Wilhelm Raabe
Hastenbeck
Wilhelm Raabe

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Zehntes Kapitel

Und nun, bis die Frau Pastorin Zeit fand für den Gatten, lag es, dem kaltsonnigen Spätherbsttage zum Trotz, wie eine heiße, schwüle Gewitterwolke über dem Boffzener Pfarrhause. Und als die arme liebe Frau endlich Zeit gefunden hatte und das Gewitter mit Donnern und Krachen hätte losbrechen müssen, da geschah etwas meteorologisch gar Seltsames. Das Unwetter brach freilich los. Es blitzte sehr, es regnete heftig, auch kam etlicher Hagel nieder; aber – es kam kein Donner! . . .

Es ward nur ein Grummeln und Brummeln innerhalb der vier Wände der Studierstube Ehrn Gottlieb Holtnickers: die Frau Pfarrerin explodierte nicht, sie sank nur zusammen unter der Wucht dessen, was sie vernahm; und im Stuhl des Gatten mehr liegend als sitzend, schlug sie nur von Zeit zu Zeit, dann mit der Faust, dann mit der flachen Hand auf den Schreibtisch neben ihr zu ihrer Gegenrede. Die Weltlage im Hause, im Dorfe und ums Dorf her war doch auch ihr zu gefahrdrohend, als daß selbst sie ihrer Meinung und Stimmung mit allen Stimmitteln den nötigen Nachdruck zu geben gewagt hätte.

»Daß ich das Mädchen, das Kind liebhabe, als wär's mein eigenes, mir und dir aus Gottes heiligem Ehebund geschenktes, weißt du, Holtnicker«, ächzte Frau Johanna, »aber wie ich zu dieser Geschichte mit dem Topf- und Tassenmaler, die es uns eingerührt hat, stehe, weißt du auch. Nun hast du es! nun haben wir es! Und jetzt handelt es sich noch um mehr, als bloß den brotlosen Pinseler von da oben nicht als Fuchs oder Iltis in meinen Hühnerstall zu lassen. Der Herr Hauptmann ist ja recht gut und gnädig; aber den Franzosen und Feind haben wir doch in ihm im Hause. Eure Konvention von Kloster Zeven hin und her: das französische Kommando haben wir immer noch in Höxter. Das laß nun Wind kriegen von dem Landstreicher im Landwehrturm! Und der Herr König von England, dem der dumme Junge geschworen hat! und unsere eingeborene Durchlaucht, unser Herzog Karl, dessen Untertan er immer noch in seiner Soldatenjacke ist! und das alles über mein armes christliches Pfarrhaus hier in Boffzen und meinen armen lieben Sohn Emanuel, meinen Pastor in Derenthal! O das böse, böse Kind mit seiner albernen Amour! Ist es nicht, als ob es uns die jetzige ganze Welthistorie und alle kriegführenden Potentaten dazu über den Hals hetze? O Gott, o Gott, wenn ich doch nur sagen könnte: jetzt siehe du mit deiner Wackerhahnschen zu, Holtnicker, wie ihr mit dem Elendskarren unter Dach kommt! Das ist nun dein ›Gottes Wunderwagen‹, der mir dieses in mein ruhiges Alter hinein vor die Tür gekarrt hat!«

»Weib!« rief aber jetzt Ehrn Gottlieb Holtnicker, sich, mit den Händen auf den Lehnen, aus seinem Stuhle aufrichtend und das Käppchen vom kahlen Schädel hebend. »Arm Weib, sage mir, was du willst, aber des Herrn Wege wolle nicht durch leer Geschwätz durchkreuzen – auch in des Lebens höchster Angst und Not nicht! Jawohl, ich hörte dir zu aus eigenem notvollen Herzen und gab dir unrecht und recht nach Menschenart; doch nun hat dir der barmherzige Gott gerade das rechte Wort auf die Zunge gelegt: hör, sie rufen nach dir unten im Hause; die Straßen der Erde sind verfahren, und freilich gehen die Räder durch Blut und Tränen, doch mich laß in den Geleisen des Wagens dessen, der alles wohl macht.«

»Holtnicker!« . . .

