten wählen und für dich, schöne Daphne, in Gedichte sie ordnen.«

Und sie saßen beisammen am Fenster ihrer Krankenstube im Oberstock des Hauses über der Studierstube des Pfarrers und seiner Lebensangst und über der Waschküche und der Angst und dem Gewäsch der armen Weiber im Hause.

Wer?

Die zwei Kriegsmänner, der alte und der junge, der Schweizer Reisläufer und der Deserteur von Kloster Zeven – zwei Passagiere, abgeladen von Gottes Wunderwagen im Boffzener Pfarrhause, um jetzt in den »silbernen Regen der Flocken« zu starren, über die Erfindung der Gärten in der Welt nachzudenken und – blutrünstig, fieberkrank, zerstoßen und zerschlagen von der Lebensfahrt, angenehm wie Schäfer Lykas beim jungen Zürcher Poeten Salomon Geßner zu versuchen, den Schatz von Bildern, den sie im blumichten Lenz, im schwülen Sommer und im bunten Herbst sich gesammelt hatten, zu »ordnen«.

Auf den Arm des Hauptmanns Uttenberger gestützt, hatte der Fahnenflüchtige des Kurfürsten von Hannover, des Königs von England, des Herzogs Karl von Braunschweig und – des Königs Louis von Frankreich zum erstenmal vor drei oder vier Tagen das Bett, das ihm seine ärgste Feindin, Mutter Johanne Holtnicker, mit zusammengebissenen Lippen, aber doch mit tränenden Augen so weich als möglich aufgeschlagen hatte, verlassen. In Kleidern, die sein unbestrittenes Eigentum im bürgerlichen Leben waren, die ihm aber verstohlen bei Nacht von Schloß Fürstenberg herunter Knecht Börries hatte herbeischaffen müssen. Wenn in der bösen Welt der Krieg die Menschen voneinanderreißt, bringt er sie doch auch wieder zueinander. Der Feind war es, der auch jetzt dem armen Pold im Armstuhl Ehrn Gottlieb Holtnickers die Kissen zurechtrückte, der Feind vom Regiment Lochmann war's, der ihm augenblicklich die Hand auf die Schulter legte und brummte:

