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Sonnenuntergang und Dämmerung. – Der zweite Winter ohne Beschwerde. – Einsamkeit. – Mäuse. – Finsterniß. – Ausfluge nach der Wilczek-Insel. – Schneestaubfall und Schneetiefe. – Kälte. – Mitte der Winternacht. – Auf Deck. – Die Hunde. – Weihnachten und Neujahr. – Unser Winterleben. – Scorbut.
Das Land hatte sich inzwischen noch dichter in seinen Schneemantel gehüllt und die Falten seiner Schneewehen über seine rauhesten Felsglieder gebreitet. Das Licht nahm fortwährend ab. Nur zuweilen geschah es noch, daß die hohen Abstürze der Gletscher durch das dämmernde Bleigrau der Atmosphäre in einem gedämpften Rosa zu uns herüberglühten. Brachen dann an den ersten kalten Tagen neue Wacken auf, so quoll eine Frostdampfschichte über die Eisfläche, das Schiff und alle Gegenstände waren im Augenblicke dicht umwoben von flaumigen Gebilden, selbst die Hunde waren weiß bereift. Mittags standen wir auf Deck und starrten in die Sonne, wenn sie umringt von glühenden Abendwolken hinabsank hinter den schwarzgezackten Saum der Hummocks. Doch es war nicht mehr die lebenspendende Sonne, Am 5. October betrug ihre mittägige Höhe nur mehr wenig über 5 Grad, am 4. October wenig über 2 Grad. nicht mehr wie ehedem erglänzte die eisige Wildniß unter ihr in gräßlicher Helle, – eine Sonne war es, die der alternden Natur ihr stetig erblassendes Licht zu spenden schien, aber nach einer großen Wandlung aller Dinge einst schöner als je in dem ewigen Raume leuchten werde. Am 22. October trat ihr durch Refraction gehobenes Bild als halbe Scheibe zum letzten Mal über den Horizont. Der ganze südliche Himmel war ein Feuermeer über den kalten, starren Reihen ewigen Eises! Leichte Strati schwebten wie glühende Segel über dem Gestirn dahin, das eine lange blendende Fackel entsendete. Dann zogen düstere Wolkenschaaren, rings den Lichtkreis verhüllend, heran, das lange Reich der Nacht begann und die Einöde rings um uns sank zurück in die Starrheit des Winters. Ein fahles Dämmerlicht von Blaß und Roth war zurückgeblieben, ihr Bogen ward täglich niedriger; Wandelnde hatten keinen Schatten mehr, immer klagender zog der Wind durch das Eisgewirre, kälter und finsterer wurde es, und wieder wölbte sich der weite Dom der Nacht in träumendem Ernst über die einsame Stätte, die unsere Heimat geworden.
Dessenungeachtet war die Erwartung von Erfolgen und unsere nicht weiterhin bedrohte Existenz Grund genug, daß dieser zweite Winter sich von dem vorangegangenen sehr vorteilhaft unterschied. Wenngleich auch diesmal geistige Thätigkeit das einzige Mittel war, die lange Periode der Finsterniß zu überwinden und wir Eremiten gleich im Achtertheil des Schiffes in unseren kleinen Cabinen saßen, so war es doch eine Zeit, die uns lehrte, daß Thätigkeit an sich, selbst ohne den Genuß, hinreichen könne, Menschen glücklich und zufrieden zu machen. Die drückende Vorstellung einer ruhmlosen Rückkunft, die, beständig gegenwärtig, uns den ersten Winter so furchtbar gemacht hatte, war nicht mehr vorhanden, wohl aber die Hoffnung – sie nahm mit jedem Tage zu – es möchte uns im Frühjahre vergönnt sein, das Schiff zu verlassen und zur Erforschung des Landes auszuziehen. Unbeschreiblich wohlthätig war der Einfluß eines guten Buches, wie stets in Lagen der Abgeschlossenheit, oder wenn Gefahren unsere Denkungsweise klären. Nirgends kann ein Buch so gewürdigt und in allen Eindrücken mitempfunden werden, als in solcher Isolirtheit; diesen Vortheil unserer Situation auszubeuten, stand uns eine große Bibliothek wissenschaftlicher Werke, Polarliteratur und Classiker zur Verfügung. Auch die umfangreiche Weltgeschichte Weber's hatten wir an Bord, und lag auch ihr Inhalt unseren Bestrebungen ferner, als der vieler anderen Bücher, so gereichte sie uns im ersten Winter doch zum großen Tröste durch die Geschichte edler Beispiele und die erhabene Beurtheilung der Thaten Dahingegangener. Was erst soll ich sagen von den unsterblichen Werken der großen Dichter! Ohne die stete Wiederkehr der Gefahr, wie solche unseren ersten Winter überreich erfüllte, wäre die lange Nacht dem Thätigen ein glücklicher Zustand materieller Sorglosigkeit und geistiger Regsamkeit.
Nur zuweilen machte sich die Einsamkeit unseres Lebens fühlbar, eine Einsamkeit, die, weil sie mit Mehreren getheilt wurde, nur im Hinblick auf die übrige Menschheit galt; wir selbst lebten in beständiger Gegenwart Aller, und man weiß es ja, daß es erträglicher ist, immer allein zu sein, als nie allein zu sein. Andere waren mit Eskimo's in Berührung gekommen; Roß Derselbe hatte im dritten Sommer vier Füchse, drei Hasen und zwölf nordische Mäuse, gezähmt, an Bord. Parry besaß einen gezähmten Fuchs, er entkam mit der Kette. hatte in der Gesellschaft eines gezähmten Lemmings gelebt, Hayes in der eines Fuchses; mehrere dieser Thiere waren die beständigen Gäste auf der »Germania« in Grönland, und Kane hatte ein Rabe zur Verfügung gestanden, der die Nähe des Schiffes nie verließ. Wir waren ärmer als alle Andern; wir geboten nur über zuchtlose Mäuse. » Panem et circenses«, hielt die Mannschaft bei guter Laune. Ihre Tafel war besser bestellt denn vordem, als wir noch die Möglichkeit eines dritten Winters im Auge hatten und zu großer Sparsamkeit gezwungen waren; für Spiele sorgten die Mäuse. Sie verstanden es jedoch nicht, unsere Sympathie zu erwerben; ihr ganzes Trachten war nur auf Zerstörung gerichtet. Carlsen hatten sie einen Shawl und zwei Paar Strümpfe, Fallesich einen Shawl, Klotz einen Handschuh gefressen, einigen Anderen die Strümpfe aufgetrennt oder verschleppt. Scherzweise nahmen wir an, daß sie im Raum damit eine Abwehr gegen die Condensation der Feuchtigkeit trafen. Ueberall liefen sie ungenirt herum, hinter allen Kisten saßen sie wohlgenährt und in großer Zahl. Mit dem Fallen der Temperatur hatten sie sich immer mehr aus dem Raume zurückgezogen, um in die Wohnung der Mannschaft zu übersiedeln. Sie wurden gefangen aufs Eis gebracht, wo die klugen Thierchen vergeblich bestrebt waren, sich vor der Kälte zu retten, indem sie sich in den Schnee einscharrten. Schon nach wenigen Minuten waren sie erfroren, wurden sie nicht vorher von den Hunden gefressen.
