Wilhelm Raabe
Hastenbeck
Wilhelm Raabe

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Zweites Kapitel

Im Jahre sechzehnhundertdreiundsiebenzig waren wir schon einmal da, wohin wir jetzt von neuem gutwillige Leser und Freunde führen, wenn sie folgen wollen. »Höxter und Corvey« überschrieben wir damals die Geschichtserzählung, und wir konnten damals sogar das Datum genau angeben. Es war am ersten Dezember, als der Pfarrer der Kilianskirche in Höxter vom Besuch bei dem Amtsbruder im Dorfe Boffzen von dem einen Weserufer auf das andere zurückkehrte.

Diesmal, vierundachtzig Jahre später, können wir nur zu Papiere bringen, daß es im Monat Oktober war; den bestimmten Tag finden wir jedoch nicht in den Dokumenten, die uns zur Verfügung stehen. Das aber finden wir in unseren Dokumenten und Kollektaneen, daß Witterung und Weltläufte des Jahres siebzehnhundertsiebenundfünfzig denen des Jahres sechzehnhundertdreiundsiebenzig sehr glichen.

Das Wetter ließ zu wünschen übrig, und die Franzosen waren, wie üblich, im Lande. Dazu wollte es auch wieder einmal Abend werden; fürs erste aber brauchen wir weder Brücke noch Fähre, um deutsche Geschichte zu treiben. An diesem jetzigen trübseligen Herbstabend halten wir uns auf dem rechten Weserufer und gehen dem Lichtschein nach, der aus dem Boffzener Pfarrhause in die beginnende Dunkelheit fällt. Daß die Höxtersche Brücke heuer wunderbarerweise noch steht, kann uns angenehm sein. Wieder einmal hat sie den Sommer über oft und arg gedröhnt, geächzt, gestöhnt und sich gebogen unter dem Heergeräte des Krieges; aber Axt und Petarde haben sie diesmal verschont, und so wird sie auch wohl unserem leichteren Schritt standhalten auf der Spur von:

»Gottes Wunderwagen«.

Im schäbigen Samar, das heißt im abgerissenen Lederband, liegt er auch heute abend bei der schlechten Blechlampe in Boffzen dem Pastor loci, Ehrn Gottlieb Holtnicker, unter den Brillengläsern: der aufrichtige Kabinettprediger Gottlieb Cober aus Altenburg, »welcher bei abgelegten Visiten hohen und niedrigen Standespersonen ihre Laster, Fehler und Anliegen nebst dem heutigen verkehrten Weltlaufe in hundert sententiösen und annehmlichen Discours-Predigten bescheidentlich entdecket, dieselben wohlmeinend warnet, ernstlich vermahnet und kräftig tröstet«, und über »Gottes Wunderwagen« hören wir ihn diskurrieren, wenn wir eingetreten sind in den Lichtkreis dieser kleinen Lampe am rechten Ufer der Weser.

Treten wir ein, und zwar vom Garten her. Es ist ein niederes Zimmer zur Linken des Hausflurs, wo der Pastor von Boffzen seinem Hausstand und einem landfremden Gast die Abendandacht aus dem Kabinettprediger Cober hält oder vielmehr nach gehaltener Abendandacht zur weiteren Erbauung und zur nützlichen Unterhaltung aus einem guten Buch vorliest. Die Spinnräder der Frau Pastorin, des Pfarrtöchterleins und der Magd schnurren in diese Vorlesung hinein, was immer ein Zeichen ist, daß das Amen zum Abendsegen bereits gesprochen wurde. Auch hat ja der Gast nach der Abendandacht schon aus einem anderen, wenn nicht guten, so doch schönen Buche ein Stücklein vorgelesen, das ihm vom geistlichen Hirten ein lächelnd Kopfneigen, von der Hirtin ein bedenkliches Kopfschütteln, vom Hirtenmägdelein mehr als einen verwundert-leuchtenden Blick aus weitgeöffneten Augen und von der Stall-, Hof- und Hausmagd, Dortchen Krüger, ein ununterbrochenes Anstarren bei weitgeöffnetem Mundwerk eingetragen hat. Ein Landsmann von dem Schweizerhauptmann Balthasar Uttenberger ist's, der bei beginnendem Siebenjährigen Kriege der Welt ungewohnte Töne auf seiner Leier anschlägt und in den Kanonendonner hinein vom Goldenen Zeitalter, Arkadien, Milch und Honig und Daphnis und Chloe singt. Salomon Geßner aus Zürich ist sein Name, und die gebildete Welt vom einen Ende bis zum anderen horcht auf ihn trotz Groß- und Kleingewehrfeuer. Das kleine Buch in der Hand des kranken Gastes des Boffzener Pfarrhauses hat ja auch den Krieg schon mitgemacht und trägt eine Kugelspur. Aber wenn es auch seinem Inhaber auf einer Walstatt gar das Leben gerettet haben würde, Ehre, dem Ehre gebührt: dem alten Kabinettprediger aus Altenburg vorauf das Wort und nachher erst dem jungen Zürcher Weltpoeten! Dazu gehört aber auch, daß wir jetzt die Leute ein wenig genauer beschreiben, denen er heute abend seine Visite abstattet. –

