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Der Frühling des Jahres siebenzehnhundertachtundfünfzig war eben in den Sommer übergegangen. Es war zu Anfang des Wiesen- und Rosenmonds, und was den letzteren Namen anbetrifft, so trug die Zeit ihn diesmal im Lande Niedersachsen mit vollem Recht. In den Gärten, hinter und an den Zäunen, in den Hecken, zahm und wild, blühten sie, die Rosen; aber, leider Gottes, auch auf den Schlachtfeldern vom Böhmerwald bis zum Rhein.
Wie es Seine Hochwürden von Riddagshausen, der Herr Abt Jerusalem, vor seinem Herzog Karl zum Trost verhofft und vorausgesagt hatten, war's gekommen. Der Besen, der Seiner Hochfürstlichen Durchlaucht Bruder, dem Herrn Herzog Ferdinand, im Lager bei Stade vom König Friedrich in die Hand gegeben worden war, hatte wenigstens fürs erste Norddeutschland vom fremden Unrat reingekehrt.
Schon im Februar war der Herzog Ferdinand von der Elbe aufgebrochen und mit den Frühlingsstürmen gegen und über die Weser gefahren. Das war durch den winterlichen deutschen Norden eine Franzosenjagd und -hetze geworden, über die man in manchem kommenden Winter am Kamin im Pavillon d'Hanovre zu Paris doch wohl ein leises Unbehagen empfinden mochte. Es klebte recht viel französisches Blut an den türkischen Teppichen, den sammetnen und seidenen Tapeten und Vorhängen, den goldenen Zieraten und Gerätschaften, den silbernen Tischen. Billig war die Herrlichkeit zwar gewesen, aber gekostet hatte sie doch auch was! –
Bis zum März ganz Niedersachsen frei! Celle, Nienburg, Hannover, Wolfenbüttel, Braunschweig, Göttingen, Hildesheim, Goslar in den Händen des Herzogs Ferdinand. In seinen Händen Magazine, Bagage, Kranke, Raubebeute!
Schon bis Hameln hin sind sie zu Tausenden an den Landstraßen liegengeblieben, und Verlustlisten über die in den Wäldern und Hohlwegen von den Bauern Totgeschlagenen sind wahrlich nicht in Paris an den Straßenecken ausgehängt worden.
Ostfriesland frei! Emden, Kassel, Marburg, Lippstadt, Münster und Paderborn in den Händen des guten Herzogs Ferdinand. Das ganze Hessische und Münsterländische frei. Bis zur Schenkenschanze bei Emmerich siebenzehntausend Gefangene in den Händen derer, die da auf dem Feld bei Hastenbeck unter dem »Kummerland« die Faust im Sack hatten machen müssen und sie nun unter dem Herzog Ferdinand von Braunschweig zum besten Gebrauch hatten vorziehen dürfen! Es würde sich hier fein noch manches Genauere berichten und zu bedenken geben lassen, wenn uns bei dieser unserer Geschichtserzählung nicht Mnemosyne, die Mutter der Musen, sondern nur ihre Tochter Klio über die Schulter aufs Blatt sähe. – – –
Am ersten Juni war der Herzog Ferdinand auf Booten und einer Schiffsbrücke, die er sich von den Holländern entliehen hatte, bei der Schenkenschanze über den Rhein gegangen. Fern im Westen also schien das Unwetter, das eben über Niedersachsen weggegangen war, jetzt für immer zu vergrollen. Das Wesertal lag wieder einmal im Sommersonnenglanz, Grün und Frieden, als sei der Dritte Schlesische Krieg nichts als eine Mythe und das Teil, was es von ihm doch schon zu kosten bekommen hatte, nichts als ein schlimmer Traum der vergangenen Nacht oder ein vor hundert Jahren erzähltes Märlein.
