Balder Olden
Flucht vor Ursula
Balder Olden

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Erstes Kapitel

 

Blux kam auf einem norwegischen Segelboot, einem tüchtigen Dreimastschoner, der Stockfisch gefrachtet hatte, nach langer und sehr stürmischer Fahrt aus Island zurück. Er hatte unterwegs norwegisch gelernt und dazu viel von der Kunst des Segelns. Jeder Mann an Bord hatte ihm seine Geschichte erzählt; mit ein paar Matrosen, dem Schiffskoch und dem Kapitän fühlte er sich Freund fürs Leben. Selbst in stillen Nächten an Deck hatte er keine Minute mit Nachdenken über das eigene Schicksal vergeudet.

Da waren die achtzehn Monate seiner Reise ganz plötzlich zu Ende, er stand einsam am Hafenkai und wußte nicht, ob er sein einstiges Heim, Ursel, Peter aufsuchen wollte. Europa fiel ihn an, heimtückisch und unerwartet.

Sein erster Impuls war, nach Bremen zu fliegen. In dieser Stunde durfte es auf ein paar Pfundnoten nicht ankommen, sie war symbolisch für die Zeit, die ihn erwartete. Aber zum Glück gab es 8 für diesen Tag keine Luftverbindung mehr, und zudem war es gleichgültig, ob er einen halben Tag früher oder später ankam.

Im Hotel nahm er sich vor, erst die Fühler auszustrecken, Bremen auf sich zukommen zu lassen und alles vorzubereiten. Aber dann drängte es ihn, sein Abenteuer gleich zu bestehn. Ein Jahr lang hatte er an Ursel nicht gedacht!

Er war gebadet, rasiert, frisch gekleidet, das gab ihm für eine Stunde besondere Sicherheit. So nahm er ein Taxi und fuhr »nach Haus«. Im Fahren spürte er: Etappen dieses kurzen Lebens kann man in allen Weltteilen nicht von den Stiefeln treten. Die Zeit verlöscht nichts!

Da war das Haus, das ihm einst viel Kummer gemacht, – ihm war zu Mut, als sei er gestern hinausgegangen. Aus dem Baby war jetzt wohl ein Männlein geworden; vielleicht führte Ursel einen anderen Namen, vielleicht saß ein anderer an seinem Arbeitstisch.

Trotzdem würde ihnen sein, als hätten sie sich gestern gezankt und getrennt.

Im Vorgarten spielte sein Sohn, im Lederschürzchen, und eine blonde Haarwelle stand über seinem Scheitel wie ein Hahnenkamm. Er grub und schaffte mit großem Eifer und ließ es den Wagen vor seinem Gitter merken, daß er beschäftigt war. Aber als der Mann im seltsam gefärbten und sehr englisch-eckigen Reisemantel, ohne Hut, ein 9 komisches Glas im Auge, ausstieg, mußte der Vierjährige doch seine Blasiertheit lassen. Er pflanzte sich mitten im Gartenweg auf, ließ den Fremden nahe kommen, zeigte eine ernste, nicht unfreundliche Miene.

»Sie kenn ich! Sie sind mein Bappa!«

»Das ist richtig,« antwortete Blux verlegen. Er bückte sich, der Dreißigjährige und der Vierjährige prüften einander. Ihre Gesichter stimmten, – einer fand den andern.

»Ist Mama zu Haus?«

»Natürlich.« Der Kleine war nachdenklich und gab sich reserviert zum äußersten.

Schließlich ließ er sich doch, um eben Konversation zu machen, zu einer Frage herab.

»Wie lang sind Sie weg gewesen?«

»Lang. Du warst damals noch klein. Wie kommt's, daß du mich wiederkennst?«

»Weiß nich.«

Im Hause wurde er lebhafter. Dem Mädchen stellte er gleich vor: »Mein Bappa.« Dann rannte er durch die Zimmer.

»Mutti, Bappa is da! Mutti!«

Er kam zurück, musterte seinen Erzeuger, der Mütze und Mantel abgelegt hatte, noch einmal sehr streng und erklärte feierlich wie ein Herold:

»Sie sollen man reinkommen.«

Es war gerade Kaffeezeit, das nahm dem Moment alle Feierlichkeit. Ursel trug noch eine Tasse und 10 ein Gedeck für Blux auf. Ihre Bewegungen und ihr Profil einer zarteren frommen Helene erschien ihm wie etwas, das man nur geträumt hat und plötzlich lebendig sieht.

Dann schüttelten sie sich wie Freunde die Hand. Das hätte leicht verhängnisvoll werden können, denn Ursel wurde weiß, als sollte sie umfallen. Aber das Mädchen erschien mit dem Tablett, alles duftete nach Kaffee, Blux saß ganz rasch hinter seiner Tasse, und nun konnte eine Szene nicht mehr aufkommen. Man schwieg nur, solange das Mädchen im Zimmer war.