Da sitzt er, der Ortspastor, den Lebensjahren nach der Zahl sechzig erklecklich näher als der Zahl fünfzig. Auf dem Scheitel statt der würdigen geistlichen Amtsperücke die ebenso würdige schwarze Hausschlafkappe. Auf der glatten Stirn die Heiterkeit derer, so auf Erden ihr Behagen festzuhalten verstehen, wie auch der Krieg um sie her wüte – selbst der häusliche. Um den Mund also auch etwas von dem Schlau-Einfältigen derer, so hinter unserem Herrgott her das angetraute Eheweib am meisten lieben und fürchten, gern auch einmal fünf gerade sein lassen, nie etwas in Druck gegeben haben, aber doch bei vorkommender Gelegenheit selbst dem Kabinettprediger Cober den Vortritt nicht zu lassen brauchen, sondern das Ihrige sowohl in der Gemeinde wie in der Familie selber wohlmeinend warnend, ernstlich vermahnend und kräftig tröstend vorzutragen wissen.

Zur Rechten des Hausvaters die Hausmutter, die für uns das alte Wort, daß man von den besten ihrer Art am wenigsten reden hört, vollkommen zuschanden macht. Was ginge uns heute noch die Konvention von Kloster Zeven an, wenn wir nicht von der Pastorin von Boffzen und deren Teilnahme dran zu reden – zu singen und zu sagen hätten?

Zur Linken des Vaters das Kind des Hauses, das Bienchen von Boffzen, vor siebenzehn oder achtzehn Jahren vater- und mutterlos dem kinderlosen Pfarrhause aus Gottes Wunderwagen herausgefallen, vor die Füße gerollt und bis an die Konvention von Kloster Zeven bei ihm weicher gebettet als sonst manch ein eheleiblich Töchterlein im damaligen Römischen Reich Teutscher Nation.

Neben dem Pfarrkind die Pfarrmagd, Dortchen Krüger aus dem Dorf, hinter ihrem Spinnrad. Zuletzt, doch wahrlich nicht als der Letzte im Kreise, dem Ofen und seiner Wärme so nahe als möglich, im Lehnstuhl des Pastors Ehrn Gottlieb Holtnicker, Hauptmann Balthasar Uttenberger aus dem Kanton Zürich im Dienste Seiner Allerchristlichen Majestät, König Ludwigs von Frankreich und Navarra. »Vom Fieber befallen und für sterbend zurückgelassen«, wie es in der Musterrolle des Schweizerregiments Lochmann hieß. »Wie unser Immeken aus Gottes Wunderwagen herausgefallen und uns vor die Füße gerollt, liebe Johanna«, wie der Pastor von Boffzen zu seiner Frau gesagt hatte, als sie trotz des besten Herzens über die neue Molestierung bei aller Einquartierung im Zeitgedränge nach der Schlacht bei Hastenbeck die Hände erst auf die Schläfen schlug und dann vor der Schürze ineinanderkrampfte.

Börries, der Pfarrknecht, gebürtig aus Hellenthal, muß wohl noch draußen zu schaffen haben, sein Schemel neben Dortchen Krüger ist heute abend noch leer. Nimmt er ihn ein, so behält ihn die Frau Pastorin immer scharf im Auge, und er hat wohl das Recht, öfters innerlich zu brummen:

»Der Düvel um so 'ne gottesfürchtige Spinnstube!«

Jawohl, zwischen Spinnstube und Spinnstube ist ein Unterschied, wie zwischen Hirt und Hirt, Hirtin und Hirtin. Was in Boffzen das Rindvieh, die Schafe, Ziegen, Gänse und Schweine austreibt, ist ganz was anderes als das, was in Arkadien idyllische Geschäfte besorgt und weiße Lämmer auf die Wiese führt.