»Mein armes Buebi! Gott straf mich, wenn ich weiß, wie ich dazu komme, das Kinderfraueli hier bei dir zu spielen? Peste! wie manchen deiner Art hab ich ohne Manier mit dem Fuß beiseite geschoben oder ihm seine winselnd aufgereckte Hand mit dem Kolben oder dem Degen aus dem Wege geschlagen, wenn er mir beim Vormarsch ein Hindernis damit sein wollte! Und nun? . . . Jaja, mein lieb Immli – dein Immli, dem ich weidwund in den Weg gefallen bin! Was hätt ich mit dir Lausbueb mehreres als mit tausend anderen deiner Jahre und Umstände, so ich hab liegen lassen, wie sie lagen, auf dem Feld, an dem Wege, im Spital, ohne dein Immli? Als ein Wunder muß ich es halten, was mir da unser Herrgott auf meine alten Tage, nach so viel Märschen in aller Herren Diensten, nach so viel kleinem Gewehr, grobem Geschütz und wüster Arbeit mit der blanken Waffe, nach so viel Blut und Mordbrand in aller Herren Länder angetan hat in seiner Barmherzigkeit hier unter diesem Dach, bei diesen lieben Leuten, in diesem blutigen Blumensommer bis zu diesem Schnee, der da jetzt herniederkommt und der Welt Tüfelsuflat weiß zudecken will. Da lieget das Büchlein, das ich auch aus dem Blut aufgegriffen hab – was wußt ich, der Schweizer Hirtenbub, von den Schäflein und den Lämmlein auf den bunten Wiesen? Was wußt ich von der Welt Lieblichkeit, bis dein Meitschi, das Immli, sie mir ausdeutete da unten in ihrem Garten? Was hab ich gewußt, was erfahren vom Kind, vom Weib, vom Mann – von den Menschen, seit ich weggelaufen bin, siebzehnjährig als Waisenbub, meinem Götti vom Vieh am Uri-Rotstock zum Herzog von Savoyen, dem König von Sardinien, und nachher zum römischen Papst? Sie haben da nur Katholische unter der Leibguardia gewollt, in Rom; auch das ist mir recht gewesen, wie es mir jetzt in gesunderen Stunden ein Pläsier geworden ist, zwischen unserer Frau Pfarrere und unserm Immli im Kirchstuhl zu sitzen und den Herrn Pfarrer nach Doktor Luther predigen hören wie daheim unseren geistlichen Herrn nach Doktor Zwingli. Nun bin ich hier ein armer Invalid zwischen den Herrn Doktor Cober, das Immli und da das kleine Büchli gefallen – vom Lebens- und Kriegswagen abgeworfen: das ist die Sach! Wie gute Kameraden sind wir geworden: das Soldatenkind, abgelegt der Frau Pfarrere und dem Herrn Pfarrer von Gottes Wunderwagen, und der Reisläufer vom Uri-Rotstock, abgeworfen im Sterben vom Bagagewagen des Herrn Marschalls von Estrées durch diesen schwülen Sommer und bunten Herbst Herrn Salomon Geßners! Ja, Bübli, Bübli, hab ich nicht schon von dir im Fleisch als Liebling und Liebhaber gewußt, ehe du mit dem ersten Schnee des Jahres dich dem Hauptmann Uttenberger vom Regiment Lochmann präsentiertest als Skelett von Kloster Zeven her aus der Ordre de bataille des Herrn Herzogs von Cumberland? Da schau, da deckt der Schnee den Garten und die Bank hinter dem Steintisch, zu welcher sie den Feind im Lande, den Jammermann, den Balzer Uttenberger, unter den Armen gefaßt, geleitet haben, die Frau Pfarrere und dein Immli, und ihn mit einem Kissen im Rücken eingelassen haben in ihr liebes Leben, in das wir als die Verstörer eingefallen sind – du, ja du, und der Krieg und ich! Jawohl der Krieg, der Krieg, der Krieg! Sind wir nit noch alle im Krieg miteinander, so gut wir es auch miteinander im Sinne haben mögen? Zur lieblichsten Jumpfere im Kanton hat die Frau Mutter, die Frau Pfarrere, unser Meitschi auferzogen, aber nun will sie auch ihr Recht an ihm behalten und nimmt dich für den Weih, der auf ihr Täubli stößt. Ach, armer Tropf, du! ach, arme Kindli ihr, was soll aus euch werden, wie es da eben vom Waschhaus her zu uns heraufgeschrillt hat zugunsten des jungen Herrleins von Derenthal? In seiner Studierstub sitzt der Herr Vater, unser Herr Pfarrer, und hält sich still vor der Weiberzunge, weil er uns und sich keinen Rat weiß vor ihr; und hier sitzen wir, beide aufgehoben aus dem Dreck und Blut, gewaschen, getrocknet, ins Weiche gebettet, geatzet und getränket, ich vom Feind, du von deiner Feindin – Blumenmaler, Blumenmaler, sie wollen alle ihr Recht in der wilden Welt! an mich der Knochenmann, an ihr lieb Kind die Frau Pfarrere, dein Immli an dich, du, mit dem Strick der Profossen aller hohen kriegführenden Mächte um den Hals, an das Meitli – was soll daraus werden? was soll daraus werden? Sie reden und sie singen, der Herr Kabinettprediger Cober und der junge Herr in Zürich mit seinem Büchlein von den Hirten und Hirtinnen, beide von euch, nach der Pfaffen und der Poeten Weise; aber ich, der Uttenberger aus dem Regiment Lochmann, frage: was soll daraus werden? was soll aus euch werden? Es gibt keiner sein Recht gern auf. Die Frau Pfarrere nit an ihr lieb Pflegekind, der Profoß nit seinen Anspruch an deinen Hals, Bueb. Und – Söhnlein, Söhnlein, wir sind erst am Anfang des Unheils! Glaubet nit, daß das Ungewitter sich wieder so schnell verziehen wird vom teutschen Boden wie Anno vierzig und vierundvierzig.«