Schon die letzten drei Wochen des November brachten uns ununterbrochene Finsterniß, weil der Himmel fast unausgesetzt bedeckt und das Wetter schlecht war; so geschah es, daß unsere Umgebung, obwohl aus unzähligen Eisklippen bestehend, den Eindruck einer düsteren und ununterbrochenen Fläche gewährte. Bereits am 31. October waren die meisten Sterne des nächtlichen Himmels schon um drei Uhr Nachmittags sichtbar, um vier Uhr herrschte wirkliche Nacht. Am 16. November war selbst Mittags auch großer Druck nur mit Mühe lesbar; am 18. November vermochte man von dem Titelblatte von Vogt's Geologie nur schwer die großgedruckten Worte: »Lehrbuch, Geologie, Petrefactenkunde« und »Carl Vogt« auf die Entfernung einer Spanne zu erkennen, am 13. December Mittags bei klarem Wetter war von diesem Titelblatte gar nichts mehr lesbar, von Ritter's geographisch-statistischem Lexikon nur noch das Wort: »Ritter's«, und zwar nur, wenn man das Buch gegen den Mond hielt, welcher zur Zeit im letzten Viertel stand. Am 5. November fand eine totale Verfinsterung des Mondes statt; er sank darauf für längere Zeit unter den Horizont, erst am 29. November kehrte er zunehmend wieder. Er beleuchtete jetzt eine Wacke, welche sich zwanzig Minuten südlich vom Schiffe gebildet hatte, und an deren hochaufgeworfenen Rändern das Eis nie zur Ruhe kam. Sie war etwa zwei Meilen breit, sehr lang und erhöhte unsere steten Besorgnisse, daß unsere Scholle durch Nordwinde wieder nach Süden treiben würde. Am 4. December erreichte der Mond in diesem Winter die höchste Declination; dann wurde es wieder finster, denn während seines Abnehmens war er gewöhnlich verschleiert.
Ich hatte darauf gerechnet, die wenigen Tage der Wiederkehr des Vollmondes zu einer mehrtägigen Wanderung nach dem Hauptlande hin zu benützen; doch das Wetter war Anfangs December so unbeständig, daß ich es nur bis zu einem wiederholten Besuche der Wilczek-Insel brachte, und selbst diese geringen Wanderungen, welche bei -30° R. und leichtem Winde stattfanden, waren mit der Gefahr begleitet, das Gesicht zu erfrieren oder die Hand, sobald ich, wie sonst, in leichten Wollhandschuhen vor einem Lampenlicht zu zeichnen versuchte. Ich benutze diese Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, daß ich die weit größeren Originale sämmtlicher Illustrationen dieses Buches an Ort und Stelle, also stets nach der Natur gezeichnet habe, und daß sie nachher in Europa keine Aenderung mehr erfuhren.
Bei einer solchen Excursion, die ich am 7. October mit den beiden Tyrolern nach dem Lande hin unternahm, beging ich die Unvorsichtigkeit, ihnen in Anbetracht der tiefen Temperatur etwas zu viel Rum zu geben, und bemerkte diesen Fehler erst dann, als Haller von der deutschen Orthographie zu sprechen anfing. Nichts beschäftigte ihn so sehr, als die Frage, warum das Wort »und« nicht mit einem t geschrieben werde. Klotz allein, der seit einiger Zeit schwermüthig geworden, behielt die unwandelbare Fassung des Philosophen; erst als wir zum Schiffe zurückgekehrt waren, erregte sein erhabener Gedankenaustausch mit Haller die Bewunderung und das Befremden der Zurückgebliebenen. Dann nahm er händedrückend Abschied von seinen Genossen, gleich Themistokles, Sokrates und Burnet, bevor sie in die Verbannung zogen, und verschwand mit dem Gewehr innerhalb der Trümmerreihen des Eises. Erst nach zwei Stunden hörten wir in der Cajüte davon; sofort beeilten wir uns, ihn aufzusuchen. In einzelne Trupps vertheilt, durchsuchten wir nun auf einige Entfernung hin den Umkreis des Schiffes, beständig gewärtig, ihn verwundet oder erfroren hinter einem der Eishügel anzutreffen; wir glaubten, daß Heimweh und der Gegensatz des jahrelangen thatenlosen Stilllebens an Bord des »Tegetthoff« mit dem beschwerlichen, aber in seiner Art genußreichen Gebirgsleben, woran er von Jugend auf gewöhnt war, ihn zu einer Handlung geistiger Störung geführt haben möchten. Zum Glück fanden wir ihn endlich, aber nicht so, wie wir besorgt hatten, sondern würdevoll wie immer, schweigsam sich dem Schiffe nähernd. Ohne Zweifel wäre es die schönste Zerstreuung für Klotz gewesen, mit einer Heerde eingefangener Moschusochsen täglich auf die Weide hinauszuziehen.
Auch in diesem Winter machten wir die Beobachtung, daß selbst die klarsten Nächte getrübt wurden durch einen seinen Schneestaubfall, durch den man die Himmelskörper wie durch einen Gazeschleier sah, der selbst im Lichte des Mondes nur schwach flimmerte und eigentlich nur durch ein Prickeln auf der Haut konnte wahrgenommen werden. Die Beständigkeit dieses Niederschlages trug nicht wenig dazu bei, das Werk der normalen Schneefälle und des Schneetreibens zu fördern, welches Hülle auf Hülle für unsere Umgebung brachte und ihr Umformen zu einem beständigen Begrabenwerden unseres Schiffes machte. Und obgleich die Region der größten Schneefälle weiter im Süden liegt, so beobachteten wir doch Anfangs März eine Schneeschichte von stellenweise 12 Fuß Tiefe rings des Schiffes; ihre normale Tiefe konnte nicht unter 4 Fuß geschätzt werden. Um den »Tegetthoff« selbst aber lagerte sich ein täglich wechselndes Chaos von Schneewehen und Thälern; im Beginne des Frühjahrs hörte das Schiff auf, aus der stetig steigenden Schneedecke hervorzuragen, obgleich es selbst im zweiten Winter vorne noch immer 11¾ Fuß und achter 4½ Fuß tauchte. Sein ursprünglicher Tiefgang war 13 Fuß. Oft war aber auch die Luft von einer unbeschreiblichen Menge treibenden Schnees erfüllt, und wenn der abnehmende Wind, sich zum Wehen vermindernd, die wallende Fluth sinken ließ, so fiel uns die Stille unserer Umgebung auf. Nur das Schiff begann noch zu knarren, unruhig zerrten die Taue eine Zeitlang, oder es rasselten die Masten; zuletzt war es nur mehr ein banges Seufzen, wenn der Wind durch die Seiten der »Wanden« strich, dann wieder Stille um uns und ruhiges Eisgeflimmer, beschattet vom wallenden Silberflor der Nebel.
