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Dämmerung im November. – Ueberwinterungs-Vorbereitungen. – Temperatur des November. – Ungleiche Salzausscheidung des Jungeises. – Zunehmende Dunkelheit. – Fortgesetzte Eispressungen. – Nächtliche Streifzüge mit den Hunden im Eise. – December. – Eispressungen. – Rapide Eisbildung. – Wetter. – Mit Jungeis bedeckte Wacken im Mondlicht. – Bärenjagd. – Ein Fuchs. – Finsternis. – Mitte der Winternacht. – Ihr moralischer Eindruck. – Das Weihnachtsfest. – Neujahr 1873.
Hinabgesunken war der ewige Lichtquell, aus Schatten wallte ein Schleier nieder über Luft und Eis. Noch schimmerten glühend umsäumte Schäfchen in gelbem Halbkreis über dem Horizont, schwebten zagend durch den Raum, lange Wolkenarme griffen bis zum stahlblauen Zenith hinauf. Bald brach die lange Nacht an, nur ein scharfer Schnitt mehr trennte die düstere Erdscheibe von der dämmernden Unendlichkeit.
Schon Anfangs November umgab uns diese tiefe Dämmerung; magische Schönheit verklärte unsere Einöde, das frostige Weiß der Takelage des Schiffes zeichnete sich gespenstig ab von dem graublauen Himmel. Das tausendfach gebrochene Eis mit seiner schneeigen Hülle hatte die Reinheit und das kalte Aussehen des Alabasters, die zarte Schattirung von Eisenblüthe angenommen. Nur gegen Süden sah man Mittags noch violette Schleier des Frostdampfes in das Carminsegment des Himmels emporsteigen, aus neuentstandenen Sprüngen und Wacken anscheinend kochenden Wassers.
Alle Vorbereitungen für die Ueberwinterung waren bereits getroffen. Schiffslieutenant Weyprecht hatte die Marsstengen zur Verminderung des Winddruckes abnehmen lassen; nur einige Segel blieben angeschlagen, damit das Schiff im Fall eines unerwarteten Freiwerdens nicht völlig der freien Bewegung entbehre. Das Zeltdach über Deck konnte leider nur für den Vordertheil des Schiffes gesetzt werden; denn der unausgesetzte Bereitschaftszustand nöthigte uns, seinen Achtertheil unbedeckt zu lassen; hier lag auch alles Rettungsmaterial: Proviant, Munition, Zelte, Schlitten etc. in vollkommener Ordnung. Das Schiff wurde mit einem mächtigen Wall von Schnee und Eis umringt, und dieser immer wieder ausgebessert, so oft ihn später auch Pressungen zerstörten. Die Schneefälle überschütteten das Deck nach und nach mit einer mächtigen Hülle und trugen somit ebenfalls zu dem Zwecke bei, die Eigenwärme des Schiffes durch eine nichtleitende Bekleidung möglichst zu erhalten. Unsere Entfernung vom Lande hinderte, das Deck mit einer Sandschichte zu belegen, was der Schmelzung des aufliegenden Schnees durch die Schiffswärme vorgebeugt hätte.
Die Temperatur des November stieg nur einmal, und zwar in seiner Mitte, beträchtlich; sonst erhielt sie sich ziemlich gleichmäßig unter -20° R. und erreichte am 20. November in fast -29° R. ihr Minimum. Winde, woher sie auch wehen mochten, brachten stets eine Steigerung der Temperatur, indem sie den Ausgleich mit der wärmeren Luft über den offenen Meeresstellen herbeiführten; nur Windstille zog rapide Steigerung der Kälte nach sich. Wind, vermehrtes Treiben, Pressungen, sowie das Entstehen neuer Spalten und Wacken im Eise standen in einem natürlichen Zusammenhang. Fast augenblicklich schlossen sich diese Oeffnungen wieder durch Jungeis, welches, bei geringer Kälte gefrierend, eine glatte Fläche bot, bei tiefer Temperatur seinen Salzgehalt jedoch in einer zollhohen und zähen nassen Schichte an der Oberfläche ausschied. Dadurch wurde diese für Schlitten schwer fahrbar und selbst das Gehen erschwert; erst bei längerer Einwirkung einer Temperatur von mindestens -16° bis -20° R. gefror auch diese Schichte salzigen Schnees.