»Ich weiß! ich weiß!« schluchzte der arme Junge, mit dem Jackenärmel sich die Tränen wischend. »Die Frau Förstern, die Wackerhahnsche im Landwehrturm, hat's auch schon so gewußt, und im Hunger- und Jammerlager bei Stade haben sie sich alle darauf eingerichtet. Und mein lieber Herzensschatz weiß es auch, und auf Schloß Fürstenberg wissen sie es und haben deshalb die Öfen ausgehen lassen. Was von uns nicht verhungert oder ausgewandert ist aus dem Malersaal, das kauert im Winkel und hat sich den Schmachtriemen um den Leib zugezogen. Sie sagen, Serenissimus, Herzog Karl, habe sein Asyl, die Grafschaft Blankenburg, von dem Feind, dem Franzosen, dem Herzog von Richelieu, so teuer erkaufen müssen, daß er für sich selber nicht wisse, wo er seinem durchlauchtigsten Leib Rat hole. Wie kann der Herr noch an sein buntes Porzellan hier an der Weser denken, wo er selber mit der Frau Herzogin und den Prinzen am Harz auf den irdenen Napf und den hölzernen Löffel angewiesen ist? Ach, der Herr Hauptmann wissen nicht, wie Sie mir die Kehle zusammendrücken, wenn Sie mir des Pläsiers wegen von den Hirten und Hirtinnen und der Welt Lieblichkeit aus Ihrem Buche lesen! Es hat nur einer recht hier im Haus, und das ist die Frau Pastorin! In Derenthal bei ihrem Herrn Cousin, dem Herrn Pastor Störenfreden, ist's freilich am besten für ein Kind, dem sie ein Dach über den Kopf und einen Küchenherd und einen Ehemann vom Himmel herabfleht tagtäglich und sonntags in der Kirche! Was bin ich? O Gott, o Gott, wer mir das einmal gesagt hätte in meiner Mutter Witwenstube in der Wendenstraße und hinter Unsern Lieben Frauen im Waisenhaus beim Zeichenmeister Herrn Brandanus Meier und hier im Malersaal auf Schloß Fürstenberg, daß alle Könige der Welt mal hinter mir herschreien würden: ›Schlagt ihn tot, den Hund!‹ – ›Ein armer verlaufener Hund!‹ hat ja auch die Wackerhahnsche gesagt zum Herrn Pastor, wie ich in meinem Fieber in ihrem Turm wohl gehört habe. Einen Strick am Halse schleife ich mir nach, und das ist das einzige, was ich meiner Liebsten in der Welt zu bieten habe. Ach hätte die Wackerhahnsche mich doch liegen lassen im Graben oder die ganze Welt mich verkommen lassen im Turm bei der Frau Förstern! Da wäre mir am besten geholfen gewesen und meinem Mädchen auch!«

