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Hohenlohe-Insel. – Cap Felder. – Unsere Trennung beim Cap 5chrötter. – Vordringen über das Kronprinz Rudolph-Land nach Nord. – Verdienste unserer Hunde. – Ihr Benehmen auf Reisen. – Geschaarte Eisberge vor dem Middendorff-Gletscher. – Zeltlager oberhalb eines Gletscherspalts. – Klotz marschunfähig zurückgeschickt. – Hinabstürzen in eine Gletscherspalte. – Schwierige Rettung. – Vordringen an der Westküste von Kronprinz Rudolph-Land nach Nord. – Das Alkencap. – Klimatische Veränderungen. – Vögelschaaren, Brutzeit. – Vermehrtes Thierleben. – Erwartung eines offenen Meeres. – Unsicherheit der Bahn. – Säulen-Cap. – Landwasser. – Nachtlager in einer Gletscherspalte. – Cap Germania. Cap Fligely, 82° 5' nördl. Br. – Eine Polynja und ihre Schiffahrtschancen. – König Oscar- und Petermann-Land. – Cap Wien. – Vegetationsarmuth.
Unmittelbar nach Anlangen am Cap Schrötter, dem Ostende der Hohenlohe-Insel, bestiegen wir die Höhe seines Felsgipfels. Er bestand aus einem schneefreien Trümmerhang Dolerit, wie gewöhnlich. mit spärlicher Vegetation, und wir waren sehr überrascht, daselbst die Excremente eines Polarhasen anzutreffen. Der Anblick, den wir von hier aus genossen, sprach entschieden für die Nothwendigkeit unserer Trennung. Die Gebirge des Kronprinz Rudolph-Landes, durch einen mit ebenem Eise bedeckten Meeresarm von uns geschieden, waren so hoch (etwa dreitausend Fuß), daß wir uns außer Stande sahen, anders als mit dem kleinen Schlitten darüber hinwegzukommen. Zudem hatte sich die Marschfähigkeit von zweien meiner Begleiter sehr vermindert; mehrtägige Ruhe war für sie billige Rücksicht. Der Austria-Sund schien zwar noch weiterhin nach Norden zu verlaufen; aber seine Westküsten bogen in den schroffen Wänden des Cap Felder und Cap Böhm nach links ab. Das blaugezackte Band des Gebirges, welches sie mit frischen sonnigen Schneefeldern überragte, verlor sich immer mehr in dem dunklen Streifen am nordwestlichen Horizont und war nach unseren Erfahrungen nur als Wasserhimmel oberhalb offener Meeresstellen zu deuten.
Orel erfreute mich durch seine Bereitwilligkeit, trotz seiner entzündeten Augen, an der Reise nach dem äußersten Norden theilzunehmen. Es galt daher nur noch, die Geeignetsten unter der Mannschaft dafür auszuwählen und die natürlichen Besorgnisse der Zurückbleibenden zu beschwichtigen. An den Fuß der Felsen zurückgekehrt, wo das Zelt bereits stand, fanden wir die Mannschaft an der sonnbeglänzten Wand nebeneinander aufgestellt, um sich zu wärmen – dem Grillenschwarm an der Mauer gleich zur Zeit der Kälte. Die Erfolge von Unternehmungen dieser Art, fern von der Beredsamkeit und Gewalt des Gesetzes, hängen zum größten Theil von dem guten Willen der Mannschaft ab, und wer sie befehligt, darf sich nicht begnügen, persönlich an allen Anstrengungen sich zu betheiligen, sondern muß auch in allen Fällen, wo es nicht der strengen Pflichterfüllung gilt, als teilnehmender Freund sich erweisen, damit das unwillkürliche Vertrauen sich bis zu dem Glauben an die Unfehlbarkeit des Führers steigere. In dieser und fast allen andern Hinsichten konnte es kaum ergebenere und ausdauerndere Männer geben, als jene, die hier in der Sonne lagerten, und zu denen wir uns nun gesellten, um die schwebenden Fragen zu entscheiden. Ich erklärte den Leuten meine ferneren Pläne, daß ich fünf bis acht Tage ausbleiben wolle, sie jedoch mit dem zur Hälfte durchsägten Schlitten allein nach dem Schiffe zurückzumarschiren hätten, falls ich binnen fünfzehn Tagen nicht in ihre Mitte zurückgekehrt sei, und daß der verfügbare Proviant für diese Zwecke hinreiche. Dann fragte ich jeden einzeln, ob er frei von Befürchtung in dieser Wüste zurückzubleiben vermöge. Die Antwort von Sussich war: » Se uno de lori resta indietro, mi non go paura«; Stets Dialekt. alle Uebrigen sagten dasselbe. Unter dem » uno de lori« aber verstanden sie Schiffsfähnrich Orel und die beiden Tyroler, und zwar mit Rücksicht auf die überall herumstreifenden Bären. Klotz und Haller hatte ich freigestellt zu entscheiden, wer sich zu meiner Begleitung tauglicher fühle; Haller antwortete: »Klotz, da gehscht halt du; du bischt der bessere Mensch mit Ziehen und hartem Leben«; somit blieben Sussich und Lukinovich unter Haller's Befehl zurück.
Sie erhielten den Auftrag, sich nicht über dreihundert Schritte vom Cap Schrötter zu entfernen, gegen Bären in der Defensive zu verbleiben, die Zeit mit dem Trocknen ihrer Strümpfe und dem Repariren zerrissener Stiefel zu vertreiben, zur Schonung derselben auf hölzernen Sandalen einherzugehen. Haller bekam als Gouverneur der Hohenlohe-Insel einen Taschencompaß, eine Taschenuhr, ein Aneroïd und ein Thermometer zu seiner Orientirung, außerdem unsere kleine Apotheke. Hatte es Dr. Kepes vorher am Schiffe versucht, binnen einer Stunde einen Arzt aus mir zu machen, so beschränkte ich mich, diesen Versuch nunmehr bei Haller wiederholend, auf zehn Minuten.
