Wilhelm Raabe
Hastenbeck
Wilhelm Raabe

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Zwölftes Kapitel

Der Schnee fiel und fiel, und die Heere der kriegführenden Mächte hatten die Winterquartiere bezogen. Die klare Wintersonne kam in diesem jetzt dem Ende sich neigenden Jahre nur selten über dem Wesertal zum Vorschein. Was gab es auch um diese Weltenzeit in Niedersachsen, ganz abgesehen vom Heiligen Römischen Reiche Teutscher Nation, viel an Erfreulichem zu beleuchten und zu besehen?

Vieles – wozu wir eben die Sonne, die doch im Grunde nur auf den äußeren Schein angewiesen ist, nicht brauchen.

Hiervon zu erzählen ist nun unsere Sache. Wir haben genug dazu in mancher dunklen Nacht bei trübem Lampenschein in multrigen Schrift- und Drucksachen gewühlt und uns auf den Trost verlassen, daß ja aller Weisheits-, Schönheits-, Liebes- und Lichtzauber der Vorwelt, soweit er sich in Bücher fassen und binden läßt, nur multerigen, moderigen Papyrus-, Pergament- und Papierfetzen entstammt und aus ihnen zu uns heruntergelangt ist. – –

Da laufen durch den Schnee des Jahres siebenzehnhundertsiebenundfünfzig zwei zierliche Fußtapfen vom Boffzener Pastorhause aus. Denen folgen wir jetzt, und die Frau Pastorin hätte ihnen auch nur zu folgen brauchen, um in Erfahrung zu bringen, wo ihr Pflegekind zu suchen und zu finden sei, wenn sie sich wieder einmal nach ihm »eine halbe Stunde lang den Hals abgeschrieen« hatte.

Zu dem Landwehrturm, zu der Wackerhahnschen gingen die Spuren im Schnee hin und zurück, soviel als möglich hinter den Menschen, den Häusern und Hecken hin. Ängstliche Spuren – dann und wann denen eines gejagten Tieres gleich! Spuren, denen man das klopfende Herz anmerkte, das sie in den Schnee des blutigen Kriegswinters siebenzehnhundertsiebenundfünfzig hineingedrückt hatte! –

Und wenn so in der Dämmerung die Frau Förstern die Leiter, die zu ihrer Warte emporführte, hinter ihrem Besuch aufgezogen hatte, dann hatte sie leider Gottes auch nur wenig zu bieten von dem, was die Menschen Trost nennen. Ihre Tröstungen liefen nur darauf hinaus:

»Kind, armer Narr, arm Küken mit dem Habicht über dir! So jung und so viel Feinde rundum um das, was du dein jung Glück so gerne, gerne nennen möchtest! Da sitz hin auf sein Bett, von dem er doch auch wieder zum Leben noch mal aufgestanden ist, und was ich dazu tun kann, dir die Federn zu glätten, das wird von der alten zerzausten Henne, die wohl alles Raubzeug der Erde über sich, um sich und hinter sich gehabt hat, getan. Hab schon allerlei unter meine Flünke genommen, aber nun gar noch auf meine alten Tage, wie Großmutter in der besten Stube und beim Spinnrad, ein jung dumm Liebespaar! Das alte Heidenmensch und das? Nun, es mag ja eine Abrechnung sein. I verflucht, vielleicht hat solches mir unser Herrgott nach allem Lebensschrecken und Elend zu einem Alterstrost apart aufgehoben und warm gestellt; also, mein Herze, komm her und gib es von dir, was du nun wieder auf dem Herzen hast.«

»Nur meine steigende Angst um meinen armen Pold, Frau Förstern!« schluchzte das Kind. »Ich höre ja keinen Schritt hinter mir, kein Klopfen an der Tür, ohne daß mir die Beine zittern. Es ist keine Wand im Hause mehr, hinter der ich es nicht schleichen und horchen höre. Es ist keine Stunde am Tage, wo ich nicht denken muß, jetzt holen sie ihn dir unter die Ruten oder vor ihre Flintenläufe! Mutter Wackerhahn, es ist bald kein Baum in unserem Garten, an den ich ihn nicht habe hängen sehen!«

Leider konnte die Alte vom Turm hierbei nur den Kopf schütteln und Unverständliches brummen; das Boffzener Immeken aber fuhr mit gerungenen Händen fort in seinem Jammer:

