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Ueber das offene Meer.

Verlassen des Eismeeres. – Tod unserer Hunde. – Das Eis außer Sicht. – Cours und Plan ein Schiff zu finden. – Tagelanges Rudern. – Nowaja Semlja in Sicht. – Das Depot ungesehen überschritten. – Unmöglichkeit des Landens. – Klimatische Verwandtschaft von 1871 und 1874 im Nowaja Semlja-Meere. – Gwosdarew-Bai. – Alkenjagd. – Landung beim schwarzen Cap. – Admiralitäts-Halbinsel. – Stürmisches Wetter, Suchoi Nos. – Region der Teiste. – In Matotschkin-Schar kein Schiff. – Kairn in der Altgläubigen-Bucht. – Verlassenes Walfischboot. – Nur noch für zehn Tage Proviant. – Sturm und Trennung der Boote. – Cap Britwin. – Das Ende aller Noth. – Schooner Nikolaj, Capitän Doronin. – Ueberfahrt nach Lappland. – Vardö. – Ende.

 

Der offene Ocean lag jetzt vor uns, – der allumfassende Ocean; nie ist seine glänzende Fluth mit inbrünstigerer Freude betrachtet worden, als von der kleinen Schaar, die nach furchtbaren Kämpfen den Banden des Eises entronnen, ihre Arme emporhob, die heilige Fluth zu begrüßen! Glänzend und glatt, ein Bild des Friedens lag sie da; stumm und beredt zugleich, breitete sich ihr ruhiger Spiegel aus, in welchem nur noch die Schattenrisse weniger abgetrennter Eisflöße daran mahnten, daß die Wärmefluth, welche uns aus Süden entgegenzog, einer fernen Welt angehörte, und daß die strahlende Morgensonne in dem klaren Himmelsraum bald wieder versinken sollte für diese Einöden voll Stürme, Finsterniß und Kälte.

Der Tag unserer Befreiung war der 15. August, der Mariä-Himmelfahrtstag, und wie zu einem Feste schmückten wir unsere Boote mit den Flaggen. Die Boote wurden seefähig gestaut, mit Noth nahmen sie das Gepäck, die Wasserfäßchen und die Menschen auf; nur unsere vier Schlitten, deren Unverwüstlichkeit wir das Gelingen des Rückzuges zu danken hatten, mußten leider zurückgelassen werden. Selbst die Einbarkirung der Hunde erregte begründete Bedenken für die zu erwartenden Vorgänge auf offener See.

Das Verlassen des Eismeeres.

Mit drei Hurrahs stießen wir vom Eise ab, und die Fahrt über das freie Meer begann. Ihr glücklicher Verlauf hing vom Wetter und unablässigem Rudern ab; trat ein Sturm ein, so mußten die Boote sinken.

Bald jedoch überzeugten wir uns, daß unsere Hunde, von der Seekrankheit ergriffen, die Boote in so unruhige Schwankungen brachten, daß der geringste Seegang uns verderblich werden mußte. Es war auch kein Platz für sie in den übervölkerten kleinen Fahrzeugen, kein Wasser und kein Proviant; – im Stiche lassen wollten wir sie nicht, und so war die einzige, wenngleich schmerzliche Form unseres Dankes: ihr Tod! Eine einzelne Scholle, an der wir noch vorbeikamen, wurde die Ruhestätte unserer Hunde – unserer treuen Freunde, unserer Begleiter in allen Lagen, unserer Helfer in der Noth, und der Theilhaber an allen Erfolgen!

Es war ein trauriger Dank für solche Dienste; gern hätten wir ihnen bis an ihr Lebensende das Brod gewahrt, das die armen Thiere in ihrer Treue sich verdient hatten, und es war ein höchst schmerzlicher Augenblick, als Jubinal das Boot verließ, um den Tod zu erleiden. Es war der Verlust eines treuen Gefährten, der niemals während des Rückzuges von meiner Seite gewichen, der geduldig all die großen Anstrengungen getragen, welche ich gezwungen war ihm aufzubürden, und sich wiederholt der Gefahr des Abgeschnittenwerdens ausgesetzt hatte, wenn er mir aus dem Boote nachgesprungen war auf das Eis. Ebenso schwer fiel uns der Tod des sanften Toroßy, des Nordpolgebornen, für den die ganze Schöpfung bisher nur aus Eis bestanden hatte, dessen Leben ein beständiges Lastenziehen gewesen war. –

Mit unendlicher Befriedigung sahen wir den weißen Saum des Eises nach und nach zur Linie werden und endlich verschwinden; – Jedermann fühlte es, daß dessen nördliche Lage in dem so günstigen Jahr 1874 Daß es ein günstiges war, sahen wir erst jetzt, weil die Eisgrenze so hoch im Norden lag; denn während der Reise selbst, d. h. innerhalb des Eises, hatten alle die angeführten ungünstigen Erscheinungen das Gegentheil vermuthen lassen. der letzte Act einer Reihe glücklicher Lösungen aus drohenden Constellationen war, dem wir unsere Befreiung aus dem Eise und unsere Erfolge zuschreiben mußten. Schon nach einer Meile Entfernung vom Eise war die Temperatur des Wassers bis auf -0,7° R. und die der Luft auf +3° R. gestiegen; mit solcher Intensität wurden die Sonnenstrahlen von der glatten Wasserfläche reflectirt, daß wir das lange ungekannte Gefühl der Hitze empfanden und unsere Kleidung zu erleichtern gezwungen waren.

Tod der Hunde.

Unser Cours war mit Süd zu West auf die Barentz-Inseln gerichtet; hier wollten wir die dringendsten Ergänzungen unseres Proviants dem Depot des Grafen Wilczek entnehmen und dann der Küste Nowaja Semlja's entlang hinabfahren, um nach einem Fischerschiffe zu spähen. Unsere größte Hoffnung setzten wir dabei auf die Gegend der Admiralitäts-Halbinsel, die Matotschkin-Schar und die Dunen-Bai. Schiffe norwegischer Walroßjäger waren nur im Norden und bis zur Matotschkin-Straße zu erwarten, südlich derselben dagegen, nach Carlsens Angabe, russische Lachsfischer. Das nächste Land war fünfzig Meilen von uns entfernt; es kam Alles darauf an, daß wir seine schützenden Ufer erreichten, bevor das Wetter umschlug. Gelang dies nicht, so blieb uns keine andere Wahl, als den größten Theil unseres Proviants über Bord zu werfen, um die Boote zu entlasten.