Es ist durch die Feder nicht auszudrücken, was von der guten Seele, der Boffzener Pfarrerin, in das Wort zusammengepreßt wurde. Bitterste Reue und Selbstvorwürfe zu dem letzten Rest festester Überzeugung, daß sie doch recht habe. Daß Ehrn Gottlieb zu gut für die Welt sei, das wußte sie schon lange; aber die Welt auch viel zu schlecht für sie, die Pastorin Holtnicker, geborene Störenfreden, das wußte sie noch viel länger. Daß sie, die Frau Johanne, dem Ehegatten nun sofort um den Hals oder gar vor die Knie falle, konnte man nicht von ihr verlangen. So nahe war der Jüngste Tag doch trotz allem noch nicht!

»So sollst du doch nicht reden zu einer, die sich, wie ich, keinen Rat mehr weiß!« schluchzte sie. »O du liebster Himmel, so von seinem eigenen Manne zu einem Pontius Pilatus, der sich zu seiner Schlechtigkeit die Hände wäscht, gemacht zu werden! Was will denn Dörthe da unten im Hause? . . . Holtnicker, Holtnicker, auf den unchristlichen Schrecken, den du mir eben durch dein Wort eingejagt hast, sage ich nichts weiter als: Mach's also, wie du willst, siehe du zu, wie du mit dem allbarmherzigen Gott zurecht kommst und uns aus dieser Schreckenszeit heraushilfst!« . . .

Mit der Schürze vor den Augen wandte sie sich zur Tür und machte sie diesmal hinter sich zu, als verlasse sie auf den Zehen eine Krankenstube. Es war aber auch fast so: Ehrn Gottlieb Holtnicker saß an seinem Tisch vor Bibel, Konkordanz, Gesangbuch und dem Kabinettprediger Cober wie ein Schlagflüssiger, der den dritten Anfall kommen fühlt. Wir aber könnten jetzo alle Pastoren, Superintendenten, Konsistorial- und Kirchenräte der ganzen Welt auf- und zusammenrufen und ihnen die Frage stellen, woher nun der Trost und die Hilfe am ersten noch zu erwarten sei: sie würden's nicht erraten.

Nicht von Zion kam er, nicht aus Sachsen-Gotha, nicht aus Altenburg kam er: aus Zürich kam er und klopfte an – nicht in Priesterperücke, schwarzem Chorrock, Beffchen oder Halskrause, sondern im rosenfarbenen Schäfergewand, den bebänderten Hirtenstab in der Hand. Nicht Gottlieb Cober hieß er – Salomon Geßner nannte er sich, und wer ihn an der Hand führte und in die Stube brachte, das war der alte Reisläufer, Hauptmann Balthasar Uttenberger vom Regiment Lochmann, der seine Bekanntschaft auf dem Schlachtfelde von Hastenbeck gemacht hatte. – –

O Daphnis und Chloe! o Pold Wille und Immeke von Boffzen! . . . Laß sie kopfschüttelnd grinsen, die Achseln zucken, die Nasen rümpfen über deine Porzellanpuppen, Salomon Geßner, wenn du ihnen heute »antiquarisch« in die Hände fällst. Sie nehmen es dir nicht, daß du einmal wie ein schöner Regenbogen über der verstürmten Welt gestanden hast! Sie müssen es auch auf diesem in der stürmischen Welt von heute verwehenden Blatt dir lassen, daß zu deiner Zeit du es gewesen bist, der durch den Feind im Lande das erste beruhigende Wort jetzt in des Tages Verwirrung, Angst und Ratlosigkeit hineinsprach! –

Der Pastor fuhr auf und herum vor der Hand, die sich auf seine Schulter legte. Er hatte über dem geistlichen Rüstzeug auf seinem Studiertisch den Kopf und mit ihm die Ohren in beide Hände genommen und es also vollständig überhört, daß jemand erst bescheidentlich und dann laut und doch nutzlos an seiner Tür vor dem Eintreten gepocht hatte.