Doch nun im bittersten Ernst: Vor dem Salomon Geßner, in der Hand des am Wege für tot zurückgebliebenen Schweizerkapitäns Balthasar Uttenberger, hat jetzt der Kabinettprediger Gottlieb Cober das Wort und soll es fürs erste behalten! Ehrn Gottlieb Holtnicker braucht auf alles Zwischenreden seiner Hausgenossenschaft, der Schweizerhauptmann nicht ausgeschlossen, nur ruhig weiterzulesen, um sie still und nachdenklich zu machen.

»Menschen wollen vielmal dahin: Gott aber führt sie dorthin. Er ist wunderlich mit seinem Tun. Gottes Vorsorge ist ein Wunderwagen. Die vier Räder sind seine Weisheit, Allmacht, Treue und Wahrheit. Gott selbst ist der Fuhrmann, der uns auf seinem Glücks- und Unglückswagen lauter Umwege führet. Nie geradezu.«

»Bi Gott!« klang aus dem Lehnstuhl im Ofenwinkel ein schwerer Seufzer.

»Siehe an alle Heilige Gottes . . . Die Israeliten wären gerne einen näheren Weg in Kanaan gezogen; er führete sie aber durch wunderliche Umwege. Viel Kreuz- und Dornenwege mußten sie betreten. – ›Das hätte ich nimmermehr gemeint!‹ so wird auch Joseph gedacht haben, nachdem er aus der Grube und dem Gefängnis so hoch erhaben ward. – Was für wunderbare Tänze mußte nicht Jakob halten, ehe er Israel genannt ward? – Was für Sprünge nahm Gott für mit David? Gedenke ich an Jonam, so falle ich in tiefste Verwunderung. Seine Reise ging durchs Wasser. Wer will erraten, wieviel hundert Meilen der Walfisch mit ihm herumgereiset? Doch kam er glücklich zu Lande. – Doktor Luthern führete Gott durch ein Donnerwetter zum Studio theologico. Den Juden Gerson durch Lesung des Neuen Testaments zur Bekehrung. Doktor Wellern mit achtzehn Pfennigen Geld zum gelehrten Manne und großen Kirchenlehrer. Sind Eseltreiber und Hirten nicht zu Krone und Zepter gelanget? Es geschieht noch itzund. Siehe die Wappen an, du wirst finden einen Pflug, Grabscheit, Mühlrad und so weiter. Von Pflug und Mühlenheim: so heißet es nun –«.

Es war die Frau Pastorin, die hier das Wort einwarf: »Recht hat er ja immer, der Herr Kabinettprediger, aber von unserer Kanzel laß ihn nur nicht zu laut über das Letzte werden. Sie tragen mir im Dorf die Nase schon längst hoch genug und brauchen wahrhaftig nicht noch mit ihr auf ihre durch Gottes Güte mögliche noch größere Herrlichkeit gestoßen zu werden.«

Beruhigend klopfte der geistliche Hirt seiner Hirtin aufs Knie, schob einen Augenblick die Brille auf die Stirn, blickte nach der Stubendecke, zog die Brille wieder herunter und las weiter:

»Hier sitzet einer in humili casa. Ein Strohdach ist seine Decke; Elendshausen ist seine Heimat. Weißt du aber, wohin ihn noch Gottes Wagen führen kann? Kein Fuhrmann kann uns führen, wohin uns Gott führet. – Einer wird geboren gegen der Sonne Aufgang, bei ihrem Niedergang muß er sterben –«

Es klang wie das Brummen eines Waldbären aus dem Sorgenstuhl im Ofenwinkel, es konnte aber auch ein Seufzer sein.

»Ein anderer will sich setzen gegen Mittag; das Geschick führet ihn wunderbar, auch vielmals wider seinen Willen, gegen Mitternacht –«

Hier sahen sie alle auf den Gast im Hause, den Hauptmann Uttenberger. Der aber, noch immer den Zeigefinger zwischen den Blättern des Büchleins in seiner Rechten, stützte den Kopf auf die Linke und nickte nur zustimmend.

»Mancher setzet sich für, daheim zu sterben, Gott rufet ihm doch wohl zu: Gehe aus deinem Vaterlande!«

Was hatte das Kind? Hatte der Schweizer Poete Salomon Geßner ihm die Augen zum Leuchten gebracht, so füllte sie ihm der Altenburger Kabinettprediger Cober mit Tränen, und sonderbarerweise sah nur der Vater mit Erschrecken und Mitleid auf sein weinend Töchterchen. Die Mutter, die natürlich am genauesten in den Gemütsstimmungen ihres Kindes Bescheid wußte, gab ihm nur einen Stoß mit dem Ellenbogen.