Tagelang, mit Aufbietung aller Kräfte, ruderten wir nun die offene See hinab. Schiffslieutenant Weyprecht fuhr in seinem Boote voraus, wir folgten ihm so rasch als möglich nach. Die Besatzung jedes Bootes war in zwei Wachen getheilt, – je vier Stunden wechselten Schlaf und Arbeit ab; häufig geschah es dabei, daß ein oder das andere Boot zurückblieb und durch einfallenden Nebel den Blicken der Voranziehenden entschwand. Dann gab es so lange ein Trompeten und Blasen, bis das zurückgebliebene Boot mit Aufgebot aller Ruderkräfte die Voraneilenden wieder erreicht hatte. Am 16. August Morgens trat eine nördliche Brise ein, und durch etliche Stunden segelten wir mit gutem Erfolge. Um dieselbe Zeit kam Nowaja Semlja in Sicht, – nichts als einige silberglänzende Punkte über der Wasserfluth. Einige der Leute hielten sie im ersten Augenblick für das nach Süden hin wiederkehrende Eis; aber es waren die Schneegebirge der Umgebung von Cap Nassau, dort, wo die hohen Landmassen der Küste plötzlich aufhören, und das nach Nordosten gerichtete Land den monotonen Charakter einer fast berglosen Begletscherung annimmt und zu jenen einsamen Gestaden reicht, wo Barentz seit drei Jahrhunderten den ewigen Schlaf schläft.

Unser Fortgang hatte jetzt nichts mehr von der lähmenden Geringfügigkeit von ehedem; Die Barentz'sche Expedition dagegen brauchte bei ihrem Rückzuge (1597) 25 Tage zu der 60 Meilen langen Strecke vom Cap Nassau bis zu den Kreuz-Inseln. Mittags erreichten wir die Breite von 76° 46', am 17. August trat durch die Morgennebel die malerische Bergfront südlich des Cap Nassau nahe vor uns, violett und rosa, und in einzelnen rothen Lichtern glühte darunter das gelbe Meer. Dann trat wieder Nebel ein; nach dem Compaß ruderten wir in seiner Hülle weiter, und so unbestimmt war unsere Umgebung geworden, daß alle Boote in der Luft zu schweben schienen. Eine Strömung entführte uns während der Dauer dieses Nebels so sehr nach Südwesten, daß wir Nachmittags, als das Land wieder zum Vorschein kam, die Beobachtung machten, daß wir die Stelle unseres Depots ungesehen bereits überschritten hatten. Der Karte entnahmen wir, daß wir uns schon in 75° 40' Breite und 58° Länge befanden; der Zeitverlust eines Umweges von etwa hundert Meilen stand nicht im Verhältnisse zu der geringen Vermehrung, deren unser Proviant in Anbetracht der überlasteten Boote überhaupt noch fähig gewesen wäre.

Vor uns, in äußerster Ferne, traten jetzt die höhern Theile der Admiralitäts-Halbinsel über den Horizont; wir hielten auf sie zu nach Süden hin und machten einen vergeblichen Versuch, an der Küste nördlich der Gwosdarew-Bai zu landen. Der Strand war voll Klippen und Untiefen, zwischen denen eine schwere Brandung tobte und uns eine Vorstellung von der Schwierigkeit gab, die das Landen an den gleichartigen Gestaden der Barentz-Insel verursacht hätte. Vor zwei Jahren war die Küste dort von einem breiten Streifen festen Eises umsäumt gewesen; die Anlage des Depots war darüber hinweg mit dem Schlitten geschehen. Jetzt aber zeigte sich nirgends noch an der Westküste Nowaja Semlja's ein Stückchen Eis; das klippenumgürtete Land konnte daher nur mittelst der Boote erreicht werden.

Auch sonst waren die klimatischen Veränderungen der Jahre 1871 und 1874 von auffallender Bedeutung. Damals waren die Berge Nowaja Semlja's zum größten Theile mit Schnee bedeckt, jetzt aber nur noch die höhern Theile seiner Gletscher damit erfüllt, und in 76° nördlicher Breite an derselben Stelle, wo vor zwei Jahren dichtes Eis gelegen hatte, beobachteten wir jetzt eine Meerestemperatur von +3° R., während die der Luft +5° R. betrug. In allen Zügen stimmten somit die klimatischen Erscheinungen von 1871 mit jenen von 1874 überein. Sie scheinen auch auf der Ostküste Nowaja Semlja's geherrscht zu haben; denn Capitän Wiggins befuhr das karische Meer bis zur Mündung des Ob und wurde nur an dessen Mündung einige Wochen vom Eise eingeschlossen. Wir sind mit Capitän Wiggins (Dampfer Diana) nachher in Hammerfest zusammengetroffen. Er hatte die Absicht, unser Depot bei den Barentz-Inseln durch eine Quantität von Kohlen und Proviant zu verstärken, welche Herr Leigh Smith ihm zu diesem Zwecke mitgegeben hatte. Diesen beiden Herren den wärmsten Dank noch einmal an dieser Stelle für ihre mit persönlicher Gefährdung bezeugte Opferwilligkeit im Namen der Expedition zu wiederholen, ist mir eine ehrenvolle Pflicht.

Die Unnahbarkeit der meisten Küstenstellen Nowaja Semlja's hatte uns genöthigt, unsere Reise bisher aufenthaltslos fortzusetzen, obgleich durch die langdauernden Anstrengungen des Ruderns unsere Arme bereits steif und angeschwollen waren. Vergeblich hatten wir bisher nach einem Fahrzeuge umhergespäht. Es war Windstille eingetreten; ein Schiff, das wir zu sehen glaubten, und dem wir emsig entgegenruderten, erwies sich beim Näherkommen als ein kleiner Eisberg. Es war keine andere Wahl, als der Küste entlang weiter nach Süden zu reisen, ihre Baien abzuschneiden und dem Ufer so nahe als möglich zu bleiben.