Die Kälte nahm stetig zu, durchdrang alle ungeheizten Räume. Am 24. November betrug die Temperatur im Schiffsraume -8° R.; schon seit einem Monate war die Propelleraxe festgefroren und nicht mehr zu drehen. Spalten und Bersten des Holzes im Schiffe wechselte mit dem des Eises außerhalb; das untere Tauwerk, im Sommer straff gespannt, wurde wieder schlaff; fast alle Flüssigkeiten, die nicht unter besonderem Schutze aufbewahrt waren, nahmen eine feste Form an.
Am 23. November wurden sämmtliche Spirituosen des Schiffes bei einer Kälte von -26° R. ausgesetzt. Nach 1½ Stunden waren alle noch flüssig. Darauf sank die Temperatur bis auf -28° R. und nach weiteren 2½ Stunden erstarrten Wachholderbranntwein, Gin und Maraschino, nach weiteren fünf gefroren auch Kümmel und Bonekamp of Magebitter, während Rum und Cognac keine Veränderung erlitten. Ein anderes Mal gefror eine Mischung von 2 Theilen Alkohol und 1 Theil Wasser erst bei -35° R. und Cognac bei -38° R. Die gleichmäßig tiefe Temperatur hatte die Eisbildung seitdem so vermehrt, daß selbst das Bassin offenen Wassers, das wir im vergangenen Sommer freigesägt hatten, nun wieder mit einer mächtigen Decke überbrückt war, deren Stärke am 3. Jänner 3½, am 20. Jänner sogar 6½ Fuß betrug.
Der 21. December, die Mitte der langen Polarnacht, welche diesmal 125 Tage dauerte, war endlich erreicht. Obgleich wir auch an diesem Tag noch immer erkennen konnten, wo Süden lag, so hatte doch jede Dämmerung Nicht im astronomischen Sinne genommen, nach welchem die Dämmerung erst dann völlig erlischt, wenn die Sonne 16° unter dem Horizont steht. aufgehört, und sechs Wochen umgab uns ununterbrochene Finsterniß. Eisige Nacht lastete über der Einöde; das Auge irrte durch die wesenlose Finsterniß unwillkürlich zu den Sternen, welche Tag und Nacht in unverminderter Helle schienen, während die Schneefelder die Dunkelheit des nächtlichen Himmels besaßen. Eine menschliche Figur war selbst auf geringe Entfernung unkenntlich geworden. Um das Schiff zu zeichnen, mußte ich mich vor dieses in der Richtung des geringen mittägigen Dämmerungsbogens stellen und es durch einige Fackeln erleuchten lassen. Wandernde waren wie mit Blindheit geschlagen. Ging man auf eine anscheinend hohe Gebirgskette zu, über deren Einsattlung ein glühender Punkt, z. B. der Jupiter, schwebte, so stolperte man sofort über einen schwarzen Eiswall, anstatt, wie erwartet, nach einer Wanderung von Stunden zu einem hohen Berg zu gelangen; und wenn man ihn, den ferngemeinten Sattel, erstieg, stand der Planet fast im Zenith. Erst später, als die rothe Sichel des zunehmenden Mondes aufging, strahlenlos und phantastisch, trat etwas Dämmerung ein.
Die Sonne stand am 7. December 12 Grad und am 21. December selbst Mittags 14½ Grad unter dem Horizont. Selbst von Alpengipfeln von 120.000 Fuß Höhe, wie Plinius sie dachte, oder von jenen des Kaukasus, dessen Höhen nach der Vorstellung des Aristoteles sogar bis 230.000 Fuß emporreichen sollten, – selbst von solchen Bergeshöhen aus hätten wir sie nicht gesehen. Noch lange nachher brachte uns die Abnahme der südlichen Declination keine Verminderung der Dunkelheit; am 27. December war die Sonne erst um 20 Minuten gestiegen, sie brauchte noch sechzehn weitere Tage, um dem Horizont einen Grad näher zu rücken.
Auch auf Deck war es immer einsamer geworden. Das Mißtrauen, womit wir der im Eise eingetretenen Ruhe begegneten, hatte Weyprecht veranlaßt, das Schiff abermals nur zur Hälfte mittelst des Zeltes zu überspannen, und so wurde es, der täglichen Reinigung ungeachtet, die Lagerstätte von Schneewehen, welche, hart getreten, sich zu trügerischen Rutschbergen gestalteten. Aber auch sonst war der Raum zu freier Bewegung beschränkt, nicht allein durch das große Boot, welches zwischen den vorderen Masten stand, sondern auch durch das Maschinenhaus, den Bereitschaftsproviant, die mit Spiritus gefüllten Kisten – ein Gesundbrunnen für die Wache – durch die Kurbel der Pumpe, durch den Stand der mit explodirenden Kugeln geladenen Gewehre, durch Hundeställe u. s. w. Alle Treppen – Schneestufen – waren in Folge vergossenen Wassers vergletschert; um sie ungefährdet mit schneebedeckten Sohlen zu passiren, hätten wir sie sämmtlich polstern müssen. Bei schlechtem Wetter pflegten auch die Hunde noch unter dem Zelte zu stehen und es trotz der Finsterniß sehr übel zu nehmen, wenn man ihnen auf den Fuß trat, oder ein mißbilligendes Brummen zu erheben, wenn man sie von ihrem Lieblingsplatze vertrieb: dem unmittelbaren Lichtkreise der Lampe. Ja es gab Stellen unter Deck, wo nur ihre Freunde sicher waren, nicht zerrissen zu werden. Sumbu hatte nämlich die Gewohnheit angenommen, hinter einem Faß zu lauern und auf den arglos Dahinwandelnden hervorzuspringen, und Jubinal, sich einen Knochen von seinem Mahle aufzuheben und ihn Mittags vor der Eingangsthür in das Stiegenhaus zu verzehren. Die Mannschaft sah sich dann genöthigt, so lange auf Deck zu warten, bis der Weg zur Tafel wieder frei war. Lukinovich, der unersättliche Bettler, der Mann mit wenig Verstand und vielen Wünschen, stand gewöhnlich in einer Zeltnische, bereit, den Kommenden mit einer Bitte zu überfallen. Auch der Harpunier kam wohl noch hinzu, um über das Versiegen seiner Lichtquelle zu klagen, da ihm mit dem Bootsmann monatlich nur eine Flasche Petroleum zur Verfügung stand, oder um die seltene Gelegenheit zu benützen, mit Einem oder dem Andern norwegisch zu sprechen. Carlsen's Aufmerksamkeit galt übrigens vorzugsweise den Nordlichtern; er hielt sich persönlich verantwortlich für ihr »Gelingen«, d. h. für ihre prächtige Entfaltung. Alles Eisen hatte er von seiner Kleidung entfernt, um sie nicht zu verscheuchen. Zu all diesem leuchtete das Decklicht spärlich; Im Maschinenraume gefror das Petroleum schon am 26. November in der brennenden Lampe, so daß diese erlosch. Am 8. Jänner 1873 wurde Petroleum einer Temperatur von -34½° R. in einer Schale ausgesetzt; es nahm eine schmalzähnliche Dichtigkeit an. Im Uebrigen begann es schon bei -18° R. zu gefrieren. Weder Terpentinöl noch Salzsäure gefroren bei den von uns beobachteten Kältegraden. Gewöhnliches Oel aber wurde bei -30° R. steinhart. fremdartig glühte das Flämmchen in einer Umgebung, wo Alles auf Erstarrung deutete. Sein rother Schein entzündete das seine Schneegeflimmer, welches durch das Zeltdach herabsank. Besonders in der zweiten Hälfte des Winters, als das Deck immer mehr vereinsamte, ward auch die Decklaterne, den Menschen gleich, immer schlaftrunkener; ihr trübes Licht fiel ungesehen auf hartgefrorenes Segeltuch, beschneite Bretter, Schneewehen und geleerte Blechbüchsen.