Das unausgesetzte Zerreißen der polaren Eisdecke und ihre sofortige Wiedervereinigung ist die Hauptursache ihres Anwachsens, zugleich die Veranlassung der Mäßigung des Frostes. Je mehr Sprünge und daher auch Eis sich bildet, desto mehr vermag die höhere Temperatur des Meeres die Kälte zu mäßigen.
Dunkle Nächte erfüllten den Anfang dieses Monats; denn der Mond besaß zur Zeit eine südliche Declination, nur feurige Meteore und das Nordlicht brachten uns die vorübergehende Pracht ihres Lichtes. Obgleich klares Wetter den Morgen noch deutlich von der Nacht schied, so erreichte die Dunkelheit doch selbst Mittags einen solchen Grad, daß die eisigen Nebel nicht mehr sichtbar, sondern nur mehr fühlbar waren, daß es nicht möglich war, ohne Laternenlicht die oberflächlichste Skizze im Freien zu machen, oder ein Gewehr zielend in Anschlag zu bringen. Weder das Absehen, noch die Mücke desselben konnte man erkennen; Bären gegenüber war man daher selbst des Schusses aus unmittelbarer Nähe nicht sicher.
Am 17. November Abends kam ein Bär über Jungeis von erst vierundzwanzigstündiger Bildung zum Schiffe; wir hörten ihn auf etwa fünfzehn Schritte Entfernung brummen und schossen nach ihm, doch ohne zu treffen. Keine Entfernung von den Küsten scheint diesen Thieren, wenn sie hungrig sind, zu groß zu sein, um Beute aufzusuchen. Am 19. November Morgens stürzte eine Rotte Bewaffneter auf einen schwarzen bewegungslosen, etwa hundert Schritte vom Schiffe entfernten Fleck los, in dem man endlich eine dunklere Gruppe des Eises erkannte.
Am 10. November war die Lichtentwicklung des abnehmenden Mondes und ihr Reflex auf dem Schnee noch immer groß genug, um sogar das Lesen kleineren Drucks zu ermöglichen Z. B. Tschudi's Anmerkungen.; doch als er sich etwas verschleierte, wurde es wieder so finster, daß Sumbu, der sich auf den Eishöckern umhertrieb, für einen Fuchs gehalten, gejagt und ohne mein Hinzukommen sicher erlegt worden wäre.
In den ersten Tagen Novembers hatten zahlreiche Schneefälle die klippige Schärfe der umgebenden Eismassen etwas ausgeglichen; ohne neue Störung durch die Bewegungen der Letzteren waren sie vergangen. Wie unser Sicherheitsgefühl dadurch wuchs, erwachten auch unsere Hoffnungen aufs neue, unzerstörbar selbst dann noch, als die Tage der Aufregungen wiederkehrten. Wieder zersprangen die gepreßten Felder; Sprünge öffneten sich und leuchteten im Mondlicht gleich silbernen Flüssen. Zu zitternden Bergen emporgepreßt, starrte ringsum das Eis, unheimlich im Anblick seiner bis fünfzig Fuß hohen wandelnden Gerüste; schritt man über die Eisdecke dahin, so hörte man selbst zur Zeit sogenannter Ruhe ihr Stöhnen, Zittern und Aechzen. Insbesondere beunruhigend verlief die Nacht vom 20.-21. November, in welcher den Vordersteven ein Trümmerberg angriff, der unter furchtbarem Getöse unaufhaltsam vordringend, das Schiff zu begraben drohte. Klafterweit und den Hohlraum eines Schiffsmodells bildend, hatte sich der Eiswall von dem Vordertheil unseres Fahrzeuges abgelöst. Schweigend, mit dem Gefühle der Hilflosigkeit, standen wir vor dem Ungeheuer aus klirrenden Eistafeln und starrten das Schauspiel au, wie der näherkommende Koloß das schwerste Eis zersplitterte, dessen furchtbares Prasseln in dem nur wenig entfernten Schiffe wiederhallte, – als ein gütiges Geschick seine Bahn beendete. Die Mannschaft erhielt noch Nachts einen Grog, um den düstern Eindruck dieser Scene zu verwischen, deren besondere Gefahr darin lag, daß das Schiff in seiner Längenaxe bedroht gewesen, also in der Richtung seiner geringsten Widerstandsfähigkeit. Einer schweren Pressung ausgesetzt, konnte es, im Hinblick auf seine Neigung nach vorne, nicht gehoben, sondern nur zerdrückt werden.