In der nun folgenden Nacht ruderten wir über die breite Gwosdarew-Bai; ihre imposanten Berge Vor 2-3 Jahrhunderten suchte man die höchsten Berge der Erde auf Nowaja Semlja. und Gletscherströme waren die einzige Unterbrechung dieses schon durch seine Langeweile aufreibenden Galeerendienstes. Die Bai war mit unzähligen kleinen Gletscherfragmenten erfüllt; einige ihrer kleinsten schifften wir in die Boote ein, um unsern fast verschwindenden Wasservorrath zu ergänzen. Seitdem wir unter die Küste Nowaja Semlja's gekommen waren, hatten wir eine Region der Alken Das Nowaja Semlja-Meer entbehrt des Fischreichthums der spitzbergischen Gewässer; daher konnten wir unsere Angeln nicht verwerthen. betreten, die mit kleinen Krebsen in den Schnäbeln über unsere Köpfe hinwegschwirrten zu ihren Sitzplätzen am Lande, oder mit solcher Indolenz im Wasser saßen, daß es schien, als wollten sie den Booten um keinen Preis ausweichen. Unaufhörlich wurde auf sie geschossen, ohne daß die Fahrt dadurch im mindesten wäre unterbrochen worden. Ebensowenig war die Bereitung der Mahlzeiten, welchen die erbeuteten Vögel die dringend benöthigte Verbesserung verliehen, mit einem Aufenthalte verbunden. Nur zweimal des Tages wurde für die Dauer von etwa zehn Minuten gerastet, damit das Essen verzehrt werden könnte; und vorwärts ging es mit umso größerer Hast, als jedes Boot beständig bestrebt war, das erste zu sein.

In der Nacht vom 17.-18. August ging die Sonne um Mitternacht zum ersten Male wieder unter; am folgenden Nachmittag landeten wir im Süden des schwarzen Caps an einer Stelle, die sich durch eine Ueppigkeit der Vegetation auszeichnete, welche unsern an das monotone Weiß gewöhnten Augen wie ein Garten erschien. Nichts erinnerte mehr an das Polargebiet, weder das Land noch die Temperatur, oder das Wetter; die weite Bai, die sich nach Süden hin im Angesichte der Admiralitäts-Halbinsel öffnete, wäre für uns ohne ihren Gletscherkranz ein Golf Italiens gewesen. Es war zur Zeit der Ebbe; im Wasser watend, hatten wir die Boote auf untergelegten Riemen den schlammigen Strand hinangeschoben, bis sie außerhalb des Meeres waren. Auch in diesem Zustand der Schiffbrüchigkeit suchten wir das Geburtsfest unseres erhabenen Monarchen in unserer Weise zu feiern, – indem wir die Boote beflaggten, uns in einem kleinen See wuschen und einen schwachen Thee durch etwas ersparten Alkohol kräftigten.

Seit Monaten war es das erste Land, das wir wieder betraten; völlig erschöpft, wankend und wie gerädert, lagerten wir uns auf seinen weichen Grasfluren, lauschten dem rhythmischen Brausen der Brandung; aus gesammeltem Treibholz erhob sich die Flammengarbe eines mächtigen Scheiterhaufens. Einige stiegen noch die Wasserrisse hinan, oder sammelten sogar Blumen. Bär brachte von Nowaja Semlja 90 Species der Phanerogamen heim. Welche Höhe die Sommertemperatur in diesem Lande erreicht, zeigt eine Beobachtung von Mojßejew am 18. Juni 1839: +27° R. in der Sonne und +12° R. im Schatten. Vergißmeinnicht gab es in Menge, auch Kräuter (Huflattig, Tussilago farfara), welche sie dörrten und rauchten; sie sagten, sie hätten einen trefflichen Tabak gefunden. Wer aber in jener Zeit noch etwas wirklichen Tabak sein nannte, der erfreute sich jenes gewissen Uebergewichtes, das der Besitz stets verleiht. Ich selbst gehörte zu diesen Glücklichen, und ich lese in meinem Tagebuche, daß ich damals drei Alkenhälse für eine Pfeife Tabak von Dr. Kepes eintauschte. Diese Harmlosigkeit war indessen nicht von langer Dauer; die Notwendigkeit, ein Schiff so rasch als möglich zu finden, weckte uns bald wieder aus tiefem Schlafe. Viele hatten ihn im Freien gefunden, da es in den Booten zu heiß geworden. Unaufhörlich donnerten die Gletscher Nowaja Semlja's, und wie in den Alpen, so deuteten wir dieses Zeichen auch hier auf eine Verschlimmerung des Wetters.

Ankunft auf Nowaja Semlja.

Noch fuhren wir am 19. August bei klarem, ruhigen Wetter längs der Admiralitäts-Halbinsel herab (+8° R. Lufttemperatur, +5° R. Wassertemperatur). Ihre Terrassen sprechen für ihr allmäliges Emporsteigen aus dem Meere; Aus ältern Karten ist sie noch durch einen Sund vom Hauptlande getrennt. Die Ablagerungen von Treibholz, welche man überall in bedeutender Höhe über dem Meere antrifft, lassen über das Emporsteigen Nowaja Semlja's keinen Zweifel. Da dieses Holz in jenen Breiten erst nach Jahrhunderten vermodert, so fehlt jedes Maß zur Schätzung dieser Bewegung. ihr flaches Verlaufen und das seichte Meer voll Brecher, welches sie umspült, erklären es leicht, weßhalb sie Schiffen, die sich ihr im Nebel nähern, wie jenen Wood's, so oft gefährlich geworden sind. Je südlicher wir kamen, desto verläßlicher erwiesen sich die Karten. Am 20. August erreichten wir beim Cap Tschernitzky die mittägige Breite von 74° 21'. Das Land war fortan eine Fülle malerischer Buchten, nur seine Höhen hüllten sich in Wolken. Grüne Gestade zogen sich die Ufer entlang; es waren die gesuchtesten Ueberwinterungsplätze der russischen Nowaja Semlja-Expeditionen, an einzelnen Plätzen sahen wir noch verfallene Hütten.