Unter dem Zeltdach bewegten sich in der Regel auch Diejenigen von der Deckwache, welche in einem feindlichen Verhältnisse zur Kälte standen; in ihre sämmtliche Garderobe gehüllt – nur die Augen waren unbedeckt – und wie eine Kugel rollend, vermochte man in ihnen nur wandelnde Figuren zu erkennen, nicht aber Personen. Wie Eulen bei Tage, verkrochen sie sich hinter einem windgeschützten Zeltlappen; so ein Wachmann verrieth eigentlich nur durch sein glimmendes Pfeifchen, Außerhalb des Schiffes wurden zerbrochene Zigarren geraucht, denn der Frost bildete ein vortreffliches Deckblatt, sobald sie befeuchtet wurden. daß noch Leben in ihm sei.
Die Deckwache hatte das Wasserloch im Eise offen zu halten, auf Bärenüberfälle zu achten und bei den Ablesungen der auf dem Eise ausgesetzten Thermometer zu assistiren. Nach zwei Stunden war ihr Dienst beendet; pfeilschnell schoß der Abgelöste gleich einem harpunirten Wal in das »Logis« hinab, – der Eine kam von Sibirien, der Andere ging nach Sibirien.
Eine gewöhnliche Erscheinung auf Deck war ferner Derjenige, welcher das tägliche Quantum von Schnee zur Wasserbereitung herbeizuschaffen hatte. Obgleich das Schneedepot, in dem wir lebten, unerschöpflich war, so herrschte doch der Brauch, einen Vorrath von Schneeblöcken unter dem Deckzelt anzulegen, um bei schlechtem Wetter der Herbeischaffung enthoben zu sein. Einzelne aus der Mannschaft behandelten ihre Lieferungen mit der Gewissenhaftigkeit von Chemikern; indem sie den ungleichen Rückstand des Salzgehaltes im Eise oder Schnee beachteten, war es ihr Brauch, bevor sie eine Schneemine abzubauen begannen, vorerst Proben in die Küche zu bringen und das Gutachten des Kochs zu hören. Beim Schneeholen benützten alle die Kräfte der Hunde; nach beendetem Dienste sahen sich die Letzteren wohl oft entlassen, aber zu ihrem Erstaunen nicht auch ausgespannt. Ihre Geduld war endlich erschöpft, eines Tages fanden wir sämmtliche Zuggurten des Schlittens von ihnen abgebissen.
Für die Hunde begann mit Anfang December eine neue Aera. Außerhalb des Schiffes war ihnen ein großes Haus aus Schnee erbaut worden, darin ihre Hütten, strohgefüllte Kisten, mit den Namensaufschriften, wohlgeordnet in einer Gasse standen. Die Winterquartiere der Hunde sollen stets auf dem Eise angelegt werden; Die Eskimohunde überwintern am besten völlig schutzlos im Freien. der Aufenthalt unter dem Deckzelt ist gesundheitswidrig und störend und wird bei einer größeren Anzahl sogar zur Unmöglichkeit. Jeden Morgen öffnete der Tyroler Haller das Schneehaus; den Kopf voraus, drangen die Hunde mit erhobener Schnauze durch die Pforte auf das Eisfeld, um sofort zu – raufen. Kein Ruf, kein Schlag, selbst nicht das Abfeuern eines Gewehres trennte den Tigerknäuel; das Begießen mit Wasser bei einer Temperatur von -30° R., ein barbarisches Mittel, half nur bei der Jugend. War dies vorüber, so ging ihr nächstes Ziel dahin, irgend Jemanden, der inzwischen auf Deck getreten, zu überfallen und durch Heuchelei zu gewinnen. War es nicht zu dunkel, so starrten sie den Erscheinenden zunächst aus der Ferne an, um ihn zu erkennen und seine Freigebigkeit zu prüfen. Wie lebendige Fragezeichen drehten sie spähend die Köpfe, weil die Kleidung selbst ihre besten Freunde oft unkenntlich machte. Hatten sie aber einen erkannt, so stürmten sie auf ihn zu, und mit der Eile des Neides boten sie alle möglichen Kunststücke auf, um ihn zu gewinnen. Da setzte es ein tolles Aufwarten, Bellen, Husten, Wedeln, Nasenreiben ab, das mit der einen Pfote geschah, während sie den begünstigten Nachbar mit der andern stießen; knurrend sprangen sie über einander, zerrten ihn an den Kleidern, bissen ihn in die Taschen, und stießen ihre Nasen bettelnd an ihm stumpf. Erschien dann eine andere menschliche Figur auf Deck, so waren die Heuchler alle wie weggeblasen; war nichts mehr zu erwarten, so ging es ans Jagen und Spielen. Jeder machte seinen Morgentrab, visitirte die Stellen, wo er gestern im Schnee ein Stück Brod versteckt, oder einen Seehund verscharrt hatte, und indem er den Schnee mit der Schnauze vorschob und wieder sorgsam glättete, versicherte er sich, schlau zur Seite blickend, der Abwesenheit von Zeugen.