Geistige Beschäftigung ausgenommen, gab es fast keine andere Anregung mehr, als kleine Streifzüge eine Seemeile weit mit sämmtlichen Hunden über das gethürmte Eis. Mit zwei kleinen Schlitten zogen wir gewöhnlich aus, und schien der Mond nicht, die Gewehre schußbereit in der Hand; denn die Finsterniß und der gänzliche Mangel ebener Flächen legten die größte Vorsicht gegen Bären auf. Fuhr ich allein mit den Hunden aus, behielt ich sogar den Hahn des Gewehres gespannt. Eine geringe Entfernung genügte, um nichts mehr vom Schiffe zu sehen; nur die genaue Beachtung unserer Fußstapfen im Schnee gestattete, sich zu orientiren und den Rückweg zu erkennen. Solche Ausflüge hatten aber noch eine andere Gefahr – die des Abgeschnittenwerdens durch die Trennung der treibenden Schollen. In wilder Hast über das prasselnde, unter den Füßen federnde Eis hinweg eilten die Gespanne über ausgedehnte Wacken jungen Eises, wenn es der vorrückende Wall der Aufeinanderthürmung dröhnend aufrollte. Auch die Hunde waren sich der Unsicherheit junger Eisbahnen bewußt; nur voll Scheu und gezwungen betraten sie diese. Schon ihrer nassen Salzschichte wegen waren sie ihnen verhaßt, und es bestand eine schlaue Uebereinkunft unter ihnen, so oft als möglich dieser Zumuthung zu entrinnen, in das Innere des Kohlenhauses zu flüchten und dort alle Zugstränge unlösbar zu verwirren.
Der December kam, doch ohne die Lage zu verändern. Immer einsamer ward unser Leben, – es gab keinen sinnlich wahrnehmbaren Wechsel der Tage mehr, nur die Aufeinanderfolge des Datums und eine einzige Unterscheidung der Zeit, die vor und nach dem Essen und die des Schlafes.
Bloß das Eis theilte die allgemeine Ruhe und Erstarrung nicht. Unermüdlich war es in seinen Drohungen; kein Tag verlief ohne Bewegungen. Mein Journal nennt den 1., 8., 9., 19., 20., 21., 24., 26., 28., 29., 30. und 31. December als Tage besonderer Beunruhigungen. Am 20. besprachen wir während des Mittagmahles die bevorstehende Feier des Weihnachtsfestes im Kohlenhause, als uns eine Eispressung überraschte; ins Freie eilend fanden wir, daß dieses durch das Aufbrechen der Scholle eben eingestürzt sei. Hastig suchten wir soviel als möglich von dem ausgesetzten Material zu retten und schafften es in die Nähe des Schiffes. Anhaltende Kälte verband das zertrümmerte Eis immer wieder für die kurzen Fristen der Ruhe; wie rasch sich die Eisdecken bildeten, zeigte eine Stelle, welche vom 30. October bis 20. December die Dicke von vierunddreißig Zoll erreichte.
Die täglichen Temperatursminima des December erhielten sich constant unter -26° R.; das Monatsmittel selbst betrug -24° R. und sein Kälteextrem erreichte -29° R. (26. December). Nur wenige Tage vor Weihnachten stieg die Temperatur etwas unter -20° R. Bemerkenswerth ist es, daß die tieferen Temperaturen den vorherrschenden Südostwinden angehörten, während sie durch nördliche Winde erhöht wurden.
Als der Mond Mitte December wiederkehrte, erstreckten sich unsere Ausflüge sogar bis anderthalb Seemeilen vom Schiffe weg, durch tiefen Schnee über Eiswälle bis zur flimmernden Schneefläche ausgedehnter Wacken, welche der Frost erst kurz vorher überbrückt hatte. Die einsame Schönheit solcher Wacken mit dem dunklen Saum der Toroßy in der Ferne und im hellen Lichte des silberweißen Mondes gewährte unbeschreiblich schwermüthige Bilder; hier war Alles todt und starr, – nur nicht, wenn des Eises Riesenleib seine Glieder dehnte. Die Diamantblitze des Frostes flimmerten im Umkreise; schwand aber des Mondes Schein, so bestand unsere Welt aus nichts als Wind, Schnee, Finsterniß und Kälte.