Erst am 21. August erhob sich ein frischer Ostwind; die See wurde bewegt, die Boote füllten sich mit Wasser, während wir mit rascher Fahrt segelnd dahinzogen. Wir waren gänzlich durchnäßt und getrennt, als wir in die Bai vor Suchoi Nos einliefen (73° 47' Mittagsbreite), um das Nachlassen des Windes abzuwarten und uns wieder zu vereinigen. Besonders gefährdet war in solchen Fällen das Boot des Schiffslieutenants Brosch, weil seine Bordwand den Wasserspiegel nur wenig überragte, und die künstliche Erhöhung desselben durch einen ausgespannten Segeltuchstreifen sich nicht mehr aufrecht erhielt.

Bei einem Feuer aus Treibholz und aufgefundenen erratischen Braunkohlenstücken wurden unsere Kleider rasch getrocknet; aber sowohl hier als auch bei jeder andern Landung erregte es unser Mißfallen, daß die Renthiere es unterließen, sich zu zeigen, obgleich uns die herrlichsten Weideplätze umgaben. Eine große Menge gesammelten Löffelkrautes, das wir mit etwas Pemmikan dünsteten, war dafür ein geringer Ersatz. Auch die Alken hatten aufgehört, und die Teiste, deren Gebiet wir betreten, sanken gleich Steinen unter das Wasser, sobald wir ihnen auf Schußdistanz nahe kamen. Bei hohem Seegang und drohendem Wetter zogen die vier Boote dann weithin getrennt nach Süden. In 73° 20' liefen wir in die Matotschkin-Schar ein, um nach einem Fischerschiffe auszulugen. Allein es war nichts zu sehen, als die rauhe Größe eines arktischen Berglandes; auch Capitän Carlsen, den Schiffslieutenant Weyprecht ausgesandt, den weitern Verlauf der an Windungen reichen Durchfahrt zu untersuchen, kehrte ohne die ersehnte Freudenbotschaft zurück.

Noch bevor sich Carlsen wieder eingefunden, hatten wir uns in die Bucht der Altgläubigen zurückgezogen, auf einem markirten Vorsprung des Landes ein Signal aus Treibholzstämmen und Steinen erbaut und ein Document darin verwahrt, welches den bisherigen Verlauf der Expedition in kurzen Zügen schilderte. Dies geschah zu dem Zwecke, in dieser von Schiffen jährlich besuchten Gegend eine Spur unserer Expedition zu hinterlassen, deren schon im nächsten Sommer zu erwartende Auffindung alle Aufsuchungsexpeditionen unserer Landsleute im hohen Norden verhindern mußte, falls wir selbst in der Verfolgung unserer ferneren Reise umkommen sollten.

In der That hatten sich die Aussichten unserer Rettung sehr vermindert. Alle Hoffnungen hatten wir darauf gesetzt, in der Matotschkin-Schar ein Schiff zu finden. Es war nicht der Fall; jetzt kehrte auch Carlsen mit der Meldung zurück, daß er im Innern der durchsuchten Meerenge nichts Anderes angetroffen habe, als ein Walfischboot, welches umgestürzt am Lande lag, von menschlichen Fußspuren älteren Datums umgeben. Es war also kein Zweifel mehr darüber möglich, daß alle Fischer bereits aus den hohen Breiten sich zurückgezogen hatten, in welchen wir uns noch befanden. Nachts heulte ein Nordoststurm über die Klippen der Altgläubigen-Bucht hinweg, in schäumendem Aufruhr erhob sich die Brandung an den ausgewaschenen Felsen bis zu unsern Booten.

Erst Mittags am 23. August vermochten wir die Reise fortzusetzen. Sie mußte ihrem Ende entgegengehen, unser Proviant reichte nur mehr für zehn Tage; binnen einer kurzen Frist mußte sich unser Geschick entscheiden. Kein Zögern war mehr möglich; nur eine Hoffnung blieb uns übrig, in der Dunen-Bai, wie Carlsen prophezeite, ein rettendes Schiff zu finden. Schlug auch diese fehl, dann mußte die höchst zweifelhafte Ueberfahrt über das stürmische weiße Meer, 450 Meilen direct nach Lappland, gewagt werden. Länger dem ungeheuern Umweg der Küstenlinie zu folgen, widersprach der Mangel an Lebensbedarf und die Jahreszeit. Was aus dieser Ueberfahrt in offenen kleinen Booten geworden wäre, das lehrten uns nur zu deutlich die nächsten Tage.

Wir segelten also die flache Küste nach dem Gänselande herab; stürmisches Wetter folgte, erschöpfte unsere Kräfte und trennte die sich mit Wasser füllenden Boote, deren Besatzungen unausgesetzt thätig waren, sie wieder klar zu schöpfen. Das Boot Schiffslieutenant Weyprecht's entschwand in offener See unsern Blicken; die übrigen verloren wir unter der Küste aus Sicht. Das Boot, in welchem Schiffsfähnrich Orel und ich waren, schien den übrigen vorangeeilt zu sein; deßhalb hielten wir am 24. August Morgens in einer finstern Felsbucht, um das Herannahen unserer Gefährten abzuwarten.

Erschöpfung.

Völlig durchnäßt und mit dem Aufgebot unserer letzten Kräfte sprangen wir in das seichte Meer und zogen das Fahrzeug an den Strand, sammelten einiges Treibholz, machten ein Feuer und in einer Pfanne eine Art Knödel. Dann sanken wir, von Rauch umhüllt und tief erschöpft, auf die nassen Steine nieder in Schlaf. So vergingen vier Stunden; als wir von einer Anhöhe aus noch immer kein Segel auf dem dunklen Meere sahen, zogen wir weiter. In der Nähe von Cap Britwin (72° 40' B.) stießen die Boote bei eintretender Windstille wieder zusammen. Die Vertheilung des Lebensmittelrestes wurde ausgeglichen; mechanisch ruderten wir weiter durch die endlose Fluth, hinein in das Geheimniß des Ausganges.