Endlich nimmt ihr Ungestüm etwas ab, wir können sie einzeln beobachten. Der rothe Riese hier, der wie ein Bär seine gewaltige Tatze reicht, trägt den Namen eines Gottes der lappischen Heidenzeit: »Jubinal«. Sein bisheriges Leben umschlingt der Zauber der Sage. Ein sibirischer Israelit, so hieß es, hatte ihn aus dem Norden Asiens heimgebracht über den Ural. »Jubinal« ist der Sieger in allen Schlachten, der Schlitten-Anführer, und vier Mann zieht er auf ebener harter Bahn ohne Anstrengung. In Bremerhafen hatte er am Tag vor der Abfahrt ein Schaf zerrissen. Jeden Sommer litt Jubinal an plötzlichem Haarwechsel; er trug dann ein Kleid aus Segeltuch, das ihm die Matrosen gespendet hatten. Bop folgte ihm an Kraft am nächsten, übertraf ihn jedoch an Weisheit, Matotschkin an Schwermuth; stundenlang pflegte dieser sinnend auf gestapelten Kisten zu weilen und aufs Eis zu blicken. Bop und Matotschkin waren Neufundländer; der erste erlag der Kälte und Finsterniß im ersten Winter, der letzte ward von einem Bären fortgeschleppt und zerrissen. Zu den Neufundländern zählten ferner die Hündinnen »Nowaja« und »Semlja«; die erste kam schon im ersten Jahre um, die letzte lebte noch; aber sie war ihrer Trägheit wegen vor dem Schlitten wenig verwendbar. Nur das eine Verdienst galt ihr unbestreitbar, die Mutter des hoffnungsvollen Sohnes »Toroßy« zu sein. »Toroßy« war, groß geworden, der Stolz der Expedition. Die Natur hatte ihn gesegnet mit allen Gaben, die sie sonst nur dem Eisbären verleiht. Er kannte keine andere Welt als das Eismeer, keine andere Bestimmung als Schlittenziehen; schon seit dem Anfange dieses Winters hatte er sich diesem Berufe mit Eifer gewidmet. Im glücklichen Uebermuth seiner Unwissenheit wedelte er den ganzen Tag auf Deck umher; auf dem Eise ging er wedelnd den Menschen nach, wedelnd zog er den Schlitten, wedelte selbst dann noch, wenn ihm Sumbu sein Essen stahl, wedelte selbst vor dem Rachen eines Bären. Gillis, der fünfte Neufundländer, war der große Kämpfer, der unversöhnliche Feind »Jubinal's«. Niemand an Bord liebte ihn, weil er die beiden Katzen umgebracht hatte, die wir von Tromsö als Spielzeug für die Hunde mitgenommen hatten. Sein Leib war mit Narben bedeckt; die Hälfte seiner Zeit verbrachte er im »Spital« der Tyroler. Den Menschen gegenüber war er zwar gelehrig, aber ein Augendiener; seine scheinbare Anstrengung vor dem Schlitten war nichts, als Heuchelei. Pekel, der Lappe, war der kleinste der acht Hunde. Vordem hatte er Renthiere am Nordcap und auf den Weiden des Tana-Elfs gehütet. Niemals zum Ziehen angehalten, war er sehr dick geworden. Sein Sinn war nicht hier im Eise, sondern bei der braunen Heerde, die fern im Süden am Fuß des Kilpis lagerte, was ihn sehr unverträglich machte, namentlich gegen Sumbu, dessen bloßer Anblick genügte, jedes friedliche Verständniß zu vereiteln. Einen Monat hindurch wurde er deßhalb mit seinem Hause auf eine hohe Eisklippe verbannt; als dies Haus jedoch der thauenden Schneestütze beraubt wurde, stürzte es mit seinem unglücklichen Bewohner in einen Eissee hinab.
Der verschlagenste Heuchler unter den Hunden aber, der stets unzufriedene und doch scheinbar stürmische Freund, war Sumbu. Er war anfangs sehr entrüstet, als er sah, daß sich seine Collegen zum Schlittenziehen hergaben, der erste, welcher sich mit eingezogenem Schweif davonschlich und die verborgensten Schlupfwinkel aufsuchte, wenn er sah, daß die andern Hunde eingespannt wurden, und der, wurde er endlich hervorgezogen und eingespannt, sich sofort auf den Schlitten setzte, um sich ziehen zu lassen. Dann aber pflegte ihm keiner der Hunde schnell genug zu ziehen, und er war unablässig bemüht, sie durch sein Gebell anzuspornen. Mußte er durchaus selbst ziehen, so war er nicht mehr zu erkennen; er war dann kein Fuchs mehr, seine verfallene Fellmasse glich vielmehr einem gerupften Vogel. Sumbu war beständig in Bewegung, unerreichbar im Springen und Laufen, unerschöpflich in der List wie im Spiel. Jetzt trug er dem Zimmermann einen Reif, dem Heizer einen Beutel mit Nägeln oder eine Flasche fort, oder er legte sich glatt auf den Bauch nieder und die lange Schnauze vor sich hin in den Schnee. Näherte man sich ihm, so sprang er mit katzenartiger Behendigkeit auf; diese kam ihm auch zu statten, alle Mäuse zu fangen, die sich über das Deck wagten. Weder die Proviantdepots der Hunde, noch die Fleischdepots der Matrosen waren vor ihm sicher. Bären haßte er so grimmig, daß er wie ein Wolf zu heulen begann, wenn er während der Jagd auf sie angekettet war; kühn folgte er sonst ihrer Fährte, weithin allein und zwar dicht auf den Fersen. Wenn der Hundeaufseher Klotz zur Zeit der Fütterung seinen Bauch visitirte, begann er zu knurren, weil er fürchtete, satt zu scheinen; die Bärenfurcht Einzelner benützte er schalkhaft dazu, sie bellend auf das Eis zu locken, wo er sich im Schnee wälzte. Sumbu war ein langhaariger schwarzer Renthierhund und hatte auffallende Aehnlichkeit mit einem Fuchse; ich hatte ihn nach meiner zweiten Expedition aus dem Innern Lapplands (1871) nach Wien mitgebracht. Den Namen Sumbu, d. h. sanft, still, hatte ihm sein erster lappischer Herr gegeben, – sehr unverdient. Sämmtliche Hunde wurden täglich einmal gefüttert, und zwar mit Bärenfleisch, Thran oder getrocknetem Pferdefleisch. Von Letzterem hatten wir 1400 Pfund aus Bremerhafen mitgenommen. Sie kannten die Stunde der Fütterung, und bevor sie nahte, waren sie schon versammelt. Regelmäßige Rationen erhielten nur die Neufundländer; Sumbu und Pekel waren schon vom ersten Herbst an der öffentlichen Milde empfohlen worden. Ueber Nacht wurden sie in das Haus gesperrt; stand Schneetreiben bevor, lagen sie, schon vorher in einen Knäuel zusammengeworfen, vor dessen Thüre. Das Hundehaus war etwa acht Fuß hoch; allein die ungeheuren Schneeverwehungen brachten es mit sich, daß man nach Verlauf weniger Wochen davon nichts mehr sah, sein Dach und das allgemeine Schneeniveau bildeten zuletzt eine ununterbrochene Fläche. Eine Zeitlang hielten wir durch tägliche Ausgrabungen einen Schacht offen, durch welchen die Communication mit seinem Innern stattfand; doch als im Februar ein Sprung im Eise quer durch das Haus stattfand und dieses mit Seewasser füllte, mußte es definitiv geräumt werden.