Am Morgen des 10. April (-12° R.) zerschnitten wir das Zelt; die eine Hälfte wurde auf den Hundeschlitten geladen, die andere mit ihrer offenen Seite dicht unter die Felswand geschoben. Bevor eine Karawane die Wüste betritt, läßt man die Kameele sich antrinken. Wir lebten ebenfalls in einer Wüste, Durst war ein beständiges Uebel, gern hätten wir das Beispiel der Kameele nachgeahmt. Nur Morgens gab es zu trinken, ein Pfund fast kochend heißes Wasser für Jedermann. Es erinnerte an Kaffee, denn zwei Pfund desselben wurden binnen 30 Tagen in 105 Maß Wasser ausgekocht.
Der Proviant wurde derart abgetheilt, daß er für die nach Norden Aufbrechenden, Schiffsfähnrich Orel, Zaninovich, Klotz, mich und die beiden Hunde, auf acht Tage reichte; seinen wichtigsten Bestandtheil bildeten dreißig Pfund gefrorenes Bärenfleisch. Die besonderen Erfordernisse unserer Reise, darunter ein Gewehr und ein Revolver, erhöhten die Schlittenlast auf drei bis vier Centner, und erwiesen abermals in welchem Nachtheil reisende Menschen gegen reisende Hunde sind. Dessenungeachtet war es jetzt ihre Aufgabe, unsern Schlitten allein zu ziehen, und sie thaten dies über die folgende Schneefläche hinweg mit solchem Eifer, daß wir Mühe hatten, mit ihnen Schritt zu halten.
Ich habe die bisherigen Verdienste unserer Hunde noch nicht erwähnt, um dies jetzt um so nachdrücklicher zu thun und vor Allem zu constatiren, daß wir die Überschreitung des 82. Breitegrades nicht uns selbst, sondern nur der ausdauernden Kraft dieser treuen Thiere verdanken. Ueberall auf Erden ist der Hund der treue Freund des Menschen, und das nicht geringe Maß seiner Kraft und Einsicht weiht er seinem Dienste. Aber unter allen diesen Geschöpfen ist das Leben eines arktischen Schlittenhundes gewiß das beschwerdenreichste. Sein Zelt ist kaum der Vorwand eines Obdaches, sein natürliches Kleid deckt den größten Theil des Jahres hindurch dicker Reif; treibender Schnee verhüllt ihn gänzlich, zollhoch lagert sich derselbe auf seinem Fell, wenn er ihn auch beständig abzuschütteln sucht. Mühsam schöpft er Athem, Hunger nagt in seinen Eingeweiden, und die wunden Füße färben die Schneebahn gleich einer röthelbezeichneten Trace. Oft müssen diese armen Thiere bei großer Kälte im Schnee stille halten; dann heben sie immer so viele Pfoten, als es ohne umzufallen möglich ist, in die Höhe und wechseln sie unaufhörlich, um sie nicht zu erfrieren. Die beiden Hunde aber, die uns jetzt nach dem äußersten Norden begleiteten, gehörten zu den prächtigsten Geschöpfen, welche jemals zu ähnlichen Unternehmungen verwendet wurden, und wenn ich der großen Dienste gedenke, die sie uns hier wie nachher auf dem Rückzuge nach Europa erwiesen, so erfüllt es mich mit aufrichtigem Schmerz, daß ein so trauriges Ende ihrer harrte. Jubinal und Toroßy waren Hunde von seltener Größe und Stärke. Von den epidemischen Krankheiten, welche die Hunde von Hayes und Kane heimsuchten, Bei Kane starben die Hunde vorzugsweise in Folge fast ausschließlichen Genusses von Salzfleisch, bei Hayes in Folge einer über ganz Westgrönland verbreiteten Hundekrankheit. Seuchen dieser Art brechen nicht allein bei den Hunden der Eskimo's aus, sondern auch bei denen der sibirischen Völker. Middendorff erwähnt, daß wüthende Hunde niemals bei Letzteren beobachtet worden seien. blieben sie verschont, und obgleich man bisher der Ansicht war, daß nur die Hunde der Eskimo's und sibirischen Völker sich für arktische Unternehmungen eignen, so haben die Erfahrungen mit unseren eigenen, zum größten Theile aus Wien mitgebrachten Hunden wider Erwarten erwiesen, daß sie kaum minder brauchbar seien, als diese.
Nur einen Fehler hatten unsere Hunde; sie waren nicht von Jugend auf an das Ziehen gewöhnt, sondern erst während der Expedition dazu abgerichtet worden. Diese Abrichtung gelang nicht so weit, um mit ihnen in einer beliebig zu wechselnden Richtung zu reisen, ohne daß ein Mann voranging, sei es nun, daß er mitzog, oder als Wegweiser diente. Sich selbst überlassen, waren sie vor dem Schlitten die vollständigsten Küstenfahrer; ohne Beirrung gingen sie von Cap zu Cap, und befanden sie sich innerhalb einer weiten Eisfläche und fern von auffallenden Landmarken, so eilten sie entweder auf die Sonne zu, auf den Mond oder auf irgend einen auffallenden Stern. Mit Widerstreben zogen sie gegen den Wind, und mußten sie in Eishöcker eindringen, so erhoben sie ein mißbilligendes Brummen. Wurden sie ausgespannt, so war nahes Land das nächste Ziel ihrer Muße. Morgens und namentlich Abends wurden sie gefüttert. Mit Feingeschmack unterschieden sie Bärenfleisch von dem verachteten Seehundfleisch, und während sie stets, falls sie nicht sehr hungrig waren, die unmittelbare Nähe der Menschen vor jedem Aufbruche mit großer Sorgfalt vermieden, um dem Einspannen zu entgehen, gab es Niemanden, der den ganzen Tag hindurch eifriger zog, als unsere Hunde. Nur Sumbu hatte die Gewohnheit, auf den Schlitten zu springen, so oft dieser unter dem Segel dahin glitt; vor dem Hundeschlitten gespannt, vermochte er bei der Passage über wirre Eistrümmer dem viel größeren Jubinal nicht nachzukommen, er wurde dann mehr nachgeschleift, als er selbst mitzog. Eigentümlich war die Art und Weise, in welcher sich das Gefühl der Abhängigkeit der Hunde vom Menschen in solchen Wüsten äußerte. Immer schienen sie unter der Befürchtung zu leben, als wolle man sich von ihnen entfernen, und sie in der Einöde zurücklassen; darum sahen sie es auch nicht gern, wenn sich Jemand von der Abtheilung entfernte.