Die Fenster vom Schloß Fürstenberg fingen eben an im Schein der niedergehenden Sonne feurig zu glitzern und zu leuchten, als aus dem Solling auf einem Pfade, der aus dem Walde gerade auf die Landstraße und das Tor der »hochberühmten Porcelainefabrik« zuführte, eine alte Frau trat, die Landstraße überschritt und plötzlich, nach ihrer Art den Wanderstab fest aufstoßend, mitten im Schloßhof stand – die Wackerhahnsche wieder im Land! Die Wackerhahnsche zurück vom Harz nach der Weser! –
Und auf dem Schloßhof von Fürstenberg, der eben noch menschenleer, verödet, still gelegen hatte, wurde es bald lebendig. Hier und da zeigte sich zuerst ein Kopf an den Fenstern, hier und da wurde eines aufgerissen, und ein Ruf der Verwunderung ließ sich hören.
Nun kam es aus allen Türen hervor, alles, was an der »echten Porcelainefabrique« des Herzogs Karl von Braunschweig noch vorhanden war von Beamten, Künstlern, Formern, Drehern und sonstigen Arbeitern, alles, was abkommen konnte von der Arbeit, und es konnte im Jahre 1758 noch so ziemlich alles auch mal die Hände in den Schoß legen, ohne daß das Geschäft darunter litt. Vor allem die Maler, die Porträt-, Figuren-, Landschafts- und Blumenmaler drängten sich um die Hexe aus dem Landwehrturm, die ihnen ihr Boffzener Bienchen aus dem Pfarrgarten und mit ihm ihren besten Blumenmaler in die Winternacht, den Kriegessturm, das Hochzeitsbett oder den Tod hinein entführt hatte und nun plötzlich wieder dastand und Nachricht von Pold Wille und Hannchen Holtnicker geben – mußte.
»Die Wackerhahnsche! Die Wackerhahnsche! He, Eisenträger, he, Nerge, Hinze, Osterdag, Hannickel, Hopstock, alle herbei! Nachricht vom Pold! Nachricht von der Immeke von Boffzen! Die Wackerhahnsche von Blankenburg, vom Herzog Karl zurück mit dem Brotbeutel und Fleischwagen und dem Sack voll goldener Louisdors und Dukaten für Serenissimi hungriges Rattenvolk auf Schloß Fürstenberg!«
Ach, sie sahen wohl danach aus, daß das letztere mehr als ein spaßig Wort war! Man sah es ihnen allen an, daß der Hunger auf Fürstenberg am Küchenherd saß, die Kunst nur ihr Recht nahm, wenn sie nach Brot schrie vor jedem, von dem das Gerücht ging, daß er gut angeschrieben stehe bei Seiner Herzoglichen Durchlaucht, also auch vor der Wackerhahnschen aus dem Boffzener Landwehrturm!
Kopfschüttelnd grinsend stand die Alte im Kreise dieser guten Bekanntschaft, von der sie so trefflich als Fratzenpuppe in Ton geformt, so naturgetreu bemalt und der Menschennarrenwelt zum Spaß auf allen Märkten in den Handel gegeben worden war.
Als sie vordem ihr erstes Abbild solcher Art zu Gesicht bekommen hatte, die Strega di Fürstenberg, die Sorcière du Véser Serenissimi, hatte sie dem Spötter, der es ihr vorhielt, die Puppe grimmig in der Hand zerschlagen und den Stab Wehe ihm dazu zwei-, dreimal derb über die Schulter gelegt; heute brummte sie nur:
»Arme Teufel! Arme Teufel! Hängt ihr denn noch in euren Knochen zusammen? Lohnt es sich denn, euch noch mal herauszufüttern? Malermeister wollt ihr sein? Als Vogelscheuchen könnte man euch ins Feld stellen! Arme Narren, jetzt sollte ich euch in Ton backen und malen können! Heiliger Strick, ich wollte, ich hätte euch das Tischleindeckdich aus der nahrhaften Stadt Braunschweig mitbringen können. Vor dem Knüppelausdemsack braucht ihr Jammervisagen mit eurem Knochengeklapper keine Bange mehr zu haben, wenn euch die Sünden beifallen, die ihr an der Mutter Wackerhahn begangen habt, als der Herr von Richelieu noch nicht die Hand auf Niedersachsen und also auch auf euch geleget hatte.«