Am 11. December waren wir von einem dieser Ausflüge nach dem Schiffe zurückgekehrt und hatten die Hunde ausgespannt, als Sumbu bellend auf uns zukam, dicht hinter ihm ein Bär. Fünf Schritte vom Fallreep backbord erlegte ihn Er war nur 5¼ Fuß lang, hatte einen schönen Winterpelz und nichts im Magen. Schiffsfähnrich Orel. Er wurde sogleich auf dem Eise zerlegt, wobei die Hunde mit großer Aufmerksamkeit zusahen. Sumbu aber wurde für seine Wachsamkeit nicht nur schmeichelhaft mit den kapitolinischen Gänsen verglichen, er erhielt auch ein Festmahl, Herz und Zunge des Bären, – noch hatten wir nicht gelernt, beide selbst zu verzehren. Dagegen zog er sich unser ernstes Mißfallen zu, als er am 18. December einen Fuchs verscheuchte, der sich bis in die unmittelbare Nähe des Schiffes gewagt hatte. Wenn nicht eben der Mond schien, war es jetzt auch am Tage völlig finster. Nur an sehr hellen Mittagen (14. December) erblickte man im Süden noch ein zartes Orange. Als drei bis vier Grad hohes Lichtsegment war es grünlich umsäumt, scharf vom dunklen Himmel, noch schärfer vom Horizont begrenzt. Ein eigenthümlich gebrochenes Zwielicht herrschte, wenn der Mond diesem Dämmerungsbogen gegenüber hoch am Himmel stand.
Sonst war die mittägige Dämmerung allein unvermögend, eine wesentliche Unterscheidung zwischen Tag und Nacht zu ermöglichen. Der Himmel blieb gewöhnlich verhüllt; das Nordlicht bot selbst in den wenigen Minuten seiner intensivsten Entwicklung selten mehr, als die Leuchtkraft des Mondes im ersten Viertel. Wie tief aber müßte die Nacht der inneren Polargebiete besonders über dem Lande sein, wäre dieses anstatt mit der leuchtenden Schneehülle, mit Wäldern und Fluren bedeckt! Am 20. December vermochte man selbst um zwölf Uhr Mittags nur noch die größten Büchertitel (Afraja) zu lesen; sogar in der Nähe von zwei Schritten waren die Augen eines Menschen unsichtbar, auf fünfzig Schritte Entfernung nur noch die stärksten Taue des Schiffes schwach zu erkennen.
Mächtig ist der Eindruck der langen Polarnacht auf das Gemüth; der Lichtkreis einer Lampe ist für den Menschen dann die ganze Welt. Nicht die Nacht allem ist es, die den Kreis seines Handelns so eng begrenzt, sondern auch Kälte und Stürme; namentlich letztere, die ihn zwingen, die Finsterniß in seinen Wohnräumen auch dann noch künstlich zu erhalten, wenn die wiederkehrende Sonne, ja selbst die vorangegangene Dämmerung kein Hinderniß mehr abgäbe, die Schiffseinhüllung abzunehmen und seine Thätigkeit im Freien zu beginnen.
Keine Gewohnheit söhnt den Kulturmenschen mit der dunklen Einöde aus; ewig fühlt er sich Fremdling in einem Klima, gegen das er ohne Unterlaß zu kämpfen hat, und welches nur wenigen Thieren und solchen Menschen eine Heimat ist, die, ihr Dasein unter Essen und Schlafen verbringend, die Erinnerung an eine bessere Existenz nicht kennen. Verachtung der Kälte und die Gewöhnung an Entbehrungen sind nur Stützen der physischen Gegenwehr. Die wahre Gegenwehr liegt in unablässiger Arbeit. Keine andere Lage des Daseins, als das Leben eines Gefangenen, ruft diese Notwendigkeit in gleicher Weise hervor und gewährt so viele Gelegenheit zur Selbsterkenntniß. Den moralischen Eindruck dieser langen Nacht steigerte für uns noch die Vorstellung, daß uns das Unbekannte umringte, in dessen Gebiet wir gewissermaßen mit verbundenen Augen eindrangen.