Als wir uns den südlichen Vorbergen des Kronprinz Rudolph-Landes näherten, geriethen wir unter zahllose Eisberge von hundert bis zweihundert Fuß Höhe, in deren Leibern es bei Sonnenschein unaufhörlich knisterte und knackte. Mit einer ungeheueren Mauer zog der Middendorff-Gletscher unübersehbar hin gegen Norden. Tiefe Schneelager und aufgebrochene Meeresspalten, die Folge ihrer Einstürze und ihres Umkippens, erfüllten die Zwischenräume. Immer häufiger geschah es, daß wir darin einbrachen und unsere Segeltuchstiefel und Kleider mit Seewasser durchnäßten. Aber der Anblick dieser Pässe zwischen den gigantischen Kolossen der Gletscherfragmente hindurch war nichtsdestoweniger so fesselnd, daß wir unsere Aufmerksamkeit fast nur der Höhe ihrer schimmernden Gestalten zuwandten, ja lange unverdrossen zwischen den Pyramiden, Tafeln und Klippen irre gingen. Erst als ich Klotz voraussandte, um einen der Eisberge zu besteigen und uns dann durch seine Fußtapfen die Richtung einer ersteigbaren Stelle des Middendorff-Gletschers zu hinterlassen, kamen wir in eine freiere Gegend, und indem wir uns sämmtlich vorspannten, überwanden wir, schneeüberbrückte Randspalten überschreitend, die Anhöhe des Middendorff-Gletschers. Sein unterer Theil klaffte in breiten Spalten auseinander, und es bedurfte nur einer geringen Bewegung des Eises, um die abgetrennten Theile als mächtige Eisberge des Zusammenhanges zu berauben. Weiterhin schien der Gletscher eben, spaltenfrei, trotzdem seine Neigung mehrere Grade betrug, ohne übermäßig Anstrengung nach Norden hin überschreitbar, sobald wir mit vereinter Kraft am Schlitten zogen. Vorher jedoch wollten wir uns noch durch eine Rast und Mahlzeit stärken, und indem wir etwa vierhundert Schritte oberhalb des Gletscherrandes arglos unser kleines Zelt aufschlugen, blickten wir mit Entzücken hinab auf die Halbkreise seiner Abstürze und auf die krystallene Schaar der alle Einbuchten erfüllenden Eisberge. Während wir im Zelte saßen, machte mir Klotz die fatale Mittheilung, daß er eigentlich nicht »der bessere Mensch« gewesen, daß sein Fuß bereits seit einigen Tagen eitere und geschwollen sei (Entzündung der Nagelwurzel), so daß er nur noch in Fellschuhen zu gehen vermöge. So verdrießlich auch dieser Zwischenfall war, es blieb nichts übrig, als Klotz nach dem Abbrechen des Zeltes mit dem vierten Theil des Gepäckes nach der Hohenlohe-Insel zurückzuschicken. Mit einem Sack beladen und dem Revolver zog er von dannen; bald war er in dem Labyrinth der Eisberge unterhalb unseren Blicken entschwunden.
Wir selbst jedoch hatten den Schlitten wieder gepackt, die Hunde eingespannt und die Zuggurten umgenommen; aber fast im nämlichen Augenblicke, als wir uns in Bewegung setzten, öffnete sich die Schneedecke unterhalb des Schlittens, lautlos stürzten Zaninovich, die Hunde und der Schlitten hinab, aus unbekannter Tiefe herauf jammerten Menschen und Hunde, – dies waren die für mich wahrnehmbaren Eindrücke des kurzen Augenblickes, in dem ich als Vorangehender vom Seile zurückgerissen wurde. Zurücktaumelnd, den finsteren Abgrund hinter mir erblickend, zweifelte ich keinen Moment, daß ich ebenfalls sogleich hinabstürzen würde; aber eine wunderbare Fügung stemmte den Schlitten in etwa dreißig Fuß Tiefe zwischen den Eisgebilden des Gletscherspaltes, und zwar genau in dem Augenblicke, wo ich durch den mit drei Centnern belasteten Zugstrang bis dicht an den Rand des Abgrundes geschleudert wurde. Als sich der Schlitten festgeklemmt hatte, lag ich, vom straff gespannten und in den Schnee einschneidenden Seile regungslos an den Rand des Spalts gedrückt, auf dem Bauche. Die Situation war um so grauenhafter, als gerade ich, von den Anwesenden der einzige gegen die Gefahr der Gletscher Abgehärtete, unfähig geworden war, mich zu regen, und Zaninovich, als ich hinabrief, ich wolle mein Zugseil durchschneiden, mich beschwor, es nicht zu thun, weil der Schlitten sonst hinabstürzen und ihn tödten müsse. Eine Zeitlang blieb ich so liegen und sann nach, was nun zu thun sei, wobei es mir vor den Augen flimmerte. Die Erinnerung daran, wie ich einst mit meinem Führer Pinggera in der Lombardie über eine achthundert Fuß hohe Eiswand des Ortlergebirges herabgestürzt und glücklich entkommen war, gab mir Zuversicht, den unter solchen Umständen verzweifelten Rettungsversuch zu wagen.