»Du Göhl! Du Lädi! Du Möff!« schnauzte Hauptmann Uttenberger vom Regiment Lochmann, als ob er eben selber dergestalt noch angeschnauzt werde wie vor Jahren im Vatikan von seinem Weibel in Seiner Heiligkeit Schweizer Leibgarde. »Bürschli, Bürschli, schäm dich! Ist es nit mit deiner Fahnenflucht vom Heer schon schlimm genug? Willst du auch noch deinem armen lieben Meitschi fahnenflüchtig werden? Und bloß weil ein gut brav Weiblein und Mütterlein dir und deinen Künsten in solch wilder Zeit und schlimmem Wetter nicht traut und ihrem Kind im Sturm und kalten Winter ein sicherer Unterkommen wünschet, als was du Haus-, Hof- und Hosenloser itzo zu bieten hast? Ich weiß nit, aus welchem Vaterhaus und Mutternest du gekommen bist; aber wie oft soll ich es noch sagen, daß mir hier erst auf dem Jammerbett, bei schmerzenden Knochen und Fieberfeuer und allem Elend offenbart worden ist, daß es Vater und Mutter, gute Freundschaft und Barmherzigkeit gibt in der wüsten Welt? Die Frau Pfarrere und der Salomon Geßner! Der Herr Pfarrer und der Herr Kabinettprediger Cober! Bueb, wenn du dem Balzer Uttenberger vom Regiment Lochmann in der Haut, dem Hirn und dem Herz säßest, von Hastenbeck her, und wie er sie alle hier im Haus an seinem Bett gehabt hat bis auf den Hund Ryn, den Herrn Pfarr, die Frau Pfarrere, und dein Kindli: du würdest nicht so schwätzen, wie du eben geschwätzet hast. Courage würdest du haben, und wenn du gar von einem Schneidertisch und nit aus deiner edlen Kunst in der Welt Blut, Brand, Mord und Totschlag gefallen wärest! Und jetzt komm her und horch, und wenn du nachher die Ohren nicht steif hältst, so scher dich aus diesem wackeren Haus und leg dich wieder in den nächsten Graben und krepier wie ein verirrt Bählamm im Winterschneesturm. Die Zeit ist schlimm, die Frau Pfarrerin kann gar böse tun, der Feind ist im Land, der Durchmärsche sind viel, dem Herrn Pfarrer der Hunger im Dorf und vor der Tür, dem Hauptmann Uttenberger das Fieber in den Knochen und dir zu dem Fieber der Strick um den Hals: wir haben alle Angst und – nur – das Immli von Boffzen nit! Wie oft ich's auch in seinen bitteren Tränen und mit seinen um dich, dich, dich, du Möff, du Lädi, du Göhl, gerungenen Händen hier an meinem Bett gehabt habe. Es hat Courage, das Immli, dein – nein, mein Immli, mein Soldatenkind, meine Kamerädin! Dies Kind, das wie der Hauptmann Uttenberger von Gottes Wunderwagen der Frau Mutter und dem Herrn Vater hier im Haus vor die Füße und in die barmherzigen Hände zugeworfen worden ist. Blümlismaler, Blümlismaler, ich warne – na, Bueb, nu, Bueb, nun hab ich dich wohl ganz zum Weibe gemacht, armer Tropf! Courage! Noch geht die Welt ihren Gang, und wer Glück hat, führt immer noch die Braut heim – da horch, da geht's unten im Haus wieder gegeneinander, das Wiebervolch, als ob es allein auf der Erden Krieg zu führen hätt und nit auch der König von Preußen, das Römische Reich und seine Frau Kaiserin, gar nit zu reden von dem Könige von Engelland und dem von Frankreich und Navarra, meinem gegenwärtigen Herrn und Soldgeber. Ihre Wasch wollen sie jetzo auf die Leine bringen, und, zu deinem Trost sei es gesagt, das liegt ihnen noch giftiger und herzlicher im Willen und Gemüte als eben benannten hocherhabenen Herrschaften und kriegführenden Parteien die Begier, dich armen Lappenhäuser und Deserteur aus der Konvention von Kloster Zeven am Strick aufzuziehen. Courage, Blumenmaler! Nimm dir ein Exempel an eurem König Fritz von Preußen. Hast du nach einer Krone gegriffen, so halt sie auch fest gegen Tod und Tüfel, gegen die Römische Kaiserin und gegen den römischen Papst. Gegen Boffzen und gegen Derenthal. Und wenn du auch sieben mal sieben Kriege, wie er um sein Schlesien, so du um dein Mädchen, führen müßtest, halt fest die Krone, nach der du gegriffen hast! Auch der alte Balzer hat in Erfahrung gebracht, was sie wert ist.«

 


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