»Sie kommt nicht vom Harz, nicht von Schloß Blankenburg, Wack – Mutter – Frau Förstern?«
Die Greisin schüttelte wieder den Kopf und lächelte, aber immer noch ein wenig schadenfroh, als sie erwiderte:
»Ja Honigkuchen! Aus der Hochfürstlichen Residenzstadt Braunschweig komme ich. Die Herren wissen doch aus den Gazetten, daß nach der Franzosen Abmarsch am Sonntag Okuli Seine Durchlaucht mit Allerhöchstem Hofstaat daselbsten am achten März dieses Jahres wieder eintriumphieret sind?«
»Jawohl, jawohl! Aber Pold und Mamsell Holtnicker, Mutter Wackerhahn?«
»Monsieur und Madame Wille haben Serenissimus und Ihre Königliche Hoheit die Frau Herzogin huldreich und gnadenvoll mit sich dahin geführet, Monsieur Willen als gegenwärtigen Zeichenmeister bei Dero jüngsten Prinzessinnen. Es gehet den jungen Eheleuten recht nach Wunsche, und danke ich für gütige Nachfrage.«
Sie sahen sich alle an im Kreise, stießen einander auch wohl mit den Ellenbogen an, viele ließen die Köpfe hängen, einige zogen die Mäuler herab, und nur zwei oder drei der guten Kameraden schwangen die Hüte, drückten der greisen Botin die Hand und riefen »Vivat!« ob der glücklichen Nachricht von Pold Wille und Hannchen Holtnicker. Es war eben viel Jammer auch auf Schloß Fürstenberg gewesen und war noch daselbst vorhanden, und bei des Menschen einmal gegebener Natur ist es zuviel von ihm verlangt, daß er sich bei eigenem Hunger und Kummer sofort auf den Kopf stelle und losjubiliere, wenn er von des Mitmenschen Behagen und günstigen Umständen Kunde erlangt. –
Nun wollten sie natürlich manches von ihrem früheren Kunstgenossen gern vernehmen; doch der Alten schien wieder einmal der Boden unter den Füßen zu brennen.
»Auf ein andermal! Bei besserer Bequemlichkeit mehr, nach Belieben«, rief sie. »Ich wollte eigentlich nur vorgucken, um nachzusehen, wer hier noch beim lebendigen Dasein ist und unserer in der Abwesenheit und Fremde in Liebe und Freundschaft gedacht hat. Nun muß ich ins Dorf hinunter. An den Herrn Pastor und die Frau Pastorin mit neuen Briefen im Sack; – die Frage möchte ich aber noch tun an die Herren: lieget Hauptmann Uttenberger immer noch im Quartier im Boffzener Pastorenhaus, oder haben seine Leute bei ihrem Abzug nach dem Rhein vor unserem Herzog Ferdinand ihn mit sich geführet?«
Da sahen sie sich wieder an und zuckten die Achseln, und dann hieß es:
»Ja freilich, Mutter Wackerhahn, dann darf man Sie wohl nicht zu lange mehr hier aufhalten.«
»Was macht ihr mir zu dem Wort für ein Gesichte, Herren? Es stehet doch gut da unten mit meinem Lebens- und Kriegskameraden?«
»Na, heute morgen hieß es, er sei dem Höxterschen Doktor unter den Händen eingegangen; aber die Nachricht hat sich als falsch erwiesen. Weiß Sie, Mutter, es ist eigentlich eine putzige Geschichte. Er war endlich ganz gut zuwege und sozusagen auf der Besserung, bis zum Anmarsch des Herzogs Ferdinand. Da hat auch sein Regiment – das Regiment Lochmann – über die Brücke bei Höxter auf der Retirade zurückgemußt. Das hat ihn denn doch so verschnuppt, daß er dabei, als er davon hörte, das kriegte, was man bei ihm zu Hause das Heimweh nennt, und daran versammelt er sich nun zu seinen Vätern, wie der Herr Pastor gestern noch hier oben bei uns gemeint hat.«
»Dann also fernerhin heute hier in Fürstenberg einen vergnügten Abend«, sagte die Wackerhahnsche, schritt ohne weiteren Gruß und Abschied aus dem Tor und den Katthagenberg hinunter dem Dorf Boffzen zu.