Orel, vordem zurückgeblieben, war herangekommen, und obgleich er niemals vorher einen Gletscher betreten, so schritt der tapfere Officier doch unerschrocken bis an den Rand des Spalts, legte sich auf den Bauch, sah in den Abgrund hinab und berichtete: »Zaninovich ist auf einem Schneeabsatz des Spalts, umringt von finsteren Klüften, die Hunde hängen noch in den Zuggurten des festgeklemmten Schlittens.« Darauf warf er mir auf meine Bitte sein Messer, und zwar mit solcher Geschicklichkeit herüber, daß ich es leicht zu erlangen und damit das einzige Rettungsmittel zu ergreifen vermochte, daß ich nämlich die Zuggurte auf meiner Brust durchschnitt. Der Schlitten in der Tiefe machte darauf noch einen kurzen Ruck und blieb dann abermals stecken. Ich selbst aber erhob mich, zog meine Segeltuchstiefel aus und sprang den etwa zehn Fuß breiten Spalt zurück. Ich hatte dabei Zaninovich und die Hunde gesehen, und rief dem Ersteren hinab, ich wolle zur Hohenlohe-Insel zurücklaufen, um Leute und Stricke zu seiner Rettung herbeizuschaffen, diese müsse gelingen, sobald er im Stande sei, sich vier Stunden lang vor dem Erfrieren zu bewahren. Ich hörte noch seine Antwort: » Fate, signore, fate pure!« Machen Sie, Herr, machen Sie!; dann waren Orel und ich verschwunden. Unbesorgt der Spalten wegen, über die wir vielleicht schritten, liefen wir den Gletscher hinab, und, obwohl unbewaffnet, dennoch gleichgiltig gegen die Eisbären, zurück nach dem sechs Meilen fernen Cap Schrötter. Nur Ein Gedanke erfüllte uns, die Rettung von Zaninovich, der Perle unserer braven Mannschaft, die Rettung unserer Hunde und des Gepäcks mit dem unersetzlichen Gute an Lebensbedarf und vor Allem dem Buche der Aufnahmen der neuentdeckten Länder. Aber auch abgesehen von der persönlichen Zuneigung für Zaninovich, ergriff mich, angesichts meiner reichlichen Erfahrung im Hochgebirge, der Vorwurf des unüberlegten Bereisens von Gletschern, und ich fand keine Beruhigung, selbst in der Ueberlegung, daß die ungefährdete Wanderung über grönländische Gletscher zu einem solchen Vorgang zu berechtigen schien.
Solche Vorwürfe trieben mich mit einer Unruhe und Eile vorwärts, daß Orel immer mehr hinter mir zurückblieb. Glühend erhitzt und in Schweiß gebadet, zog ich meine Federkleider aus und warf sie, meine Stiefel, Handschuhe und Shawl weg und lief in Strümpfen weiter durch den tiefen Schnee. Als ich das Labyrinth der Eisberge überwunden hatte, sah ich die Felspyramide des Cap Schrötter fern vor mir; – nur zur Hälfte ragte sie über den Horizont, zuweilen verhüllten sie wallende Nebel.
Das Gelingen meines Vorhabens hing vom Wetter ab; trat Schneetreiben ein, und wurden die Fußtapfen im Schnee verweht, so war die Hohenlohe -Insel unauffindbar. Furchtbar einsam war's um mich her, umkreist von Gletschern sah ich mich allein; doch auch kein Bär ließ sich blicken. Endlich bemerkte ich Klotz hinter einem Eisberge fern vor mir auftauchen, und so lange rief ich seinen Namen, bis ich ihn erreicht hatte, ohne ihn jedoch seinem Tiefsinn entreißen zu können. Aber als er mich erblickte, athemlos herbeieilend, kaum bekleidet und beständig rufend, – da entglitt ihm der Sack vom Rücken; aller Fassung bar starrte er mir entgegen. Als der abgehärtete Sohn des Gebirges erfuhr, daß Alles außer mir und Orel im Gletscherspalt begraben sei, begann er zu weinen; denn in seiner Einfalt maß er die Schuld an dem Geschehenen sich selbst bei. So verstört war er, daß ich ihm das Versprechen abnahm, sich selbst kein Leid zuzufügen, und ihn seiner Schweigsamkeit überlassend, lief ich wieder weiter nach der Insel. Unerreichbar schien Cap Schrötter; mit gesenktem Haupte trabte ich schrittzählend durch den tiefen Schnee darauf zu; doch wenn ich nach geraumer Zeit emporsah, war es noch immer derselbe kleine schwarze Fleck am fernen Horizont. Endlich kam ich ihm nahe, erblickte das Zelt, woraus mehrere schwarze Punkte hervorkrochen, sich neben einander aufstellten und den Schneehang herabliefen. Es waren die Zurückgebliebenen. Wenige Worte und die Ermahnung, sich jeder Klage zu enthalten genügten, um sie zur Loslösung des zweiten Gletscherseiles vom großen Schlitten und zur Mitnahme einer der langen Zeltstangen zu veranlassen. Ich stürzte über die Kochmaschine her, schmolz in wenigen Minuten etwas Schnee, um meinen furchtbaren Durst zu stillen, und dann eilten wir alle, Haller, Sussich, Lukinovich und ich zurück zum Middendorff-Gletscher.
In vollkommener Auflösung befand sich unsere Expedition; Zelt und Proviant blieben unbewacht, Menschen und Hunde und alles Geräth über eine ungeheure Wüste weithin verstreut, oder verschüttet. Dritthalb Stunden lang liefen wir zurück, und die Sorge um Zaninovich beflügelte meine Schritte so sehr, daß meine Begleiter kaum im Stande waren, nachzukommen. Immer wieder mußte ich für Augenblicke halten, damit sie etwas Rum tranken. Gleich anfangs begegneten wir Orel, viel später Klotz, beide strebten Cap Schrötter zu, Klotz um dort zurückzubleiben, Orel, um rasch wieder nach dem Middendorff-Gletscher nachzukommen.
Als wir unter die Eisberge nächst Cap Habermann kamen, nahm ich Stück für Stück meiner verstreuten Kleider auf, und als wir den Gletscher erreichten, banden wir uns ans Seil. Vorangehend näherte ich mich beklommenen Herzens nach 4½ Stunden und einem zurückgelegten Wege von drei deutschen Meilen der Stelle, wo der Schlitten verschwunden.