Ohne äußere Störung führte ein solcher Zustand der Isolirung, in Verbindung mit ununterbrochener geistiger Beschäftigung, zu glücklicher Vergessenheit einer an sich freudlosen Gegenwart, doch nur so lange keine Unterbrechung stattfand. Der Gegensatz der beiden Winter, die wir an Bord des »Tegetthoff« verlebten, der Gegensatz zwischen Hoffnungslosigkeit und Zuversicht, veranlaßt durch unsere äußere Lage, fand daher den treuesten Spiegel in unserem Innern. Und schrecklich war dieser erste Winter, nicht durch seine Gefahren, oder durch die Last sonnenloser Tage, – sondern durch seine moralischen Beschwerden, die Entbehrung eines Zieles und der ihm entsprechenden Thätigkeit. Von den dabei empfundenen Stimmungen gibt, wenigstens was mich betrifft, nachfolgende Stelle meines Tagebuches Zeugniß.
»Ohne Aufregung constatiren wir im Süden das Gesetz, daß sich die Intensität der Strahlen verhält, wie der Sinus der Winkel, den sie mit der Oberfläche eines Gegenstandes bilden; wie bitter aber empfindet man im hohen Norden diese Wahrheit. Enger wird für uns mit jedem Tage der Kreis des Sehens und der Bewegung, immer fahler das Antlitz der Natur. Keine Lichter erblühen mehr auf den Seen der eisigen Wildniß, thränenlos starren ihre tausend Augen empor; denn nicht mehr schmilzt der Sonnenblick ihren starren Bann, immer klarer selbst am Tage werden die Sterne.
»Die Vögel sind fort, schlafwandelnd irrt der Bär umher; selbst Eisberge frieren ein, stehen stille, als fänden sie ihre Bahn nicht mehr. Hierhin und dorthin wehen rauhe Lüfte, sie tragen die ächzenden Eistafeln zu räthselhaften Irrgängen. Nebel rauchen aus den schwarzen Meeresspalten auf; noch düsterer wird es, wilde Wetter rasen, heulende Schneestürme, die Einöde klafterhoch überschüttend mit der weißen Fluth, tragen das Geschrei von Harpyenschaaren durch die Luft. Alle Glieder des Eises schließen sich in der wachsenden Kälte, zuletzt lastet eine einzige ungeheure Phalanx rings um den unnahbaren Pol. Noch bis Anfang December währt Mittags kurze Dämmerung und ein zartes Rosa dicht am Eissaume unter ihrem Bogen, mehr geahnt als gesehen. Doch schon nach einer kurzen Stunde erlöschen alle Lichter, und wesenlos lagert eine schwarze Scheibe unter dem düsteren Himmel. Während des langen nun folgenden Schattenreichs lebt der Polarfahrer in der Wiederkehr eines natürlichen Kalenders.
»Das Verschwinden der Sonne, das wochenlange Verweilen des Mondes über dem Horizonte, die Wanderungen der Zugvögel, Robben und Thiere des Landes sind ihm Meilensteine auf dem Weg einer Nacht, der endlos scheint, wie jener Sibiriens. Unter künstlichen Bedürfnissen unbeachtet, verschwinden solche Wandlungen an anderen Orten, nur nicht im landfernen Eismeere.
»Der 21. December ist da, die Mitte der langen Nacht. Es ist Mittag, und obgleich nichts lichter sein kann, als die ursprüngliche Farbe unserer Umgebung, des Schnees, so ist es doch finster, fast wie um Mitternacht.
»Nichts als ein blaßgelber Dämmerschein schwebt im Süden; elf Grad vierzig Minuten ist die Sonne hinabgesunken, und nur von einem 18? deutsche Meilen hohen Berge aus vermöchten wir sie zu erblicken. Wir sehen nichts mehr, weder Bären noch Menschen, – bloß hören können wir die Tritte der Nahenden. Aber auch das Schiff – längst kein Schiff mehr – sehen wir nicht, außer in seinem unmittelbaren Umkreise, auch dann nur in verschwommenem Umriß. Nur die Räthsel des Himmels führen noch ihre erhabene Sprache. Flimmernd über der frosterfüllten Leere wölbt sich der unermeßliche Himmelsdom, farbige Lampen hängen an ihm nieder an unsichtbaren kosmischen Gesetzen; wie ruhelose Geister irren die Sternschnuppen durch den Raum, und geräuschlos ändern die Sternbilder ihre Lage. Sie sinken unter die schwarzen Eisgruppen des Horizonts hinab, neue tauchen auf, und ihr Lächeln zittert ununterbrochen in dem Kreislauf einer hundertneuntägigen Nacht. Und dies ist Alles, Alles! Willenlos treiben wir auf unbekannten Pfaden da- und dorthin, – nirgends entrinnen wir den Banden der Erstarrung. Einer Scholle sind wir preisgegeben, der Zufall leitet und mißleitet sie, jeder Lufthauch trägt uns weiter fort in das stille Reich des Todes.