Er hatte sie nicht eingetreten, die Tür, der Schweizerhauptmann Uttenberger; er war so leise gekommen, wie die Frau Pastorin gegangen war. Daß er seinem geistlichen Hospes die Hand nur auf die Schulter gelegt, ihn nicht am Kragen genommen hatte, haben wir schon bemerkt. Nun sagte er:

»Herr Pfarrer, mit Exküse, wenn ich stör; aber ich komme nur auf ein kurzes Wort. Ich komme, Euch, Herr Pfarrer, zu avertieren, daß, wenn ich dem König von Frankreich geschworen habe, bym Eid, ihm nit geschworen habe, ihm die Konvention von Kloster Zeven unterm Dach meines besten Wohltäters und Erretters zurechtrücken zu helfen. Mit unserem Immli hab ich schon darob geredt – es liegt in meiner Stuben mit dem Kopf auf dem Tisch wie Ihr, Herr Pfarrer, eben hier. Nun richtet auch Ihr ihm das Köpfli auf und redet mit Eurer guten Frauen Vernunft zur Sache. Jawohl, verwundert Euch nit! Da müßte der Balzer Uttenberger kein alter Feldsoldat sein, wenn er nicht auch zwischen Leben und Sterben die Augen und Ohren offen behielte. He Daphnis und Chloe, he Mirtil und Daphne, der Feind im Pfarrhause zu Boffzen weiß Bescheid – seit lange Bescheid. Sprechet Euer gut Weibli zur Ruhe, Herr Pfarrer: der Hauptmann Uttenberger hat dem König Louis in Paris nit geschworen, dem König George von England seinen Deserteur par les verges zu jagen, zwischen die Spitzruten zu liefern; aber so rat ich freilich: sorget, Herr, daß Muetti nicht zu laut Alarm im Dorf und nach Höxter gibt. Ein Sergeant mit einem Kommando von sechs Mann und den nötigen Stricken und Handschellen ist bald über die Weserbrucken geschickt. Ich für meine armi Seel agier den Utüfel nit im Pfarrhaus zu Boffzen, aber andere könnten es tun wollen; also holet in der Stille meinem lieben, lieben Immli seinen Blümlismaler meiner Kameradin aus dem Königreich Neapolis im Turme auf der Allerwiese ab. Es ist bei Fieber und jetziger Jahreszeit kein Quartier für ihn. Litt's mein armselig Geripp und mein eigen Fieber, so ginge ich gern mit Euch, Herrli, auf den Barmherzigkeitsweg und hülfe dazu, Daphnis und Chloe ins Trockene aus der Sündflut zu bringen. Nun nehmt das brave Knechtli, den Börries, zur Hilfe, nachdem Ihr ihm, wegen seines Maulwerkes, scharf ins Gewissen geredet habt. Holet dreist uns den Bub unter Euer christlich barmherzig Dach, Herr Pfarrer. Mich lasset nur mit Wache stehen vor dem Haus. Der alte Schweizer Söldner hat vor Schlimmerem Wache gehalten und vor größerem Unflat als einer Fahnenflucht von Kloster Zeven her das Sponton aufstoßen müssen, wenn der Tüfel – wollt ich sagen die allerhöchste Herrschaft achtspännig in das Schloßportal fuhr.«

Das Grinsen auf dem Ledergesicht wäre wohl wert gewesen, von dem besten »Figurenmaler« Serenissimi, Herzogs Karl, zu Fürstenberg für ewige Zeiten auf – Porzellan gebracht zu werden; aber für Ehrn Gottlieb Holtnicker hielt Gottes Wunderwagen mal wieder vor seiner Haustür an, und ein schöner Engel stieg ab und kam herein und brachte ihm Balsam aus Gilead. Seit seinen Bräutigamstagen hatte Ehrn Gottlieb noch nicht wieder in ein so holdselig Lächeln gesehen wie jetzt in das auf der verwetterten Reisläufervisage des Hauptmanns Balthasar Uttenberger aus Salomon Geßners Arkadien – nein, aus dem Kanton Zürich. –

Es war Knecht Börries, der am Abend dieses Tages bei »stichdunkler Nacht« brummte:

»Die Leiter herunter hätten wir ihn, Frau Förstern. Nur 'nen Augenblick zum Verpusten, Herr Pastor; der Profoß, der ihn wieder aufwärts steigen läßt, hat's leichter mit ihm. Der kann ihm mit 'nem Kumplement den Vortritt lassen. Na, nu wieder huckepack! Laufe Sie voran, Frau Förstern, und gucke Sie nach, ob der Weg nach dem Dorfe zu reine ist. Ach, lieber Herr Pastor, so gebe Er sich doch nur zu! und wenn ich's auch bloß unserer Mamsell versprochen hätte, was noch von Leben an ihm ist, bringe ich ihr richtig auf dem Buckel nach Hause . . .«

O Salomon Geßner! o Gottlieb Cober! . . . O Gottes Wunderwagen – o Daphnis und Chloe! . . .

 


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