Ein schwarzer Abgrund gähnte vor uns; kein Laut tönte aus seiner Tiefe, auch dann nicht, als ich mich auf den Boden hinlegte und hinabrief. Zuerst vernahm ich das Winseln eines Hundes, dem die unverständliche Antwort von Zaninovich folgte. Rasch wurde Haller an dem Tau hinab gelassen. Er fand Zaninovich noch lebend, doch fast erstarrt in vierzig Fuß Sie wurden nachher gemessen. Tiefe auf einem schmalen Schneevorsprung des klaffenden Spalts, band sich los und Zaninovich ans Seil; wir zogen ihn mit großer Anstrengung herauf. Starr, sprachlos und stürmisch begrüßt, erschien er auf der Oberfläche des Gletschers, und um seine Lebensgeister anzuregen, gaben wir ihm etwas Rum. Es war ein schöner Beweis, wie sehr sich Pflichtgefühl und Disciplin selbst in solchen Lagen bewähren, daß das erste Wort des vom Tode des Erfrierens befreiten Matrosen – nicht etwa eine Klage, – nein, nur der Dank und die Bitte waren, ich möchte ihm verzeihen, daß er, um dem Erfrieren zu entgehen, gewagt habe, etwas von jenem Rum zu trinken, der mit dem Gefäße vom Schlitten herab zu seinem Schneevorsprunge gefallen war. Dann band Haller die Hunde ans Seil. Die klugen Thiere hatten sich auf eine unbegreifliche Weise aus ihrer hängenden Lage über dem Spalte aus der Zuggurte befreit, und waren mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit zu dem schmalen Absatz hingesprungen, wo Haller sie dicht an Zaninovich geschmiegt fand. Erstaunlich war es, wie leicht sie die offenbare Gefahr hinnahmen, oder wie groß ihr Vertrauen zu uns war; wie Zaninovich nachher erzählte, hatten sie die ganze Zeit hindurch geschlafen, und er habe ängstlich vermieden, an sie zu stoßen, damit sie in den klaffenden Abgrund nicht noch tiefer hinabstürzten.
Einzeln zogen wir sie mit nicht minder großer Anstrengung den Spalt herauf; der Freude über ihre Rettung gaben sie dadurch Ausdruck, daß sie sich zuerst tüchtig im Schnee wälzten und dann uns die Hand leckten. Darauf zogen wir Haller bis zur Tiefe von dreißig Fuß empor, damit er die Taue durchschneiden konnte, welche die Ladung des festgeklemmten Schlittens befestigten. Einzeln schafften wir die Geräthe mit Hilfe Orel's herauf, der eben anlangte; es ward aber zehn Uhr Abends, ehe wir die beruhigende Ueberzeugung gewannen, daß nur entbehrliche Gegenstände in die unerreichbare Tiefe des Spalts hinabgefallen seien.
Mitternachts hatten wir den Gletscher und die Region der Eisberge verlassen und das Cap Habermann erreicht. Hier schliefen wir in Gesellschaft der Hunde so schlecht als möglich. Toroßi besonders fuhr mir mit seinen zottigen Füßen, einem borstigen Pinsel gleich, beständig ins Gesicht; wenn ich ihn darüber zur Verantwortung zog, so geschah dasselbe Manöver, indem er versuchte, es durch sein Wedeln mit dem buschigen Neufundländerschweif wieder gut zu machen. Des Morgens (11. April, -13,5° R.) brachen wir zu einer Stunde auf, wo wir uns am liebsten niedergelegt hätten, um zu schlafen. Unser Durst war so groß, daß wir uns die Fähigkeit zutrauten, einen Bach auszutrinken. Haller, Sussich und Lukinovich waren noch während der Nacht nach dem Cap Schrötter gegangen. Noch bevor sie uns verließen, bat mich Haller inständig, sobald als möglich zurückzukehren; denn das jüngste Ereigniß hatte nicht verfehlt, beunruhigend auf die Leute zu wirken.
Im Uebrigen durften wir uns glücklich preisen, unsere Reise fast ohne jeden Nachtheil wieder fortsetzen zu können, wenn auch nicht mehr über den verrätherischen Gletscher.
Ein weiter Umweg führte zur Westküste des Kronprinz Rudolphs-Landes, längs der wir jetzt unsere dritte Route nach Norden einschlugen. Als wir Cap Brorok erreichten, wo die mittägige Breite mit 81° 45' beobachtet wurde, gewann der Tag eine wunderbare Klarheit, und das warme Sonnenlicht lag auf dem zerrissenen Eisdiademe der Doleritberge. Ihre schroffen Felskronen, vor einem Monate noch mit schuhdicken Eisrinden belegt, waren inzwischen völlig schneefrei geworden. Nach Nordwest sahen wir zuerst nichts als den Eishorizont; selbst mit dem Fernrohre des Theodoliten konnte ich mich nicht mit Bestimmtheit für die Existenz von Land entscheiden, welches Orel's scharfes Auge in großer Ferne entdeckt hatte. In der That geschieht es in arktischen Regionen nicht selten, daß die Dunstbänke des Horizonts den ausgesprochenen Charakter ferner Höhenzüge nachahmen, weil die geringe Höhe, bis zu der sie in der kalten Luft emporzusteigen vermögen, ihre scharfe Begrenzung veranlaßt; am gewöhnlichsten findet diese Verwechslung mit entlegenen Abflüssen ungeheurer Gletscher statt. Dicht unter Land zogen wir zum ersten Male über wellenförmiges Glatteis nach Norden, in gehobener Stimmung durch die wachsende Schönheit einer großartigen Natur und den glücklichen Verlauf unseres gestrigen Abenteuers. Nur mußten wir des Durstes wegen wiederholt halten, um etwas Schnee zu schmelzen Schneewasser war mithin zwei Jahre lang die fast ausschließliche Flüssigkeit, die wir zu uns nahmen, und da Keiner von uns einen Kropf bekam, so bildeten wir die lebendige Widerlegung der von Manchen getheilten Anschauung, daß der fortgesetzte Genuß von Schneewasser es sei, der dies Uebel bei den Alpenbewohnern erzeuge. und geschah dies während des Marsches, so glich unser Schlitten durch die der Kochmaschine qualmend entströmenden Dämpfe einem kleinen Dampfer, der Wind trieb die Flammen daraus hervor.