»Wohl erheben ein bestimmtes Ziel und die Hoffnung den Menschen über Mühsale aller Art. Aber schwer fühlt man eine freiwillige Verbannung vom Leben, wenn sie zum werthlosen Opfer wird, – ein unerbittliches »Nein« jede Zuversicht bannt und nur der tägliche Kampf der Selbsterhaltung uns Bestimmung ist, bis ein Zufall die Launen des Schicksals ändert. Der Zufall ist unergründlich; aber da wir ihn ergründen wollen, so erwarten wir von ihm die Befreiung des Schiffes im nächsten Sommer und die Erreichung Sibiriens. Sibirien, eine Hoffnung!
»Und dennoch, wie schwanken Empfindungen schon durch die Unterbrechung des Einerlei! Der Mond ist aufgegangen, es gibt keine Finsterniß mehr! Im Norden ist der Mond ein Ereigniß, das Leben, Alles – weil das einzige sinnliche Band, das uns noch an die ferne Heimat knüpft; denn hier widersteht des Winters starrer Leib der Jahre ewig erneuten Jugend, an seinen erfrornen Gliedern erstirbt die letzte Welle, welche die Sonne, der Wind, das Meer, der Schiffer herübertragen von der Grenze des Lebens. Und wie des Mondes Schimmer fällt auf die nichtigsten Gebilde aus Schnee und des Frostes Diamanten erblitzen in seinem Licht, so ergreift er auch den Geist des Menschen. Als wiedergekehrter Freund und wachender Genius blickt er herab; beredt und doch so schweigsam, strahlenreich und doch in starrer Ruhe dahinziehend, entrollt er eine ununterbrochene Reihe zaubervoller Bilder. Für die Dauer zweier Wochen ist er emporgestiegen über den Horizont, zuerst als blutig rothe Scheibe und in unsicheren Formen wechselnd – jetzt am Eissaume stehend wie ein glühender Pocal, dann abspringend als Ellipse Erscheinungen der Strahlenbrechung. und erblassend in der reinen Nacht, indem er höher klimmt – der klare, silberhelle Vollmond.«
Weihnachten war gekommen, die Zeit, wo in der fernen Heimat Tannenschaaren ihre schneebelasteten Fächer tragen, und mit diesem Feste, wie überall, die Erinnerung an die Tage der Jugend, der Familie und an die abwesenden Freunde. Nur vorübergehend beunruhigte uns Mittags eine Pressung des Eises. Ein ausgewählt köstliches Mahl vereinte uns sowohl am heiligen Abend als auch am Christtage; jeder Bewohner der Cajüte erhielt eine ganze Flasche wirklichen Weines. Carlsen und Lusina waren unsere Gäste. Die Mannschaft erhielt eine halbe Flasche wirklichen, nebst einer Viertelflasche künstlichen Weines, außerdem einen Grog von solcher Milde, daß ihn jeder Säugling hätte trinken können. Stockfisch, ein langaufgesparter Bärenbraten, Nüsse u.dgl. trugen als seltene Gaben in ihrer Weise dazu bei, die Fröhlichkeit zu erhöhen, welche an diesem Tage selbst den Dürftigsten belebt. Auch die sonst unersättlichen Hunde wurden diesmal satt, so daß sie das Gebotene zuletzt hinaustrugen und im Schnee verscharrten. Eine Kiste mitgenommener Geschenke ward verlost, große Freude erfüllte jene, die eine Flasche Rum oder einige Cigarren gewannen.
Die zweite Periode der Winternacht, wenngleich der Wiederkehr der Sonne näher gerückt, verläuft dennoch bei jeder Expedition noch weit träger als die erste, die bis zum Weihnachtsfeste gerechnet wird. Nur der Sylvester-Abend und Neujahrstag sind gewissermaßen noch Ereignisse in dem gleichmäßigen Einerlei.