Sie blickten ihr alle nach, die Fürstenbergischen Figuren-, Porträt-, Landschaften-, Blumen- und Blaumaler, und Hans Eisenträger aus Kassel meinte, zu seinem Landsmann, dem Figurenmaler Oest, gewendet:
»Du, Andres, in meine nächste Blocksbergpaysage malst du mir dieses Frauensmensch doch noch mal zur Staffierung. Die Former sollen nicht allein die Ehre haben, das Weibsbild in die Raritätenschränke und Konrektor Winckelmanns Kunsthistorien zu bringen.«
»Das könnte geschehen gerade ihr zum Tort für die Flattusen, die sie uns eben in die Zähne gerieben hat; aber das Service würde doch wohl nur ein verrückter Engländer kaufen. Die aber hält uns der Krieg leider nur zu weit ab vom Leibe. Serenissimus würde zu deiner Paysage und meiner Staffage eine verdammt kuriose Visage schneiden. Watteau und Boucher werden ihm auf seinen unverkäuflichen Tassen, Tellern, Schüsseln und Schalen immer doch noch lieber und präsentabler sein als ein Abbild unserer Veleda aus dem Boffzener Landwehrturm.«
Wie konnten die guten Herren auch wissen, wie der Scherz, den sich seine hochberühmte Porcelainefabrik Fürstenberg vordem mit der Försterin Wackerhahn aus dem Barwalde erlaubt hatte, bei dem Herzog Karl von Braunschweig-Lüneburg in seinem Asyl auf Schloß Blankenburg ausgefallen war? –
Auf dem steil abfallenden Wege, zwischen den Nußbüschen durch, hinter denen unsere Geschichte vom Daphnis und der Chloe, vom Blumenmaler Wille und der Frau Pastorin Holtnicker liebem Pflegekind, dem Bienchen von Boffzen, ihren Anfang genommen hatte, durch die blühenden wilden Rosenbüsche, stieg die Weserhexe, mit zusammengepreßten Lippen immerfort vor sich hinmurmelnd, hernieder, dem Dorfe zu.
Auf Schloß Blankenburg war sie mit dem Herrn von Fritsch durch das hohe Tor, an den wachthaltenden Gardereitern vorbei stolz und aufrecht eingefahren, das Boffzener Pfarrhaus erreichte sie wieder von hinten herum durch ein Loch in der Gartenhecke und schlich langsam, scheu und geduckt der Pforte zu. Eines bösen Gewissens war sie sich hier doch ein wenig mehr bewußt als bei ihrem Eintritt in die neutralisierte Grafschaft am Harze als Führerin der von ihr der Frau Pastorin loci, Hanne Holtnicker – entführten Schützlinge.
Da Niedersachsen seit Hastenbeck zum erstenmal für einen kurzen Augenblick im Frieden lag, so nahm auch hier Garten, Haus und Hof sein Teil davon. Die Tür, die aus dem Hause in den Garten führte, stand geöffnet, und der Hauskater saß auf der Schwelle und putzte sich »über die Ohren«, was, wie jedermann weiß, bedeutet, daß Besuch kommt. Da war Ryn auch noch, der treue Wächter des Hauses. Schon etwas mißtrauischer als Freund Murner, ließ er zuerst ein kurzes, heiseres Gebell hören, nach genauerem Hinsehen jedoch stieß er zwar kein Freudengeheul aus, vergab er sich nichts durch exaltiertes Emporhupfen und -springen an dem nahenden Gast, aber gab doch durch wohlwollendes Schweifwedeln zu erkennen, daß er ihn zu den Bekannten seiner Herrschaft rechne und jedenfalls nicht zu ihrer Feindschaft.
Sonst alles still rundum.
Nur das Rauschen der Weser jenseits der niederen Mauer dem Strome zu. Das letzte Summen der Bienen vor Feierabend über den Blumenbeeten und in den Blütenbüschen des Boffzener Bienchens!