Ende December kehrte auch für uns Bewohner des Eismeeres die Zeit jener Feste wieder, welche die gesammte christliche Welt in Bewegung bringen – Weihnachten und Neujahr. Um sie gemeinsam und würdig zu begehen, hatten wir ein Haus aus Schnee erbaut, sein Inneres mit Flaggen geschmückt und mit einem Christbaum, der eigentlich nur ein hölzerner Igel oder ein spanischer Reiter war. Um sechs Uhr Abends waren alle Vorbereitungen zu Ende; die Schiffsglocke, trostlos hallend in die finstere Nebelluft, rief uns hinaus auf das Eis in die blendende Pracht unserer Schneehöhle. Hier fand die Mannschaft einige jener Überraschungen, womit sie das gezogene Los bescheerte: eine Partie Cigarren, Uhren, Messer, Holzpfeifen, etwas Rum u. dgl., Geschenke, welche wir Freunden aus Wien, Pola und Hamburg verdankten. Höher im Werthe als alles Andere stand ein Stückchen Seife; ihr Anblick war sehr selten geworden. Darauf folgte das Festmahl, wie im vorigen Jahre; doch es war sozusagen Niemand mehr recht bei der Sache, zu lange schon waren wir abwesend von der Heimat, nur unsere Leiber waren noch gegenwärtig, der Geist jedoch war aus ihnen entflohen und weilte unter den fernen Freunden. Schlimmer noch als uns erging es J. Roß; er bemerkt bei seiner zweiten Ueberwinterung in einem ähnlichen Falle: »Wir waren gelangweilt durch den Mangel an Beschäftigung, an Veränderung, an Mitteln zu geistiger Thätigkeit und Nachdenken, und warum sollte ich es nicht sagen, an Geselligkeit.« Unmittelbar daneben lag unser Gefährte Krisch krank darnieder an Scorbut und Lungentuberculose!
Heiter verlief dagegen der Sylvesterabend; immer begründeter schien die Erwartung, daß das Jahr 1874 uns endlich die ersehnte Thätigkeit und die ehrenvolle Rückkehr nach Europa bringen müsse. Kaum hatte das neue Jahr Für uns 1874 um ungefähr 3½ und 1873 um ungefähr 4 Stunden früher als in Wien. So groß war also der Zeitunterschied zwischen dieser Stadt und dem »Tegetthoff«. begonnen, so klopften auch schon die Gratulanten an den Cabinenthüren; Lukinovich erschien bereits um fünf Uhr Morgens, und den ganzen Tag hindurch, wohin man sich auch wandte, war man von Glückwünschenden umringt; auch hier war diese Beschäftigung nicht ganz ohne Erfolg.
Im Uebrigen verlief dieser zweite Winter nach wie vor ohne die furchtbaren Ereignisse des vorangegangenen. Dicht gedrängt lagen ringsum die Schollen, und befanden wir uns auch in keinem Hafen, um den Winter bequem zu überdauern, gleich einem Bären im Winterschlafe, so ließ uns die bisherige Stetigkeit im Eise dennoch hoffen, daß unsere Scholle auch fernerhin in der bisherigen Position verharren würde. Allerdings war auch diese Hoffnung ein Spielball des Windes; traten Nordstürme ein, so war es in hohem Grade wahrscheinlich, daß das Eis aufbrechen und auseinandertreiben werde.
Das Leben, das wir jetzt im Innern des Schiffes führten, hatte aufgehört, irgendwie beschwerlich zu sein, und für jene, die selten ins Freie kamen, bestätigte sich der Satz, daß erheiternde Lectüre gesünder sei als Körperbewegung. An den nothwendigen Lebensbedürfnissen litten wir keinen Mangel; Zu den geringen Veränderungen, welche in der Abnahme oder Verschlechterung unserer Vorräthe lagen, gehörte es, daß unsere Butter verdarb, so daß wir die Mehlspeisen fortan mit Schweinefett, oder Oel und Sauerteig bereiteten. die mittlere Temperatur der Wohnräume war in der Regel +15 bis +18° R.; daher bedurften wir selbst bei stundenlangem Stillsitzen nicht einmal der Röcke. Es wäre ein großer Irrthum, sich den Aufenthalt auf dem Schiffe beschwerlich oder gar gefährlich vorzustellen; denn selbst die lange Nacht ist nur für Denjenigen düster, drückend und endlos, der durch Müßiggang Zeit gewinnt, die lange Last ihrer Stunden zu zählen. Natürlich gab es auch in diesem Winter einige der schon früher genannten Uebelstände, bei deren Nennung der Leser nur zu sehr geneigt ist, sich eine Eishöhle statt eines Zimmers vorzustellen. Schon am 16. October war das Skylight dermaßen frostbedeckt, daß wir selbst Mittags kaum lesen konnten; schon vier Tage darauf waren wir genöthigt, unsere Lampen beständig in Brand zu erhalten und das Skylight einzudecken, wodurch die Cajütennacht noch vor der wirklichen Nacht eintrat. Mitte November begann die Condensation der Feuchtigkeit fühlbar zu werden; die großen Nägel der inneren Schiffswand und ihre eisernen Kniee wurden feucht und vereisten, die Bettdecken waren häufig an der Wand angefroren und mußten losgerissen werden, bevor man sich zur Ruhe begab. Doch was lag daran, da Alle vortrefflich schliefen und auch während des Tages eher über Hitze als über Kälte zu klagen hatten? Minder glücklich war die Mannschaft; da wir nicht das Beispiel von Hayes und Anderen nachahmen konnten, den Inhalt des Raumes ans Land zu schaffen und diesen den Wohnräumen einzuverleiben, so herrschte an Bord die Unbequemlichkeit der Uebervölkerung, und die Feuchtigkeit ward dadurch so vermehrt, daß einzelne Cojen völlig durchnäßt waren, weßhalb die Anwendung von Hängematten in künftigen Fällen sehr zu empfehlen ist.