Kein Anlaß befriedigenden Rückblicks war für uns der letzte Tag des Jahres 1872; nur an Enttäuschungen reich war sein Verlauf. Voll bitterer Ironie fiel jeder Vergleich aus zwischen der Wirklichkeit und den gehegten Erwartungen. Mittags am letzten Tage des Jahres scheuchte uns eine vorübergehende Eispressung auf, und wir eilten auf Deck, um unsere gewöhnlichen Vorbereitungen zu treffen. Ungestört jedoch verlief der Abend, und in heiterer Geselligkeit erwarteten wir die erste Stunde des neuen Jahres. Mit einer Flasche Champagner, die wir von zweien noch besaßen, wollten wir seinen Eintritt mit jenen Hoffnungen begrüßen, womit man jeder Wendung im Leben begegnet.
Der Tiroler Klotz war beauftragt, diese Flasche in dem großen Eisgefäße außerhalb des Schiffs einzukühlen. Allein er setzte sie vier Stunden lang einer Temperatur von -23° R. aus, und als er sie hereinbrachte, war sie zersprungen und völlig gefroren. Mitternachts brachte uns die Mannschaft ein Ständchen; dann zogen wir aus, umgingen das Schiff, seine flimmernden Taue erglühten in der schwarzblauen Nacht im Lichte unserer getheerten Fackeln. Ein leuchtender Saum umgab die Frosthülle der pelzgekleideten Männer; grell fiel der rothgelbe Schein auf das gethürmte Eis, dessen Zerklüftung uns verkündete, daß seine Gewaltthaten nur einen kurzen Stillstand kannten.
Wieder wurde unserer Hunde gedacht; einzeln durften sie in die Cajüte hinabsteigen, das beständige Ziel ihrer Sehnsucht. Die armen Thiere waren beim Anblick unserer Lampensonne so geblendet, daß sie diese für die wirkliche Sonne halten mochten. Bald aber war ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Fülle köstlicher Ueberreste des Mahles gerichtet, und dieser Anblick schien ihre Vorstellungen von den Wundern der Cajüte vollständig zu befriedigen. Jeder Hund betrug sich bescheiden und zog sich ruhig wieder zurück; nur Jubinal schien ergrimmt über unsere Falschheit, daß wir ihn so lange bei getrocknetem Pferdefleisch und zerschlagenen Bärenschädeln hatten darben lassen, während wir selbst im Ueberflusse schwelgten. Er drang in die Cabine des Schiffslieutenants Brosch ein, entdeckte hier einen Berg aus Macaroni und fiel darüber her. Um uns von jedem Rettungsversuch abzuhalten, brummte er so lange, bis er alles verzehrt hatte. Sumbu hingegen hatte sich leichtsinnigerweise von den Matrosen durch Rum berauschen lassen, und Alles, was seine List durch Wochen gesammelt, im Schnee vergraben und bewacht hatte, stahlen ihm die anderen Hunde nun in Einer Nacht.
Dahingegangen war also wieder ein Jahr in den Schooß der Zeit. Mit Ernst in die Zukunft spähend, sahen wir Kurzsichtige die Erfüllung unserer Wünsche nur in der Erlösung von unserer Scholle. Carlsen schrieb in der pietätvollen Weise der Eismeerfischer in das Logbuch: » Önsker at Gud ma vare med os i det nye aar, da kan intet vare imod os« (Wir wünschen, daß Gott mit uns sei im neuen Jahre; dann kann nichts gegen uns sein). Dieses neue Jahr aber wiederholte in seinem glücklichen Verlaufe die ewige Wahrheit, wie das Schicksal unergründliche Wege wandelt voll drohender Anzeichen und glücklicher Lösungen, und von der Thorheit, die Bahn unserer Wohlfahrt nach unserem Sinne vorzuzeichnen. Nur die Sonne dieses neuen Jahres, welche sich später strahlend über die neuen Länder erheben sollte, sie stand noch tief unter dem Horizont; bloß neun Minuten war sie in der Zeit vom 21. December bis zum 28. December über den südlichen Wendekreis emporgestiegen. Bis zum 6. Jänner sollte sie sich weiterhin um einen Grad erheben, bis zum 18. Jänner um drei Grad und bis Ende Jänner um sechs Grad.