Auch im Hause alle Türen offen und überall alles an seinem Platze, als habe nie Louis Armand Duplessis de Richelieu hier das Land verwaltet und Monsieur Foullon ihm niemals da seine Privatgeschäfte besorgt! Alles wie ausgestorben! Hier in der Stube links die Spinnräder der Frau Pastorin und Dortchen Krügers, aber von Dörthe und der Frau Pastorin keine Spur. Auf dem Tische an seinem Platz aufgeschlagen der Kabinettprediger Cober; doch vom Pastor Gottlieb Holtnicker nichts zu hören und zu sehen, ebensowenig wie von dem wackeren Knecht Börries.
Sie guckte in die Stube links, sie guckte in die Stube rechts, sie sah in die Küche und sah die Treppe hinunter in den Keller, die Wackerhahnsche. Draußen der warme, lichte Abend, im Hause nichts als das Ticktack der Uhr auf dem Vorplatz im oberen Gestock.
Sie stieß auf dem Flur wieder auf mit ihrem Wanderstab, die Hexe aus dem Landwehrturm. Aber leise und wie verschüchtert, gar nicht wie sonst vor Freund und Feind, im Guten oder im Bösen, im Ernst oder im Spaß.
»Holla he! He holla! Niemand zu Hause hier? Bringe Botschaft – gute Nachrichten!« wollte sie rufen, aber brachte es nicht zu einem lauten Wort. Sie, die ebenfalls in ihrem ganzen Leben nicht das Gruseln hatte begreifen und lernen können, überkam jetzt hier im Hause zu dem, was sie auf Fürstenberg vernommen hatte, so etwas wie das, was man, wenn es einen in der Stille und Einsamkeit der Wildnis überkommt, die Waldangst nennt. Im Forste läuft man dann geradeaus wie ein geschreckt Kind, bis man zu noch größerem Entsetzen merkt, daß man im Kreis läuft, dem Grauen der Öde unentrinnbar; im Pastorhause zu Boffzen stieg die wilde Försterin aus dem Barwalde die Treppe in den Oberstock empor. Langsam, Stufe um Stufe, zögernd sich und schwerfällig auf das wackelige Geländer stützend. Als sie bemerkte, daß der Hund Ryn mit ihr ging, war ihr das zum Trost; sie nahm die Begleitung gern an und klopfte das mit seinen guten, treuen Augen auch wie melancholisch zu ihr aufblickende Tier wie dankbar auf den Kopf.
Auch im Oberstock keine Tür verriegelt und verschlossen! Leise pochte die Wackerhahnsche an die des Hauptmanns Uttenberger und legte, da sie keine Antwort bekam, vor sich hinbrummend, eine Weile das Ohr an die Füllung. Sie klopfte von neuem und etwas lauter, und da auch jetzt niemand »Herein!« rief, trat sie ein, blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen, trat dann rasch an das Bett des Kriegs- und Lebenskameraden, faltete beide Hände um ihren Wanderstab und sagte nur:
»Du liebster Gott!«
Wie sie das aber sagte oder seufzte, genügten die Worte, um des Menschen Dasein auf der Erde von der Wiege bis zum Sarge darin zusammenzufassen.
Erfüllt hatte sich an dem Reisläufer Balthasar Uttenberger aus dem Kanton Zürich, an des Königs von Frankreich Kapitän im Regiment Lochmann, des Kabinettpredigers Cober Wort von Gottes Wunderwagen:
»Einer wird geboren gegen der Sonnen Aufgang; bei ihrem Niedergang muß er sterben. Ein anderer will sich setzen gegen Mittag; das Geschick führet ihn wunderbar, auch vielmals wider seinen Willen, gegen Mitternacht. Mancher setzet sich für, daheim zu sterben: Gott rufet ihm zu: Gehe aus deinem Vaterlande!«
Da lag er in dem Schlaf, den ihm kein Trommelschlag, kein Trompetenklang mehr störte, der greise Kriegs- und Wandersmann! Er saß fast aufrecht auf dem Bett der Barmherzigkeit in dem fremden Land, wo ihn Gottes Wunderwagen nun zum letztenmal nun für immer abgeladen hatte. Der schöne rote Abschiedsschein der hinter den Bergen des Westfalenlandes jenseits der Weser niedergesunkenen Sonne umspielte das friedliche, stille Gesicht und die haarigen Knochenhände, die noch auf der Bettdecke ein zerlesen Büchlein hielten: immer noch seines jungen Landsmanns Salomon Geßners Gesänge von den Hirten und den Hirtinnen in dem Land ohne Wölfe, Könige, kriegführende Mächte, Kanonen und Kriegsleute – dem Land Arkadia!