»So ist es am lichten Tag, und da hat man doch seine Arbeit, die einem ein bißchen über die Bangnis hilft; – da, sehe Sie nur meine Hände, Wackerhahnsche, daß ich mir die so bis aufs Blut zerwerke, das verlangt selbst die Frau Mutter nicht – das tue ich nur mir selber zur Hilfe, bis der Abend kommt und mit des Herrn Vaters Herrn Kabinettprediger trotz allen Trostes die schlimmste Angst. O Frau Förstern, liebste Frau Wackerhahn, ach Mutter Wackerhahn, wie sitze ich nächtens auf meinem Bett und horche und horche – ach Gott, und nicht bloß auf die Franzosen und unseren lieben Herzog Karl und den König von Preußen und den Herrn Herzog von Kummerland, und was sonst noch nach mir und meinem liebsten Schatz mit blutigen Händen greifen will, sondern auch – ach Gott, ach Gott, nach dem, was meint, es so gut und am besten mit mir zu meinen! Auf den Herrn Pastor Störenfreden muß ich horchen – auf meine liebe, liebste Frau Mutter muß ich horchen in der Nacht in meiner Angst!«

»Kind, Kind«, sagte die Wackerhahnsche, den Kopf auf ihren Knien zwischen die Hände nehmend und die Hände über die Augen legend, »Kind, da nimm du dich am meisten in acht mit der. Ich meine gewißlich, nicht gegen die in deiner Not dich aufzubäumen! Geht sie denn aber nicht auch in ihrer Angst und Liebe um dich um am Tage und sitzt aufrecht auf dem Bett in der Nacht? Und wer weiß, ob sie nicht recht hat? Wir stehen wohl kratzbürstig genug gegeneinander in der Welt; aber dir, ihrem Immeken aus dem Boffzener Pastorhause, sage ich jetzt: wenn meine Mutter so gewesen wäre wie die Frau Pastorin und hätte solche Sorge um mich gehabt wie die, so wäre wohl manches anders und besser geworden in meinem schlimmen Leben und säße ich wohl nicht hier, wie ich sitze im Eulennest, und machte mir und den Menschen Grauen! Doch – via di qua! Bleiben wir bei dir und der Frau Mutter und begucken wir deine Angst von vorne, nachdem wir eben sie jetzt von hinten uns besehen haben. Ja freilich, da ist dir und deinem Pold, deinem Deserteur von Kloster Zeven, die Frau Mutter freilich die gefährlichste, und es mag wohl guten Grund haben, daß du in deiner Bangnis die meiste Angst vor ihr hast und nicht vor dem Feind im Hause, der doch von Rechts wegen deinem Blumenmaler am ersten nach der Kehle greifen müßte. – Mit ihrem Willen liefert sie wohl deinen armen gerupften Buntspecht, der sich unter ihr christlich Dach verkrochen hat, dem sie selbst Asyl geboten hat, nicht aus ans Messer, den Galgen, den Franzmann, den Cumberland oder unsern Herrn Herzog Karl; aber was der Mensch im Verdruß und doch wider seinen Willen mit seinem Maulwerk Unheil anrichten kann, das bedenkt selten einer und spricht da gar nicht, wo er höchstens mit der Hand vor dem Mund seiner nächsten Verwandtschaft ins Ohr flüstern sollte. Sie ist mir, wie die Dinge nun einmal liegen, viel zu laut in ihrer Freundschaft zu ihrem Herrn Neveu und Derenthaler Pastor und in ihrer Mißgunst, ich will nicht sagen ihrer Wütenhaftigkeit gegen deinen Liebsten, das geschorene Lamm, Kind. Sapperment, nur ein Wort aus zu offenem Schnabel drüben in Höxter in der Kommandantur, und wir haben das Elend, den Korporal mit seinen sechs Mann und am nächsten Tage den Profoß auf dem Halse! Arm Wurm, ich müßte nicht die Wackerhahnsche sein und der Wackerhahnschen Leben durchgemacht haben, wenn ich hier nicht Bescheid wüßte, jetzt schon bei uns im Dorf mit der Leute gegenseitigem Anstößen mit den Ellenbogen und über die Schulter mit dem Daumen Deuten. Weißt du, wie sie reden im Dorf? Sie meinen: ›Wenn sie's nur nicht mal uns Bauern entgelten lassen, die Franschen drüben, was die Frau Pastorsche und der Herr Pastor bei sich vor aller Welt Ingrimm und schlimmen Kriegsvölkern unterm Stroh verstecken möchten!‹ – Ja, ja, mein arm Mädchen, mein lieb Kindchen, so ist es, und das kann auch ich in solcher schlechten Zeit wie heute meinem Immeken und ihrem Malermeister nicht abnehmen; aber –«

Hier stand die alte Frau von ihrem Schemel auf und streckte wie zum Schutz drohend die Faust über das zusammengekauerte schluchzende Kind hin –