Die Stunde der Entscheidung war herangekommen, – noch eine Felsecke, und das rettende Schiff konnte vor unsern Augen liegen, oder wir mußten uns der brutalen Uebermacht des Oceans anvertrauen. Es war Abend geworden, als wir unter den schwarzen, verwitterten Wänden von Cap Britwin dahinglitten, deren Gesimse von Vogelschaaren bedeckt waren, die sich im Flugwasser der Brandung ergötzten.

Da, um 7 Uhr, wie mit einer Stimme, erscholl ein Freudenruf aus den Booten: ein fünftes kleines, mit zwei Menschen besetztes Boot lag vor uns, die, anscheinend auf der Vogeljagd begriffen, nicht minder überrascht als wir selbst, auf uns zukamen. Es waren Russen, und noch bevor wir uns verständigt hatten, waren wir mit ihnen um eine Ecke gebogen, – da lagen zwei Schiffe.

Mit einer gewissen Ehrfurcht nähert sich der Schiffbrüchige dem schlanken Bau eines Schiffes, das ihn den Launen der Elemente entreißt; keine leblose Maschine ist es ihm, sondern ein hilfreicher Freund, ein höheres Geschöpf, als er selbst. Mit diesem Gefühle nahten auch wir uns den beiden Schoonern, die wenige hundert Schritte fern im Innern einer felsumgürteten Bai lagen. Sie waren für uns der Inbegriff der ganzen Welt!

Wir hatten unsere Boote beflaggt, und indem wir den fremden Männern folgten, legten wir unter dem Schooner Nikolaj an, dessen Deck sich sofort mit bärtigen Russen füllte, die mit Verwunderung und Theilnahme auf uns herabstarrten, und dessen Capitän Feodor Voronin wie ein Patriarch unter ihnen stand, uns zu empfangen. Zehn Tage früher, und auch unsere armen Hunde hätten den rettenden Boden dieses Schiffes betreten.

Der Empfang hätte für Mächtige nicht würdiger sein können, als er für uns Verschollene war; denn beim Anblick der beiden Ukase, welche wir aus Petersburg erhalten hatten, und die allen Bewohnern des russischen Reiches anbefahlen, uns hilfreichen Beistand zu leisten, entblößten diese dürftigen Fischer ihre Häupter und verbeugten sich bis zur Erde, – wir hatten ein Bild vor uns, wie man Befehle befolgt, Tausende von Meilen, von wo sie erlassen waren. Allein der Empfang war auch herzlich und alles Köstliche an Bord: Lachs, Renthierfleisch, Eidergänseeier, Butter, Thee, Brod und Branntwein wurde in Schüsseln vor uns aufgetragen. Dann kam der zweite Schiffer an Bord, brachte uns sein Willkommen und lud uns zu sich; es war die erste einer langen Reihe von Einladungen, die noch bevorstanden. Dr. Kepes insbesondere war dahin gebeten worden, denn es befand sich ein Kranker an Bord; mit einem Tabakhonorar in der Hand kehrte er zurück.

Die einfachen russischen Seeleute des Eismeeres gaben uns von ihren geringen Habseligkeiten, um uns zu erfreuen. Einer der Matrosen hatte mich eine Zeitlang beobachtet, und weil ich für einen Glücklichen nicht hinreichend Lärm machte, so dachte er, daß es mir an etwas fehle. Er ging also hin, öffnete seinen Koffer und brachte mir sämmtliches Weißbrod und seinen gesammten Vorrath an Tabak, den er von Archangel her noch besaß. Seine russische Anrede war ohne Zweifel voll Herzlichkeit, aber ich verstand kein Wort.

Welch eine Erlösung aus langer Noth! Sechsundneunzig Tage hatten wir auf dieser Rückreise im Freien zugebracht, – mit den vorangegangenen Schlittenreisen sogar fünf Monate! Betäubt und mit inniger Dankbarkeit nahmen wir die sich drängenden Eindrücke der Wiederkehr ins Leben auf; nur die Freude brach sich nicht so rasch zu Worten Bahn, denn: »Das Schweigen ist ihr bester Herold.« Mit stillem unendlichen Behagen starrten wir auf die nichtigsten Dinge, und ich glaube, daß sich Jeder von uns immer wieder in Gedanken zuflüsterte: »Wenn man das in Oesterreich wüßte!« Lusina, der einzige, der etwas Russisch sprach, war unser Dolmetsch; durch ihn erfuhren wir folgende Ereignisse, die sich während unserer Abwesenheit in Europa zugetragen hatten, und die unsere gespannteste Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen:

1. Ueberall herrsche Friede.

2. In Oesterreich-Ungarn sei man im höchsten Maße um unser Schicksal besorgt, und die russische Regierung hätte allen Eismeerfischern aufgetragen, nach Möglichkeit nach uns zu forschen und zu unserer Rettung beizutragen. Dieser Befehl hing in der Cajüte des Capitäns an der Wand.

3. Graf Wilczek sei glücklich aus dem Eismeer zurückgekehrt; der Capitän selbst habe ihm an der Petschora-Mündung begegnet, als er im Begriffe war, nach Obdorsk zu reisen.

4. Napoleon sei todt.

5. Ein norwegisches Fischerschiff sei im Herbst 1872 bei den Barentz-Inseln (also in unserer Nähe) vom Eise eingeschlossen und zerdrückt worden; nur vier Mann der Besatzung hätten sich in einem Boote gerettet, und nachdem sie auch dieses verloren, sei es ihnen nach furchtbaren Abenteuern und Leiden gelungen, sich über Land zu den Samojeden im äußersten Norden des Ural zu retten.

Wir erblicken ein russisches Boot.