Dann kam wieder Schnee, das Eis selbst wurde immer dünner, Spalten durchzogen es; und als wir das imposante Alkencap erreichten, begann es in Lagen emporgepreßter Barrièren. Ein befremdlicher Wechsel gab sich in der Natur ringsum kund. Dunkler Wasserhimmel erhob sich im Norden, und seine finstere Dunsthülle wälzte sich heran bis zu den schroffen Vorgebirgen des Carl Alexander-Landes. Unter der Sonne sammelten sich trübgelbe Dünste, die Temperatur stieg bis auf 10° R. unter Null, während sie am Schiffe gleichzeitig nur -23° R. erreichte; die Bahn erweichte, geräuschvoll brachen die Schneewehen unter uns zusammen, und war uns schon vordem der Flug der Vögel aus Norden her aufgefallen, so fanden wir jetzt alle Felswände des Kronprinz Rudolphs-Landes mit Tausenden von Alken, Tauchern und Teisten besetzt. Ungeheuere Schwärme erhoben sich, und alles Land, auf das die Sonne schien, belebte das leidenschaftliche Schwirren der beginnenden Brutzeit. Ueberall zeigten sich Bärenspuren, zahllos und besonders deutlich jene der Füchse; Seehunde lagen auf dem Eise. Doch sprangen sie stets ins Wasser, ehe wir ihnen auf Schußdistanz zu nahen vermochten. Trotz aller dieser Wahrnehmungen wäre es nicht gerechtfertigt, diese locale Erscheinung eines reicheren Thierlebens auf eine absolute Zunahme desselben gegen Norden überhaupt zu beziehen. Unter solchen Eindrücken war es eine verzeihliche Uebertreibung, daß wir unter uns die Nähe des offenen Polarmeeres verkündeten, und ohne Zweifel hätten alle seine einstigen Anhänger, wären sie mit uns nur bis hieher und nicht weiter gewandert, dessen Existenz mit neuen Gründen erwiesen. Bei Aufzählung dieser beobachteten Einzelheiten bin ich mir bewußt, wie verführerisch sie für Jedermann klingen müssen, der noch gegenwärtig an die Oceanität des Poles zu glauben geneigt sein sollte, und wie wenig ihm der Anblick aller jener traurigen Bilder warnend zur Seite steht, die wir leider selbst auf drei Nordpol-Expeditionen erblickten. Das Nachfolgende wird zeigen, wie gering ihr Werth in Bezug auf diese veraltete Hypothese war.
Unsere Bahn war jetzt völlig unsicher; nur die Eisberge schienen das Eis der Baien noch in diesen festzuhalten. Ein starker Ostwind mußte es aufbrechen und uns den Rückweg wenigstens mit dem Schlitten abschneiden. Es gab keine winterliche Schollendecke mehr, sondern nur noch Jungeis, salzbedeckt, zolldick, bedenklich biegsam und überlagert von Trümmerwällen jüngerer Pressungen. Seehundslöcher durchbrachen es an vielen Stellen. Wir banden uns an ein langes Seil; abwechselnd ging einer von uns voraus, und unaufhörlich wurde die Eisdecke sondirt. Am Alkencap vorbei, welches einem riesigen bevölkerten Vogelbauer glich, folgten wir der Teplitzer Bai, in der sich ein Gletscherstrom in mächtigen Stufen aus den hohen Gebirgen des Inlandes herabsteigend ergoß; Eisberge lagen eingeschlossen längs der Absturzwand seines hohen Strandes. Einen dieser Kolosse besteigend, sahen wir erratisches Granitgeschiebe auf seiner Oberfläche und weit hinaus nach Westen hin das offene Meer. Nur am äußersten Horizont begann abermals Eis. In dem Maße, als die Eisdecke unseres Weges biegsamer und dünner wurde ½ bis ¾ Zoll., und wir beständig gewärtigten einzubrechen und verschlungen zu werden, nahm auch die Höhe und Verbreitung seiner aufgeworfenen Barrièren zu, und weil die hohen Gletscherwände das Reisen über Land vereitelten, so blieb nichts übrig, als uns mittelst Axt und Schaufel durch seine wirren Lager Bahn zu brechen. Zuletzt half auch dies nicht mehr; nachdem unser Schlitten mehrmals reparirt, aber immer wieder zerbrochen war, und seine niedrigen Hörner sich überall festklemmten, mußten wir ihn abladen, die Hunde ausspannen und alle Gegenstände einzeln transportiren. Der Abend war herangekommen. Vor uns lagen die zwei einsamen Felsthürme des Säulencap. Hier begann das offene Landwasser.
Von erhabener Schönheit war diese ferne Welt. Von einer Anhöhe aus übersah man die dunkle Wacke mit den Perlen ihrer Eisberge; schwarze Wolken lagen darüber, durch welche die glühenden Strahlen der Sonne drangen, herab auf die blitzenden Wasser. Dicht über ihr glänzte ein zweites, nur matteres Sonnenbild; Wieder ein Theil einer Sonnenfackel. aus anscheinend ungeheurer Höhe traten die Eisgebirge von Kronprinz Rudolphs-Land in rosiger Klarheit durch die wallenden Dünste und Vögelschaaren durchzogen das stille Reich.