»O Kamerad, Kamerad! O Herr Hauptmann – Hauptmann Uttenberger!« seufzte die Marketenderin des Königs von Spanien und saß nieder auf dem Stuhl neben dem Lager und legte ihre dürre Hand auf die erkalteten Hände über dem Idyllenbuch. »Konntet Ihr hiermit denn gar nicht wenigstens noch ein Stündchen länger warten bis zu einem letzten Wort mit solch einer guten Freundin als wie die Wackerhahnsche aus dem Landwehrturm, doch Eure beste Freundin hierzulande, Kapitän? Ist denn der Marschbefehl so schnell und scharf gekommen? Gab es gar kein Umsehen nach den Zurückbleibenden? Seht mich nicht so an mit diesen Augen, Hauptmann Uttenberger! Sapperlot, es sind doch so gute Leute hier im Haus, Ihr habt's ja selber an Euch erfahren: war denn zuletzt niemand vorhanden unter ihnen, der sie Euch zudrückte, Eure alten, müden Augen, Balzer Uttenberger?«
Sie versuchte das noch mit zitternden Fingern; aber es ließ sich augenblicklich nicht tun. So saß sie denn wieder still neben dem einsamen Sterbebett, und der Hund Ryn legte ihr den Kopf auf das Knie und blickte abwechselnd von ihr auf den Leichnam.
»Ein kurios Ding, ein kurios Ding!« murmelte sie. »Nun sind sie drüben am Rhein aneinander und in Böhmen, Sachsen und Thüringen und, wie die Gazetten sagen, rund um die Welt auch noch; aber wir zwei sind nicht mehr dabei, Hauptmann Uttenberger! Er ist in Sein allerletztes Quartier abgerückt, und die Alte aus dem Landwehrturm hat zwei armen Narren dazu geholfen, ihren Willen zu kriegen und das Elend weiterzugeben auf Erden. Komödie hätte sie auf ihre alten Tage noch mal spielen mögen, die Wackerhahnsche! Brautkranzwinden und Enkelwiegen hätte auch sie gern mal agiert vor ihrem Abscheiden. Nun, das eine hat sie probiert, wie's mit dem anderen werden wird, muß sie abwarten. Unter der Menschheit, wie sie unten, im Mittel und oben ist, hat sie sich wieder mal umgetrieben – auf Schloß Blankenburg wie in der fürstlichen Landes- und Residenzstadt Braunschweig. Hat fürs erste wieder genug davon, Hauptmann Uttenberger: ob man dem Dogen von Venedig in sein Löwenmaul oder dem Herzog von Braunschweig in sein Denunziationsstöckchen vom lieben Nachbar geworfen wird, bleibt sich immer noch ganz gleich, Herre. Ist ihr Quartier noch frei im Turm auf der Allermannswiese, so zieht sie wieder da ein. Sei Er ruhig, Kamerad, Kapitän Uttenberger, über Sein Grab kann Ihm die Wackerhahnsche nicht schießen lassen; aber Seine drei Fäuste voll Erde soll Er anstatt der drei Salven in echter, rechter, ehrlicher und aufrichtiger Kameradschaft von ihr haben. Und unsere Kinder lassen auch noch grüßen, Herr Hauptmann. Gegenwärtig geht es ihnen ziemlich nach Wunsch . . . o du liebster Gott, hält Er denn da noch immer Sein Hastenbecker Buch von Seinen Schäfern und Schäferinnen zwischen den armen, klammen Fingern?«