Die beiden Schiffe, welche wir in der Dunen-Bai getroffen hatten, waren aus dem Gouvernement von Archangel und hier an der Mündung des Puhova-Flusses mit der Lachsfischerei und Renthierjagd beschäftigt. Sie hatten noch wenig gefangen, weßhalb es ihre Absicht war, noch etwa vierzehn Tage zu verweilen und ebenso lange im Süden Nowaja Semlja's zu dem gleichen Zwecke zu verbringen. Dieses Programm war nicht nach unserm Geschmack; – einen Monat auf einem Fischerschiffe auszuharren, jetzt, wo wir uns plötzlich an alle die Bequemlichkeit erinnerten, die es in der Welt gebe, unter den Weißfischhäuten des Raumes zu schlafen, wo alles von Verwesung sprach und die Cholera gewissermaßen noch gefroren in sich trug, unter Bären- und Renthierfellen, unter Bergen von Lachsen und Renthierfleisch, unter Netzen und Thranfässern, – es war nicht daran zu denken. So kamen wir mit dem Capitän Voronin überein, daß er die Fischerei aufgeben, uns unverweilt nach Vardö in Norwegen bringen und ernähren solle, wofür wir ihm drei unserer Boote nebst zwei Lefaucheux-Gewehren schenkten und 1200 Silberrubel als Entschädigung garantirten.

Diese Verhandlungen waren nur im Anfang in der Cabine des Capitäns geführt worden; denn es war darin eingeheizt, ein längerer Aufenthalt uns unmöglich.

Endlich konnten wir uns wieder einmal zur langentbehrten Ruhe begeben, wir hatten nicht mehr zu befürchten, verhungern zu müssen. Abends, als ich mein Tagebuch aufschlug, fand ich die Worte: »Werden wir an diesem Tage gerettet sein, werden wir noch Alle leben?« – 15. Mai am Bord des »Tegetthoff«. Ich hatte sie aufs Gerathewohl hin auf ein leeres Blatt meines Notizbuches vorausgeschrieben, und es war seltsam, daß unsere Rettung an demselben Tage geschah, wo dieses Blatt an seine Reihe kam. Noch lange vermochte ich nicht einzuschlafen, inmitten eines Gemurmels russischer Worte, die ich mechanisch nachzusprechen suchte, und gedolmetschten Kauderwelsches lag ich, gleich meinen Gefährten, zwischen todten Lachsen da, bis ich endlich in den Schlaf verfiel, vor dessen Eintritt ich noch die Befriedigung empfand, nicht mehr rudern zu müssen.

Am nächsten Tage aber bestanden Voronin und sein getreuer Harpunier Maximin Iwanoff darauf, daß Schiffslieutenant Weyprecht und ich ihre eigene Cajüte bezögen, und weil wir ihnen nichts zu sagen wußten, als » haroscho« (хорошо, gut), so mußten wir ihren Willen erfüllen. Die Fischer versorgten das Schiff mit Wasser und holten die ausgestellten Netze herein; sie sangen dabei ihre wunderbaren russischen Volkslieder; mit der Aufmerksamkeit von Barbaren hörten wir ihnen zu, denn sie sangen entzückend schön.

Am 26. August, bei günstigem Nordostwind, verließen wir die stille kleine Bai, die uns in ihre schützenden Arme aufgenommen; mit trefflichem Fortgange durchschnitt das Schiff nach Südwesten hinab das weiße Meer. Es war die Zeit des Briefeschreibens. – Mancher hatte schon vorher, während der Bootreise damit begonnen. Am 27. und 28. August trat stürmisches Wetter aus Nordnordwest ein, der Anblick der hohen Wogenberge verkündete uns, was unser Schicksal gewesen wäre, wenn wir in unsern kleinen Booten dieses Meer hätten übersetzen müssen. Am 29. August kamen wir in die Nähe des schwarzen Caps an der Murmann'schen Küste; die letzten zweihundert Meilen legten wir im Angesicht der flachen Felsküste Lapplands zurück. Wiederholt stießen wir hier auf Schiffe, die von Archangel kamen, oder dahin gingen, – als die einzigen Wilden erschienen wir uns jetzt inmitten der Bahnen der Civilisation und des Weltverkehrs. An alle Schiffe, die wir erreichen konnten, entsandten wir unsere Abgeordneten, um Tabak oder einen Bogen Schreibpapier zu erbetteln, ohne unser Incognito zu verrathen; denn wir wollten die ersten sein, die durch den Telegraphen von uns Kunde gäben. Widrige Winde zwangen den Capitän in den folgenden Tagen, durch Kreuzen vorzudringen; Bei den Tyrolern erregte dies den Verdacht, er habe den Weg verloren und vermöge Vardö nicht zu finden. für unsere Ungeduld war diese Verzögerung ein Fegefeuer.

Rettung der Expedition durch russische Schiffe in der Dunenbai von Nowaja Semlja.

Am 3. September aber, nach achthundertzwölf Tagen, welche die Expedition gedauert hatte, näherten wir uns dem Städtchen Vardö (Vargei). Die österreichisch-ungarische Flagge wurde am Fockmast des Nikolaj gehißt; jeder that in der Eile noch das Beste für seinen Anzug, freilich bedeutete dies nicht mehr, als daß wir uns in die Pelze hüllten. So erwarteten wir, voll Aufregung auf Deck stehend, die Landung. Das Schiff lief in den Hafen ein, und um 3 Uhr Nachmittags betraten wir den Boden Norwegens mit dem Gefühle der Erlösung aus allen Drangsalen!

Während Schiffslieutenant Weyprecht Geld aufnahm, hatte ich die Besorgung unserer Telegramme übernommen. Angestarrt von den Bewohnern des Orts, unter welchen sich die Nachricht unserer Ankunft rasch verbreitet hatte, war ich nach dem Stationshause geeilt. Als die Telegramme endlich übergeben waren, erfüllte uns das Bewußtsein, daß der elektrische Funke unsere Freunde in der Ferne schon im nächsten Augenblicke zur freudigsten Aufregung entzünden würde.