»Die Käte hast du weggeschickt? Ich dachte bestimmt, ich finde sie wieder vor. Das war eine nette Person!«

»Weißt, die hat immer von dir gesprochen. Taktlos, gelt?«

»Natürlich taktlos. Und die Neue, wie heißt die?«

»Dorl,« rief Peter. »Kann nix, haut alles kaputt.«

»Und du? Du gibst ihr wohl gute Ratschläge?«

»Ach geh, der kommandiert – –,« sagte Ursel, die sich mit Kaffee, Brot, Butter und Honig um die eigene Vesper bemühte, als ob sie lang gehungert hätte. Als ihr Teller arrangiert war, sprach sie bös, – ohne einen Blick nach Peters Platz – »den ganzen Tag kommandiert er!« 11

Der Bub hatte gerade mit beiden Händen seine große Tasse gepackt und sein ganzes Gesicht hineingesteckt. Jetzt schob er sie rasch zurück und warf Ursel einen Blick zu, so voll von Vorwurf, daß sie erschrak und dann auflachte.

»Geh, Strolch!«

Aber sie wußte wohl, was der Blick sagte: »Wollen wir eigentlich zusammenhalten, oder machst du Partei gegen mich?«

»Schulmeister!«

Sie zeigte furchtlos auf den wütenden Bubi. »Immer an mir rumerziehen!«

»Er wird seine Gründe haben.«

»Ich folg ihm eh.«

»Im ganzen steht ihr aber gut miteinander?«

»Manchmal.«

»Und wenn ihr verkracht wart, – wer kommt dann zuerst an?«

»Oho! das möcht ich mir ausgebeten haben, daß er zuerst kommt!«

»Er weiß also auch schon, daß es schwer ist, mit Frauen zu leben, aber unmöglich ohne sie!«

»Der – ohne Frauen!«

Bazi kommandierte: »Mama, Brot!«

»Der arme Junge! Er wird also auch nichts! Der dritte unseres alten Hauses, aus dem nichts wird. Mein Vater, der mir bekanntlich wenig Freude bereitet. Ich, dann er. Drei Nonvaleurs auf einem alten Stamm.« 12

»Geh, Blux. Von mir ist er wohl kein Sohn?« Ursel besann sich plötzlich auf ihr Amt als Hausfrau und schob alle Lebensmittel zugleich an Blux heran. »Also, nimm doch schon was!« Dann gab sie dem Bazi, dann kam abrupt:

»Lesen kann er schon. Am liebsten Zahlen, die ganzen Trambahnbilletts lernt er auswendig.«

»Er hat keins mitgebracht,« klagte der Bazi »immer die dummen Autos!«

So weit lief alles gut. Aber nach dem Kaffee ging Peter wieder rüstig an seine Gartenarbeit und warf nur manchmal eine Schaufel voll Sand ans Fenster. Blux hoffte, sein Sohn würde mit einem Stein das Fenster einwerfen. Das hätte ein Thema ergeben. Aber hier verursachte Peter seinem Vater die erste Enttäuschung. Blux und Ursel saßen sich schutzlos gegenüber. Er an seinem alten Schreibtisch, sie im Klubsessel, ein wenig tiefer und mit ihren Knien sehr nah den seinen, wie zu dieser Stunde täglich in dem einen Halbjahr, das er hier verlebt hatte.

Sie bat: »Erzähl doch was!«

Dann wurde sie wieder zerstreut und wollte nichts hören. »Abenteuer? Ach, ich weiß eh, daß du in Island Tiger ermordet hast.«

»Darf ich wenigstens . . .«

»Zigarette?«

Sie begriff, wie fremd er sich fühlte, schrie: 13

»Also rauch doch!« – und steckte sich selbst eine Khedive in den Mund, an der sie ohne Feuer wütend saugte.

»Wär's nicht möglich?« fragte er dampfend »möglich, einfach . . .«

Seine Finger klimperten auf dem Schreibtisch, als läge da eine Gitarre.