»– solange die Försterin aus dem Barwald noch zwischen dir und diesem neuesten Krieg um Schlesien steht, wird sie sich auch zu denen rechnen, die der Herrgott berufen hat, Mutterpflichten an dir zu verüben, seit du unbekanntes Kropp und Fremdlingsbalg ihr hier bei uns an der Weser von seinem Wunderbagagewagen heruntergefallen bist. Wenn es auf die Herzensgüte ankäme, so könnten wir euch ja wohl deinem Herrn Pflegevater ganz allein anbefehlen; aber, beim leidigen Satan – es ist keine Zeit, wo man mit der Liebe und Güte, mit Blumenpredigen und Blumenmalen sich und seinem Liebsten in der Welt der Welt Viehheit vom Leibe hält . . . was siehst du mich so an, Kind? Hast du was hiergegen zu sagen?«

»Ach, nein, nein! Ach Gott, nein, Frau Förstern, der allerbeste Herr Vater mit dem Herrn Kabinettpastor Cober kann uns so wenig helfen, meinem Pold und mir, wie der Herr Hauptmann Uttenberger mit seinem schönen Lesebuch von den guten Schafen und Lämmern und den schönen und lieben Menschen und Hirtinnen und Hirten in dem Lande, wo es immer Sommer und Friede ist wie in des lieben Gottes Paradies –«

»Mädchen«, rief die Wackerhahnsche, mit festem Griff den Arm ihres zitternden Gastes packend, »Mädchen, wenn du dem Herrgott wofür zu danken hast, du und dein närrischer Schatz, so ist's, daß er dem Mann das närrische Ding von Buch auf dem Feld von Hastenbeck vor die Füße geworfen hat und es ihn hat aufheben lassen aus dem Dreck und Blut, wo der Cumberland und der d'Estrées Bataille darum führten, wer als der größte Esel an dem Tage zu Pferde sitze! Da der Engländer so glorreich gewonnen hat, so hätte der Franzos – und da meine ich jetzt nicht den Herrn Marschall von Estrées, sondern euern Schweizer Reisläufer – auch ohne sein Schäferbuch wohl den Barmherzigen gegen euch spielen mögen; aber besser war doch immer besser. Jawohl, Mädchen, kannst du dem Himmel auf den Knien danken, daß er euch diese Einquartierung ins Haus legte, daß er solch ein altes Kind euch jungen Krabben aus solchem Leben voll Holterdiepolter, Mord und Totschlag zu Wasser und zu Lande mit seinem Gliedweh und seinen närrischen Schafen und Schäfern zur Hilfe schickte! Ein Mirakel ist's, größer als das größte von denen, die der Herr Pastor abends aus seinem Leibbuch abliest: die Wackerhahnsche und der Hauptmann Uttenberger vom Regiment Lochmann als Kinderwärter und Liebesgardisten mit dem Immeken von Boffzen und ihrem Fürstenberger Blumenmaler als weißen Lämmern am rosenroten Band! Und mit der Schlachtbank rundherum und dicht vor der Tür!« . . .

Wer sie gesehen hätte, die Frau Förstern Wackerhahn, in ihrem scheußlichen Loch und Unterschlupf, auf dem Bettsack mit Sollinglaub neben dem Gast, dem Boffzener Bienchen, sitzend, ohne so viel von ihr zu wissen wie wir jetzt schon, der würde wahrscheinlich, schaudernd vor ihrem Anblick und der wahrlich nicht einen buntbebänderten Geßnerschen Hirtenstab zu der Decke ihres alten Kriegswartturms erhebenden Faust, Reißaus genommen haben. Aber Jungfer Holtnicker tat das nicht. Sie rutschte von der Bettstatt vor der Alten auf die Knie, faßte ihre Hände und schluchzte:

»Ich weiß es ja! Von allen weiß Sie am besten Bescheid im Kriege, Mutter! Und in der höchsten Not kommen wir zu Ihr, ich und mein Schatz, und Sie hilft uns. Nicht wahr, Sie hilft, Sie hilft uns durch, wo Vater und Mutter nicht mehr helfen können?«

»Die Wackerhahnsche als Kindsmagd!« murmelte und lächelte die kriegerische Hexengreisin, sich aber mit dem Zeigefingerknöchel in die Augenwinkel fahrend. Leise liebkosend strich sie mit der harten Hand über das weiche Haar ihres jungen Gastes:

»Bist du nicht auch schon für mich eingetreten? Hast du nicht bei deinem Herrn Pflegevater zuwege gebracht, daß ich dem Herrn Kabinettpastor Cober mit habe am Abend zuhören dürfen? Hast du dich nicht mit eurem Hund Ryn mit Geschrei dem Dorf in den Weg geworfen, als es das graue Greuel aus dem Landwehrturm nach der Weser zu zerrte, um es aufs Schwimmen hin zu probieren?«

Und jetzt warf sie die Arme um das Mädchen:

»Mein Kind, mein lieb, lieb Kind, was das alte Heidenmensch, was die Blut- und Brand-Hexe, die Wackerhahnsche dir zur Hilfe tun kann, das tut sie. Verlaß dich drauf!«

 


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