Die Zahl der Scorbutkranken nahm erst gegen das Frühjahr etwas ab; ihr Zahnfleisch erhielt wieder das frische, normale Aussehen, die allgemeine Schwäche, Schmerzhaftigkeit der Glieder, bleierne Schwere der Füße und Muthlosigkeit ließen nach, die scorbutischen Flecken entschwanden an ihrem Körper. Nur Vecerina lag fast unausgesetzt und mit gekrümmten Gliedern im Bett; heftige Kopfschmerzen waren bei ihm wie bei Krisch eingetreten, und wenn er dann und wann auf Deck erschien, so mußte er sich der Krücken bedienen. Pachtusow hatte sich bei seiner Ueberwinterung auf dem an Treibholz reichen Nowaja Semlja der zweckmäßigen Maßregel bedient, seine Leute wöchentlich einmal in einer Hütte am Lande baden und zweimal die Wäsche reinigen zu lassen, wenn er auch nicht im Stande war, dadurch allein den Scorbut zu bekämpfen. Bäder befördern die Feuchtigkeit eines überwinternden Schiffes jedoch in solchem Maße, daß wir sie fast gänzlich einstellen mußten; die Wäsche konnte nur im Verhältniß zu unserm Vorrath gewechselt werden, da wir nicht im Stande waren, sie zu waschen und die Nässe unserer Wohnräume nicht, wie J. Roß, dadurch vermehren wollten, daß wir sie wöchentlich gewaschen und beim Ofen getrocknet hätten. Der Ausbreitung des Scorbutes konnte also nur durch die Verbesserung der Ernährung gesteuert werden. Mehrere Centner getrocknete Erdäpfel und einige hundert Büchsen conservirte Gemüse waren für den zweiten Winter aufgespart worden; sie kamen jetzt in Gebrauch, was für uns um so wichtiger war, als der geringe Rest unseres ursprünglichen Vorraths von hundert Flaschen Limoniensaft, das wichtigste antiscorbutische Mittel, dem völligen Versiegen nahe war. Auf Anrathen unseres Arztes Dr. Kepes Nicht wenig schwierig ist die Stellung des Arztes in einem Klima, das ihm manche Mittel raubt, die er anderswo von der Natur erwartet. Hier setzt sich selbst der Krankenwärter, wenn er vom Deck herabkommt, wie ein lebendiger Eisberg hin, thaut erst nach Stunden auf, und eine Landluft, bei welcher das Quecksilber gefriert, empfängt den schneeumwirbelten Reconvalescenten, sobald er ins Freie tritt. Zu diesen Uebeln kommt noch der Kampf für seine Diagnose, den er täglich zu bestehen hat, gegenüber den Privat-Heilmethoden. Da ist das aromatische Verfahren Carlsen's, die Cur mit dem sympathetischen Blick, dort lassen die Aelpler einen erfrorenen Fuß »aufg'frieren« – beim Ofen und im Stiefel – »süscht kannt's'n derwuschen«. Umschläge werden nur aus Gefälligkeit und nach langem Zögern gemacht. »Hiob« verweigert jede Medicin außer dem Wein, störrig begegnet er dem Rath des Doctors; aber ruhig läßt er sich untersuchen und den siechen Leib wenden vom Magier Klotz, welcher den Schmerz des Leidenden stoisch leugnet. Wenn diesen Aelplern durch Zufall ein medicinisches Buch in die Hand fällt, und sie als Wärter am Krankenlager des Doctors im Rokytanski, Bamberger, im Virchow oder in Griesinger's Psychiatrie blättern, wenn sie in Dillnberger's Receptirkunde ein Recept unterstreichen, von dem sie sich die beste Wirkung versprechen, ohne daß sie es lesen können! Sie bestehen auf ihrem gestampften Glas und dem Spiritustrunk gegen Magenschmerzen, verordnen ½ Pfund Schießpulver gegen Typhus, obgleich Klotz selbst bekennt, es einst ohne Erfolg benutzt zu haben; sie empfehlen ferner Waschungen mit Lauge und einen Absud von Brombeerblättern gegen Kahlköpfigkeit, – Klotz aber ist kahl wie Cäsar; eine Kampferspirituslösung wollen sie lieber innerlich als äußerlich angewandt sehen. Wenn da der Arzt aus dem Schlafe erwachend so unsinnige Concilien hört, oder die studirende Einfalt sieht, verdankt er, vom Lachen überwältigt, seine Genesung nicht ihnen? Und welche Krankheit wäre zu heftig, um nicht sofort zu erlöschen, wenn der ernste Klotz sich erhebt, würdevoll abgewandten Blickes den Puls prüft und beifällig brummend constatirt: »Joa! die Zunge ist noch ganz gut, sie wackelt noch.« Wehe aber Demjenigen, bei welchem diese Leute in ihrer fanatischen Beharrlichkeit ungehindert mit der Anwendung ihres Heilverfahrens durchdringen. Haller rieb einmal den Arm des schlafenden Doctors mit Alkohol ein und zündete diesen an; »im Schlaf zieht's eini und brinnt's aus«. Welch' ein Triumph war's für ihn, als der aufgeschreckte Kranke nach einer Weile in den sanften Schlummer der Ermattung fiel. waren wir auch von der bisherigen Maxime der Polarexpeditionen, starke geistige Getränke zu vermeiden, abgewichen; schon seit dem Monat October hatte unsere Mannschaft täglich anderthalb Flaschen Branntwein erhalten. Wenn ich den periodisch schwankenden Gesundheitszustand der Mannschaft des »Tegetthofs« mit dem auf der »Germania« während meiner ersten Expedition verglich, die fast gänzlich ohne innere Erkrankungen verlief, so konnte ich keine anderen Ursachen dafür auffinden, als die geringere Widerstandsfähigkeit einiger von unseren Leuten, in Verbindung mit der moralischen Depression, welche unsere Lage erklärlich machte.