Nahe unter dem Säulencap betraten wir den abfallenden Gletschersaum des Landes und zogen unser Gepäck mittelst eines langen Taues hinauf. Während Orel das Nachtlager in einer Gletscherspalte bereitete und wie gewöhnlich seine meteorologischen Notizen und Peilungen beendete, stieg ich zur Höhe eines Berggrates empor, den Weg für den folgenden Tag auszukundschaften. Glühend ging die Sonne in der prachtvollen Wildniß unter; ihre goldenen Linien durchbrachen die schwarzen Dunstbänke, und leichter Wind zog spielend weitgekrümmte Furchen in dem beweglichen Spiegel der dunklen Wacke. Nach Norden hin war jetzt kein Land mehr zu sehen, dichter Wasserhimmel verhüllte die Ferne. Narbige Felslager breiteten sich überall hin aus, und ein Vogel lief nahe vor mir darüber hin; anfangs hielt ich ihn für ein Schneehuhn, doch war es wahrscheinlich eine Schnepfe. Es verdient bemerkt zu werden, daß wir im Verlaufe der zwei Tage, die wir unter dem 82. Grade in der Nähe dieses Wassers verweilten, niemals einen Walfisch erblickten.
Unmittelbar nachdem wir unser Nachtmahl mit geschlossenen Augen verzehrt hatten, fielen wir in Schlaf, größer noch als Müdigkeit und Durst war unsere Schlafsucht; die Hunde benützten diesen Zustand, mehrere Pfunde Bärenfleisch und eine geöffnete Büchse condensirter Milch zu verschlingen, was sie nicht hinderte, uns am nächsten Morgen frech anzubellen.
Der 12. April (-11° R,) war der letzte Tag unseres Vordringens nach Nord. Wenngleich nicht völlig klar, so war er doch heiterer, als die meisten seiner Vorgänger. Aufbrechend vergruben wir, um gegen die überall umherstreifenden Bären sicher zu sein, unser Gepäck in der Gletscherspalte, worin wir geschlafen. Dann schritten wir den muldenreichen Anlauf des Berglandes hinan, über den glitzernden Schneemantel seiner trümmerfreien Hochflächen hinweg, der Höhe des Küstengebirges (1000-3000 Fuß) zu.
Die Nebelfluth des Horizonts war den Flammen der Morgensonne gewichen; das Land und die Eisreihen rings umher empfingen den Widerschein der glühenden Heerschaaren des Himmels. Nur im Süden lag eine düstere Wasserfluth bis zu den finsteren Gestaden des Cap Felder. Je mehr wir dem Küstenverlauf in der Höhe folgten, desto mehr wuchsen die Gebirge vor uns, ihre Gletscherströme und ungeheure in das Meer tauchende Stufen zu schweren Riesenmassen an. Eine Stunde vor Mittag erreichten wir den 1200 Fuß hohen Felsenvorsprung Cap Germania; hier machten wir eine Rast, und die Beobachtung der Meridianhöhe der Sonne ergab die Breite von 81° 57'. Dem Küstenverlaufe nach Nordost folgend, durchzogen wir, mit den Hunden ans Seil gebunden, das Firngebiet eines Gletschers, dessen Neigung und Zerklüftung uns zwang, den Schlitten zurückzulassen. Die zunehmende Unsicherheit unseres spaltenumringten Weges, Proviantmangel, häufiges Einbrechen und die Gewißheit, seit Mittag durch einen fünfstündigen Marsch die Breite von 82° 5' erreicht zu haben, setzten unserem siebzehntägigen Vordringen hier endlich ein Ziel. Nur mit einem Boote wären wir im Stande gewesen, noch einige Seemeilen längs der Küste weiter zu reisen.
Wir befanden uns jetzt in etwa tausend Fuß Höhe auf einem Vorgebirge, dem ich als geringes Zeichen von Ehrfurcht und Dankbarkeit für einen in der geographischen Wissenschaft hochverdienten Mann den Namen Cap Fligely gab. Das Kronprinz Rudolphs-Land jedoch zog sich in nordöstlicher Richtung nach dem Cap Sherard-Osborne fort; sein fernerer Verlauf oder Zusammenhang war nicht zu bestimmen. Der Anblick, welchen wir von dieser Höhe aus genossen, war in Bezug auf das vermeintliche offene Polarmeer einer jener Momente, deren befangene Würdigung die Beschaffenheit des innersten Polargebietes einst zum Gegenstande lebhafter Controverse gemacht hat. Da aber das Anlangen einer Expedition im äußersten Norden in den geringsten Einzelheiten des Beobachteten von großer Wichtigkeit ist, so will ich versuchen, mich so deutlich als möglich darüber auszusprechen, um an die Beobachtung offenen Wassers in so hoher Breite alle Angaben zu knüpfen, welche dessen Bedeutung für die Schifffahrt einschränken. Für die Fortsetzung der Polarforschung gibt es keine größere Gefahr, als leichthin abgegebene Aussprüche in Bezug des Wahrgenommenen. Sie führen tausendfache Verwirrung herbei, stützen morsche Hypothesen von neuem, und was das Schlimmste ist, sie bereiten den gläubigen Nachfolgern schwere Verlegenheiten und Schicksale.