Die Expedition war zu Ende; unsere Rückkehr über Hamburg nach Wien, so unvergeßlich sie uns ist, gehört nicht mehr hierher. Wohl aber mag es von Interesse sein, von den ersten Eindrücken zu erfahren, die dem Bewußtsein entsprangen, der Menschheit wiedergegeben zu sein. Nicht in der Heimat selbst, wie wir einst gehofft, waren wir rückkehrend gelandet. Fremde Erde war es, die den Geretteten das erste Obdach bot, – allein es war die Erde des gastlichen, alten Norwegen! Bald nach der Landung hatte uns die Bevölkerung des Städtchens Vardö umringt; als hilfreiche Freunde kamen sie unsern Wünschen entgegen. Sie brachten uns kleine Bücher gedruckter Briefe Durch das Comité der Expedition waren dieselben gesammelt und in die norwegischen Hafenplätze mit der Bestimmung vertheilt worden, dafür zu sorgen, daß diese Nachrichten nach Thunlichkeit durch Eismeerfischer u. dgl., oder bei unserer Rückkehr sofort in unsere Hände gelangten. unserer Angehörigen, frohe Botschaft für den Einen, Todesnachrichten für den Andern. Dann gingen wir nach den für uns ausgewählten Wohnungen, zwischen Gruppen von Menschen hindurch, die, waren sie gleich durch Neugier versammelt, achtungsvoll die Häupter entblößten, uns zu begrüßen. Nur einige Lappen zeigten sich ungestüm, sie folgten Doctor Kepes, er allein fand ihren Beifall, als sie ihn ein ungarisches Telegramm dem Stationsbeamten vorlesen hörten.

Wir hatten unsere Wohnungen betreten, einen jahrelang unerfüllbaren Wunsch erreicht: zum ersten Male wieder waren wir allein! Allein und mit dem Gefühle der Rettung, frei von allen Sorgen und Wünschen, nur erfüllt von dem Alles beherrschenden Gefühle des Glücks! Doch jeder Blick erinnerte uns hier auch an Bedürfnisse, welche eine höhere Lebensordnung erzeugt, als diejenige, an welche wir seit Langem gewohnt waren. Es war dies eine unwillkürliche Aufforderung, die Mangelhaftigkeit der äußern Form abzuändern, in der wir nicht länger verweilen konnten. Unsere Stiefel waren von den Sohlen befreit, das Aussehen von Pelzen Ein Jahr nachher wagte ich es einmal, meine damals getragenen Kleider aus einem Versteck hervorzuziehen, doch nur um sie wieder desto sicherer zu verbergen. u. dgl. sprach den Zustand einer Vergänglichkeit aus, bei dem unbekümmert zu bleiben, standhaftere Philosophen als wir gescheitert wären. Bart und Haar waren arg vernachlässigt, unsere Hände verriethen schwere Arbeit; wir waren höchstens für Samojeden noch hinreichend anstandsvoll. Und dennoch hatte uns der deutsche Consul Brodkorb noch an demselben Abend zur Tafel geladen; Damen sollten dabei erscheinen! Nur Wenigen war es gegönnt, noch an demselben Tage dringend nöthige Veränderungen an ihrer Kleidung vorzunehmen, die Uebrigen (die Officiere) erschienen dürftig, wie sie das Eismeer entlassen, in den Salons unseres Gastfreundes; nicht mehr von Thran, sondern von Kerzen beleuchtet, von jedem Spiegel vorwurfsvoll vervielfältigt. Mit durch Entbehrung geschärften Sinnen und der raschen Beobachtungsgabe der Wilden hatten wir, freudig erregt, die geringsten Merkmale einer höhern Schöpfung begrüßt, hier aber offenbarte sich uns, neben allen Genüssen des Reichthums, das Dasein von Frauen! Es waren liebenswürdige Frauen; als sie sahen, wie sehr wir, bei gesteigertem Redefluß unter den vielfältigen Angriffen eines geheizten Zimmers, der Pelze, des Weins und einer trefflichen Tafel durch die Hitze litten, bestanden sie darauf, daß wir uns unserer Felle entledigten. Unser vornehmster Schmuck bestand dann nur mehr in jener Wollwäsche, die wir am 20. Mai angezogen hatten! Mit Rührung sahen unsere Nachbarinnen alle Zeichen einer Freude, in welcher sich die Erinnerung an vergangene Mühen aussprach, unser Entzücken über ein Glas reinen Wassers, hörten die jedem neuen Gerichte dargebrachten Ausrufe, die verdammenden Vergleiche, welche sich auf die Fluthen überstandener Erbswurst- und Seehundssuppen bezogen, die Dringlichkeit Aller, zu gleicher Zeit zu sprechen und mit sanfter Duldung gewahrten sie, wie der Geist der Sorglosen dabei immer mehr dem Wein zum Opfer fiel. Nur der alte Carlsen, härter heimgesucht durch die Anstrengungen der letzten Monate als alle Uebrigen, war andern Sinnes. Im Ueberfluß blieb er enthaltsam, und wie der wackere, geprüfte Eisfahrer sich erhob, der ewigen Vorsehung zu gedenken, die uns so wunderbar in ihren Schutz genommen, da war es nur die Offenbarung einer Stimme, die in allen von uns lebte, vom Alter aber am würdigsten verkündet wurde!

Im Raum des Nikolaj.

Wir schliefen an diesem Tag zum ersten Male wieder in Betten mit reiner Wäsche, – allein vor Aufregung schlechter, als zur Zeit, da unsere Armuth uns noch zwang, ein Paar Reservestrümpfe als Matratze zu benützen. Am folgenden Tage beeilten wir uns, die dringendsten Verbesserungen in unserm Aeußern vorzunehmen; sie konnten nicht lobenswerther eröffnet werden, als mit einem Dampfbad. Dann ging es an das Kleiderkaufen, und nach einigen Stunden fanden sich in Vardö nur wenig besser Gekleidete, als die österreichisch-ungarischen Nordpolfahrer. Auch die Mannschaft war verändert, Lukinovich trug eine Sammthose, nach seinen Begriffen ein Zeichen höchster Pracht, Marola sogar einen Regenschirm. Nur Klotz blieb conservativ; bis Hamburg war alle Mühe verschwendet, ihn zu bewegen, daß er der eingetretenen Veränderung irgend ein Zugeständniß mache; würdevoll einherschreitend, sah er mit Geringschätzung auf die zunehmende Verwandlung seiner Gefährten.