»Aber Mädchen? . . . Und auch du laß das Heulen, Dortchen! Kommt mir nicht so, ihr dummen Trinen, sondern verspart das auf bessere Gelegenheit, wie der Herr Hauptmann, der wohl mehr Recht hätte, über die Stöße auf unseres lieben Herrgotts wunderlichen Wunderwagen blutige Tränen hinzuweinen.«

»Aber beste Johanna«, begann Ehrn Gottlieb Holtnicker, doch kam nicht weiter.

»Ach was! Hier weiß ich Bescheid und helfe im Notfall dem lieben Gott, den Karren wieder aufzurichten. Mädchen, beide, gebt acht, daß ich euch morgen nicht das, was ihr mir heute spinnt, um die Ohren schlage. Soll dies hier ein glatter Faden sein? Das Lopp kommt mir nicht auf die Bleiche, weder als Totenhemd noch als Brauthemd; weder nach dem Herrn Kabinettprediger als noch weniger nach dem Herrn Hauptmann seinem Schäferbuch!« . . .

Sie lagen beide auf dem Tische, der junge Geßner und der alte Cober, und sie blickten beide über sie weg, offenen Mundes, wortlos, verblüfft, weder einer Frage noch einer Gegenrede fähig, auf die Rednerin: der Pastor von Boffzen und der Kriegsmann des Königs Ludwig des Fünfzehnten. Es war die Frau Pastorin, die hinter dem Engel, der eben durch die Stube gegangen war, die Tür ins Schloß warf mit dem Wort: »Lies weiter, Vater. Unser Kabinettprediger hat immer recht; aber Kindern muß man eben nach Kinderlehrweise die Schrift auslegen, und da sage ich unserem Jüngferchen nur: So leicht verdirbt Unkraut nicht.«

Jetzt lächelte der Schweizerhauptmann, Immeke von Boffzen fuhr mit der Hand über die Augen, Dortchen mit dem Schürzenzipfel; aber erst zehn Reihen weiter im Texte fand »Vater« nach solcher absonderlichen Unterbrechung der erbaulichen Abendunterhaltung den abgerissenen Faden wieder und knüpfte ihn an:

»Ob zeitlich Ungemach schmerzet,
So wisse, daß doch Gott darunter herzet –

läßt er's wunderlich durcheinanderblitzen, so wird auf dieses Donnergewitter doch eine reine und helle Luft folgen . . . Ich setze mich demnach allezeit getrost auf Gottes Wunderwagen, die Räder mögen gleich Ezechiels Rädern wunderbar durcheinandergehen. Es gehe über Stock und Stein, die Reise wird doch glücklich ablaufen.«

Der Kabinettprediger Cober pflegt seine Visiten immer mit einem zum Herzen und ins Gewissen greifenden, nach Poetenweise gereimten Kernspruch abzuschließen. An diesem unruhvollen Abend kam er nicht dazu. Der Pastor von Boffzen hatte eben begonnen:

»Gott führet wunderlich –«, als ihm ein Schrei seiner Immeke und ein Aufkreischen Dortchen Krügers den Faden für diesmal endgültig abriß. Dortchen wies nach dem Fenster, und bis auf den invaliden Gast waren sie alle um den Tisch aufgesprungen und gafften erschreckt dem Fingerzeige nach. Es war eben eine unruhige Zeit in der Welt und in Niedersachsen: bis an den Rand voll von Unruhe, Sorge, Bangnis, Angst und Schrecken. Ein Gesicht am Fenster deutete nicht immer auf freundlich nachbarschaftlichen Besuch. Wer eine Flinte an der Wand hängen hatte, griff sehr häufig nicht ohne Grund danach; im Pfarrhause zu Boffzen hob man nur die Hände oder faltete sie im Schrecken.

»Was hast du, Kind? Was war's, Mädchen?« fragten Vater und Mutter; der Kapitän vom Regiment Lochmann fragte aber auch:

»Was hat der Hund?«

Er hätte ebensogut fragen können: »Was haben die Hunde?« Jawohl, die Sache war diesmal wirklich danach, daß nicht bloß der gute Wächter des Hauses das Recht hatte, Laut zu geben. Sämtliche Dorfköter nahmen nicht ohne Grund teil an dem Alarm auf dem Pfarrhofe, nicht ohne Grund gaben sie ihn weiter auf beiden Ufern der Weser, in Ostfalen und Westfalen, und nicht ohne Grund fragten die Insassen von Schloß Fürstenberg:

»Was haben die verfluchten Biester?«

Ja, deutlicher konnten die es den Porzellanmalern auf Schloß Fürstenberg eben nicht sagen, daß der beste Blumenmaler des Herzogs Karl von Braunschweig lebendig wieder nach Hause gekommen sei aus des Cumberländers Konvention von Kloster Zeven.

 


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