Wir waren jetzt in der Lage, den Umfang des Küstenwassers unter uns zu überblicken; allein selbst unsere wenig sanguinischen Erwartungen erwiesen sich als übertrieben. Kein offenes Meer war es, sondern eine rings von älterem Eise umsäumte Polynja, Offene Meeresstelle. innerhalb welcher jüngere Eismassen in anscheinend mäßiger Dichtigkeit ausgebreitet lagen. Die geringe Ausdehnung dieses offenen Wassers macht die Karte ersichtlich; ihre Entstehung war den Ostnordost-Winden zuzuschreiben, welche die vergangene Jahreszeit beherrscht hatten. Sah man selbst von dem nur augenblicklichen Hemmnisse des Jungeises ab, welches die Sprünge des Eises zur Zeit verband, so ließ sich mit Sicherheit nur behaupten, daß ein Schiff, an die Nordküste von Zichy-Land versetzt, einige Meilen nach Norden oder Nordwesten hätte vordringen können, so weit etwa, als die Durchfahrten im Treibeise für unseren hohen Standpunkt aus erkennbar waren. So wenig ein solches jedoch gegenwärtig im Stande war, den hundert Meilen langen Austria-Sund zu befahren, so wenig hätte seiner höher im Norden etwas Anderes geharrt, als Packeis; denn eine geschlossene weiße Fläche begrenzte den Horizont. Da ich nur das wirklich Beobachtete berichten will, so enthalte ich mich jeder Combination über die Fahrbarkeit und Beschaffenheit derjenigen Nordmeere, wie über die Ausdehnung derjenigen Länder, die noch Niemand gesehen hat, und begnüge mich mit der Angabe, daß das factisch Beobachtete, hier vom Cap Fligely aus, ebensowohl gegen die Theorie eines offenen Meine persönlichen Muthmaßungen darüber habe ich in einem andern Abschnitte niedergelegt. Ich würde mich von ganzer Seele des Gegenbeweises freuen sobald er in der That besteht. Für jetzt aber muß ich mich der Worte des Admirals Mac Clintock noch aus vollem Herzen anschließen: »Die Erfolge der englischen Nordpol-Expedition werden vorzugsweise durch die Schlittenreisen herbeigeführt werden.« Sollte es dagegen den wackeren Männern Englands, die jetzt im hohen Norden weilen, gelingen, den 83., 84. Oder 85. Breitegrad mittelst Schiffes zu erreichen, so werde ich meinen Irrthum gern berichtigen., wie gegen jene eines völlig geschlossenen Polarmeeres spricht.
Näher liegend, als alle diese Fragen, war uns jedoch der Anblick blauer Alpensäume im Norden; zum Theil dasselbe Land, welches Orel schon gestern wahrgenommen, und das nunmehr in bestimmteren Umrissen vor uns lag, das König-Oscar- und Petermann-Land Jahrelang gewöhnt, diesen großen Geographen als meinen bewährten Freund und Meister anzusehen, durch dessen Veranlassung meine Betheiligung an der zweiten deutschen Nordpolexpedition erfolgte, fand ich hier zum ersten Male die Befriedigung der Dankbarkeit, seinen Namen mit Territorien verbinden zu dürfen, welche dem Nordpol in großer Nähe stehen, – dem Nordpol, für dessen Erforschung er die größten Nationen der Erde in Bewegung setzte. Wenngleich die Erfahrungen dreier Reisen für mich zur Veranlassung wurden, in einigen Punkten von den Anschauungen meines gelehrten Freundes abzuweichen, so möge er doch darin, daß ich den äußersten Norden meiner Entdeckungen mit seinem berühmten Namen ziere, erkennen, wie sehr ich die Richtigkeit seiner Ansichten im Allgemeinen anerkenne und die unbeschreibliche Thätigkeit bewundere, mit welcher er der geographischen Wissenschaft auf allen Gebieten seit Jahrzehnten gedient und sich selbst unsterbliche Verdienste gesammelt hat., dessen bergiges Westende noch jenseits des 83. Breitegrades liegt. Nicht würdiger glaubte ich meinen Dank gegen Oesterreichs Hauptstadt und ihre Opferwilligkeit für die Wissenschaft ausdrücken zu können, als durch die Bezeichnung desselben mit dem Namen Cap Wien, und für die Mitglieder der Expedition knüpft sich daran die Erinnerung, wie sehr diese Stadt unseren Schicksalen mit Theilnahme gefolgt ist, unsere bescheidenen Verdienste in der erhebendsten Weise geehrt hat.
Mit stolzer Erregung pflanzten wir die Flagge Oesterreich-Ungarns zum ersten Mal im hohen Norden auf; wir hatten das Bewußtsein, sie so weit getragen zu haben, als unsere Kräfte es erlaubten. War es auch kein Act völkerrechtlicher Nothwendigkeit und fern von der Bedeutung der Besitznahme eines Landes, wie einst, wenn Albuquerque oder Van Diemen die Abzeichen ihres Vaterlandes auf fremder Erde entrollten, so halten wir doch nicht minder schwer, als sie jene Paradiese, dieses Stückchen kalten, starren Bodens erworben. Schmerzlich fühlten wir die Unfähigkeit, Länder nicht betreten zu dürfen, die wir vor uns sahen, und gleichwie wir den Eindruck hatten, als müsse dieser Tag der werthvollste in unserem Leben sein, so kehren auch jetzt, ein halbes Jahr nach dem Verlaufe der Expedition, nur die Tage unseres Aufenthaltes im äußersten Norden ungesucht in meiner Erinnerung wieder.
Das doleritische Gestein hatte einen ungewöhnlich grobkörnigen Charakter angenommen; in verfallenen Terrassen ragte es aus dem einförmigen Schneekleide hervor, und sein einziger karger Pflanzenschmuck bestand in Umbilicaria arctica, Cetraria nivalis und Rhyzocarpon geographicum. Das nachfolgende Document deponirten wir, in einer Flasche verwahrt, in einem Felsriffe:
»Die Theilnehmer der österreichisch-ungarischen Nordpol-Expedition haben hier in 82.° 5' ihren nördlichsten Punkt erreicht, und zwar nach einem Marsche von siebzehn Tagen von dem in 79.° 51' N. B. vom Eise eingeschlossenen Schiffe aus. Sie beobachteten offenes Wasser geringer Ausdehnung längs der Küste. Es war von Eis umsäumt, welches in Nord- und Nordwestrichtung bis zu Landmassen reichte, deren mittlere Entfernung 60 bis 70 Meilen betragen mochte, deren Zusammenhang und Gliederung sich jedoch nicht ermitteln ließ. Sofort nach der Rückkehr zum Schiffe und nach stattgehabter Erholung daselbst wird die gesammte Mannschaft dieses verlassen und nach Oesterreich-Ungarn zurückkehren. Dazu zwingen sie die rettungslose Lage des Schiffes und Krankheitsfälle.«
Cap Fligely, am 12. April 1874.
Antonio Zaninovich,Matrose. Eduard Orel, Schiffsfähnrich. Julius Payer, Commandant.