Mittags betraten wir den Nikolaj, uns von den heimkehrenden Russen zu verabschieden. Alles entbehrliche Gut, einige Gewehre, Patronen, alte Stiefel, blecherne Töpfe, eine Gummiflasche, eiserne Löffel u. dgl. überreichten wir ihnen als Geschenke. Die Russen zogen sich zurück, um sich unter einander zu berathen. Als sie wieder erschienen, breiteten sie die von ihnen erbeuteten Eisbärenfelle, ihre Gegengeschenke, aus; dankend und voll Ergebenheit ergriffen sie die Hände der Bedürftigen, welche sie kurz vorher gerettet hatten. Diese Felle waren der kostbarste Theil ihres Sommererwerbs; die Uebergabe derselben geschah unter dem Impuls einer Herzensgüte, welche nur der Nationalität der Spender zuzuschreiben war, aber weder ihrer Religion, noch ihrer Erziehung. Woronin ausgenommen, hatte gewiß keiner unserer Befreier jemals einen andern Unterricht genossen, als den der Altgläubigen, dessen starre Formen ihnen vorschrieben, alles Geräth, dessen wir uns an Bord des Nikolaj beim Essen bedient, nie wieder zu benützen. Nicht minder unermüdlich waren unsere norwegischen Freunde in dem Wunsche, uns zufrieden zu stellen; keine Hausthür Vardö's war ohne Einladung zu passiren, vergeblich beriefen wir uns darauf, daß unsere bisherigen Gebräuche uns verböten, etwas anderes als Wasser zu trinken.

Der von Vardö nach Hamburg zurückkehrende Postdampfer »Finmarken« war inzwischen angekommen. Er entriß uns (5. September Mittags) den Vardöer Gelagen und brachte uns nach Tromsö. Hier gab die Expedition den trefflichen Carlsen seiner Heimat zurück. An Bord des »Tegetthoff« hatte er so viele neue Sprachen gelernt, daß seine Angehörigen Mühe fanden, sich mit ihm zu verständigen. Carlsen hatte einst zu Jenen gehört, welche unsere Rückkehr durch die Behringsstraße gehofft hatten. Er bildete ein rührendes Beispiel von der Hinfälligkeit menschlicher Entwürfe, denn außer den vorgenannten linguistischen Errungenschaften Von seinem schwer errungenen Sold natürlich abgesehen. gab es nur noch drei, mit denen der alte Nordlandsfahrer ans Land stieg, – seinen stets geschonten weißen Renthierpelz, seine Perrücke und seine treue Walroßlanze!

Mit der Überschreitung des Polarkreises schließt dieser Bericht von selbst ab. Nur das Verlangen brannte in uns, die Heimat so rasch als möglich wiederzusehen. Noch hatten wir keine Ahnung davon, daß unsere Rückkehr eine Manifestation zur Ehre der Wissenschaft hervorrufen werde, an welcher die gesammte gebildete Welt theilnahm. Die Huld des Monarchen, die spontane Begeisterung, mit welcher man den Erfolg der Expedition, die liebevolle Theilnahme, mit der man unsere Rettung begrüßte, die Reihenfolge der höchsten Auszeichnungen, welche den Mitgliedern des Unternehmens zu Theil wurden, haben sich unsern Herzen unauslöschlich eingeprägt. Wir empfanden, daß wir weit über unser Verdienst gewürdigt, das höchste erreicht hatten, was die Erde zu bieten vermag: die Anerkennung unserer Mitbürger.

– Und nun sei noch eine Frage berührt, deren Beantwortung für die objective Beurtheilung eines Polarwerkes unerläßlich ist. Unwillkürlich mag sich dem Leser die Frage aufdrängen, welcher Art die wissenschaftlichen Resultate der Expedition waren und ob sie in geziemendem Verhältnisse zu so vielen Anstrengungen standen. Das Vorangegangene wird ihm gezeigt haben, daß wir mit einer zweckdienlichen Theilung der Arbeit versuchten, die physikalische und geographische Kenntniß der arktischen Region zu erweitern. Wenn wir in Verfolgung dieses Zieles nicht so glücklich waren, als wir es wünschten, so lag dies an der Thatsache, daß die innersten Polargebiete dem Forscher ein ungleich beschränkteres Feld wissenschaftlicher Erfolge bieten, als die Tropen. Die Ausbeute des Botanikers und des Zoologen ist naturgemäß gering, für Letzteren gehört sie mehr der See als dem Lande an. Was in physikalischer und geographischer Hinsicht geleistet werden konnte, habe ich im Wesentlichen angeführt; – allerdings nur die gewonnenen Resultate, die Beobachtungsreihen, speciell für magnetische und meteorologische Untersuchungen, welche ihnen vorangehen mußten, werden der Gegenstand einer besondern Publication der Herren Weyprecht, Brosch und Orel sein. Die Gerechtigkeit macht es mir am Schlusse dieser Expeditionsschilderung zur Aufgabe, nochmals auszusprechen, daß jene Untersuchungen Ergebnisse enthalten, welche, obgleich hier mit wenigen Worten ausgedrückt, dennoch jahrelanger aufopfernder Thätigkeit bedurften. Was die Entdeckung eines bisher unbekannten Landes anbelangt, so lege ich persönlich heute keinen Werth mehr darauf. Der Glaube an diesen Werth war jedoch unerläßlich, um die Erforschung des Landes zu ermöglichen. Solche Erkenntnisse können den Nachfolger auf dem verlassenen Wege nicht abschrecken, seine Kräfte an der Lösung eines so vielseitigen Problems zu versuchen, wie es das Studium der Polarregion ist; jeder Weg, jede Methode wird der Wissenschaft dienen und seien die Errungenschaften des Einzelnen auch noch so klein. Schiffslieutenant Weyprecht z. B. hat einen wichtigen Schritt gethan, indem er vorschlug, meteorologische Stationen in höhern Breiten zu errichten; aber selbst eigentliche Nordpolexpeditionen, werden sie künftig entsendet, folgen nur dem unabweisbaren Verlangen der Menschheit, zu erfahren, welches die Beschaffenheit des höchsten Nordens ist.


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