Kaum irgend einer Krankheitsform ist der Polarfahrer so sehr ausgesetzt, als dem Scorbut, und sein Auftreten übt auf Alle den unheimlichsten Eindruck aus. Seine eigentlichen Ursachen sind noch wenig bekannt; dagegen sind die Mittel, ihn zu bekämpfen, so zahlreich geworden, daß er gegenwärtig nicht mehr so heftig erscheint, wie zur Zeit des Barentz, dessen wenngleich kurze Sommerexpedition 1595 davon befallen wurde, oder zu der von Münk's Expedition, 1619, welche gänzlich ausstarb bis auf zwei. Bei Behring's Expedition, 1741, erkrankten unter 76 Mann 42 am Scorbut, 30 starben. Von den 70 Mann der Tschirikoff'schen Sommerexpedition desselben Jahres starben 20. Roßmyslow, der 1768-69 im Matotschkin-Schar überwinterte, verlor 7 Mann von 13. Lassinius' Expedition zur Erforschung der Lenamündungen, 1735, verlor bei ihrer Ueberwinterung 43 Mann von 52. Das Ueberhandnehmen des Scorbuts, dessen erstes Symptom bekanntlich in der Lockerung des Zahnfleisches besteht, ist mit dem Aufhören der Leistungsfähigkeit einer Expedition gewöhnlich identisch. Lasarew, der 1819 zur Ueberwinterung und Erforschung Nowaja-Semlja's ausgesandt wurde, mußte noch im Hochsommer zurückkehren, da alle seine Leute am Scorbut erkrankt waren. Namentlich bei den Ueberwinterungen auf Nowaja Semlja war der Scorbut eine überaus feindselige Gewalt, die zahllose Opfer forderte. Allerdings waren diese Expeditionen in der Regel auf das dürftigste ausgerüstet; ihre antiscorbutischen Mittel bestanden fast nur in dem heilkräftigen Löffelkraut des Landes. Pachtusow verlor 1832-33, im Süden Nowaja Semlja's überwinternd, von 10 Mann 3 am Scorbut; die ersten Anzeichen desselben wurden erst im März beobachtet, 1834-35 starben ihm 2 Mann. Bei der Expedition von Ziwolka und Mojsejew, 1838-39, nahm der Scorbut so überhand, daß schon im Februar die Hälfte der Mannschaft erkrankt war und nebst Ziwolka selbst noch 8 von 28 Mann starben.
Parry sah Feuchtigkeit, besonders die des Bettzeuges, als den wesentlichsten Grund des Scorbuts an und bediente sich bei seiner Ueberwinterung auf der Melville-Insel monatelang des Sauerampfers mit großem Vortheil. Dem Biere legte er unter allen geistigen Getränken die größte antiscorbutische Wirkung bei; Bier und Wein vertraten bei ihm, wie bei den meisten englischen Expeditionen, die Stelle des Branntweins.
Der tödtliche Ausgang des Scorbuts pflegt nur übermäßigem Blutverlust zu folgen, oder dann einzutreten, wenn die Krankheit in Wassersucht ausartet. Bei J. Roß' zweiter Expedition litten die Meisten mehr oder minder am Scorbut, und es zeigte sich, daß vegetabilische Nahrung, besonders Mehl, wenig geeignet war, dagegen anzukämpfen. Dagegen betrachtete er den Nahrungszuschuß an Fischen und Robben als sein wirksamstes Gegenmittel; auch dem Thran schrieb er eine antiscorbutische Wirkung zu.
Limoniensaft, rohe Erdäpfel, säuerliches Obst (doch nicht mineralische Säuren), frische Gemüse und frisches Fleisch, Wein, Bierhefe, Bewegung in frischer Luft und Heiterkeit haben sich nicht in allen Fällen als hinreichend erwiesen, sein Erscheinen zu hindern, oder auch nur besonders zu erschweren. So beachtenswerth sie auch als vorbeugende Mittel sind, so hört ihre Wirkung doch fast auf, ist die Krankheit einmal ausgebrochen. Der Limoniensaft muß im Zustande frischer Bereitung und gleich dem Essig möglichst concentrirt mitgenommen werden, weil er sich nicht nur nach dem Verlauf einiger Jahre, sondern auch durch Gefrieren zersetzt und unbrauchbar wird, wie dies bei jenem der Fall war, welchen J. Roß unter den ans Land geschafften Vorräthen der »Fury« fand. Nach Kane soll auch der Genuß von Papaver nudicaule antiscorbutisch wirken.
Dem Tabakkauen der Seeleute hat man wohl mit Unrecht eine antiscorbutische Wirkung beigelegt, dem unzureichenden Genuß von Wasser, dem Genuß gesalzenen oder gepökelten Fleisches, der Unredlichkeit, und langandauernder Einwirkung strenger Kälte, oder großer Empfindlichkeit für diese eine dem Scorbut förderliche. Die Tropen ausgenommen, ist es eine Erfahrung, daß der Scorbut vorzugsweise dem Winter und Frühjahre angehört; unzweifelhaft ist es, daß dürftige Lebensweise sein Auftreten erleichtert. Es scheint, daß die Empfänglichkeit für den Scorbut unter den Völkern der Erde überhaupt sehr verschieden ist, und daß weder zureichende vegetabilische noch animalische Nahrung dagegen ein vollkommenes Präservativ bildet. Die Eskimo's und selbst die Lappen, die nie oder selten vegetabilische Nahrung genießen, bleiben von ihm fast verschont; Mac Clure's Mannschaft hingegen wurde im zweiten Winter scorbutkrank, obschon sie wöchentlich dreimal frisches Fleisch erhielt. Steller erzählt, daß der Scorbut in Kamtschatka nur die Fremden befalle, nicht aber die Eingebornen, welche sich reichlicher Pflanzennahrung bedienen, und daß Scorbutkranke daselbst schon durch den Genuß der ersten frischen Fische des Frühjahres geheilt werden. Jansen, ein Walfischfänger, berichtet, daß der Genuß von einem gebratenen Walfischschwanz einen Mann, der schwer am Scorbut darniederlag, in wenigen Tagen völlig genesen machte. Hinsichtlich des Scorbuts konnte sich unser, obgleich noch junger, aber in jeder Hinsicht trefflicher Arzt Dr. Kepes reiche Erfahrungen sammeln. Stand ihm auch das allgemein anerkannte Antiscorbuticum, Citronensaft, nur in sehr geringer Menge zu Gebote, so bekämpfte er den Scorbut dennoch mit Erfolg. Im ersten Winter hatten wir dreizehn Scorbutfälle, zwei mit Herzbeutelwassersucht combinirt, und im zweiten Winter drei schwere Fälle. Dr. Kepes hält dafür, daß Citronensaft als Präservativum ausgezeichnete Dienste leiste, bei ausgebrochener Krankheit jedoch von geringer Heilwirkung sei. Temperatureinflüsse betrachtet er von großer Wichtigkeit. Bei naßkalter Witterung verschlimmerten sich die Krankheitsfälle, bei kaltem, trockenem Wetter verbesserten sie sich. Bei scorbutischen Mundaffectionen hält er das von Professor Billroth angegebene Heilverfahren am zweckmäßigsten: die Wucherung mit der Scheere abzutragen und mit Salzsäure zu bepinseln.