»Nein,« rief sie und wischte ihre Augen, »einmal müssen wir ja doch!«

»Aber es ist doch alles vorbei und abgetan.«

»Für dich, ja für dich! Natürlich, für dich!«

»Armes Mädel, für dich doch auch!«

»Und draußen gräbt er Beete um. Dein Bub!«

»Du hast keine Beschäftigung?«

»Soll ich stricken? Also erstens Radio! Den Peterl erziehn ist wohl nichts? Montessori-System und dann Klavier. Lesen tu ich auch! Und beim Papa repräsentieren, wenn er Gäste hat. Und viel . . .«

»Klavier? Mit einem Lehrer?«

Da war sie ihrer Rührung Herr geworden und erzählte großartig:

»Im Konservatorium!«

»Bravo,« rief er laut, »erzähl davon!«

»So klein hast du mich doch nicht gekriegt, daß ich zehn Jahr lang Nausikaa mach. Im Gegenteil, wenn mein Vater nicht so fad wär, tät ich alles mitmachen. Aber weißt, ich amüsier mich schon. Ich hätt auch nicht geheult. Aber du warst so 14 plötzlich da, deshalb. Wenn du wenigstens ganz anders ausschaun tätst, ein bißchen gealtert, von Lastern gezeichnet oder so. Aber du, ganz so wie immer, und unsereins welkt dahin.«

Dabei war sie aufgestanden, trat straff und zierlich vor ihn. Ihr plissierter Rock lag eng an, ihre Arme leuchteten. Er hatte eine Schwäche für plissierte Röckchen und nackte Arme unter Spitzen. »Wenn es einen Knigge für geschiedene Eheleute gäbe!« seufzte er. »So weiß man gar nicht, was man tun soll.«

»Geh, du weißt's nie. Benimm dich halt unpassend, wie ich's gewöhnt bin.«

»Ist das unpassend?« fragte er, da war sie schon auf seinen Knien. Sie preßte sich an, wartete, baumelte mit den Beinen, und in dieser Situation mußte er sie küssen. Sie war so jung und roch so frisch wie je.

Dann flog wieder eine Schaufel voll Erde ans Fenster, und Bubi rief streng:

»Kommt ihr endlich?«

Blux schob seine Frau auf ihren Platz zurück und atmete tief.

»Jetzt bist du also doch das erste Mädel, das ich wieder in Europa geküßt hab!«

»Wirklich? – wann bist du angekommen?«

»Allerdings . . . vor vier Stunden.«

»Und?«

»Soll ich Bremenserinnen küssen?« 15

»Aber doch ein Erfolg für eine welkende Frau! Vier ganze Stunden, und ich bin die erste und einzige. Also, Blux, geh! Ich bitt dich, gleich, geh schon!«

Sie trampelte vor Ungeduld.

»Morgen kommst halt wieder, gelt?«

»Pump mir den Bazi für einen Spaziergang,« bat er. »Eine Stunde, dann werf ich ihn am Gartentor ab.«

 

Nach dem Studium der Litfaßsäule kamen für diesen ersten Abend in Europa drei Theater, eine Revue und eine Bar in Betracht. Das Schönste wäre ja ein Theaterabend in Gesellschaft etwa Ursels gewesen und danach der alte Stammtisch in Schierlings Weinkeller. Aber selbst wenn Ursel mitkommen wollte, es ging nicht. Schließlich konnte Blux die arme Frau nicht bei seinem ersten Wiederauftauchen in ihrer Welt kompromittieren. Darauf lief es in Bremen hinaus, wenn sie sich mit ihm zeigte.

Auch mit dem Stammtisch war er nicht im Bilde. Es konnten dort Leute sitzen, die aufstanden, wenn er kam. Manchmal macht so etwas Spaß, heute wär's erschütternd gewesen.

Blux ging zu Fuß in die Stadt zurück. Es war kalt, er marschierte drauflos und hatte seine Freude an dem Strom von Menschen, der mit Dunkelwerden aus der Stadt in die Vorortgassen flutete. 16 So viele Gesichter, die ihm bekannt schienen, so viele Menschen, die ihn über dunkle Erinnerung in irgendetwas Begrabenes führten. In allen Straßen flammten Lichter, Gesang von Autos und Straßenbahnen legte sich in's Ohr.

Daß alle Menschen deutsch sprachen, war so seltsam! Sonst hatte diese Stunde ja auch in Buenos Aires oder New York und selbst in Reykjawik nicht so ganz anders gewirkt. Zeit der Arbeit vorbei, Zeit zum Freuen gekommen: der lange Abend, die heimliche Nacht. Mädchen, die sich sehr gequält hatten, warfen das Arbeitskleid von ihren Seelen, blickten wie Damen – Damen, die verweigern, gewähren können. Ueber Pelzkrägen lockten vom Wind geeiste Lippen, lockten moussierende Augen. Jede Straße voll von Abenteuern! Wer die Straße mit Phantasie durchstrich, erlebte alles schon im Schreiten. Wo ein Auto hielt und ein Fuß in feinem Leder hinaustastete, wo eine Straßenbahn ihre Menschenfracht löschte, eilige Frauen nach einem Rundblick zu dunkleren Seitenwegen flüchteten, wo ein ganz junges, ganz verhaktes Paar für sich ging wie durch einen einsamen Wald, da war überall himmlischer Frühling.

Und immer wieder dies Wunder: daß alles deutsch sprach! In den vielen Ländern, die er gesehen, war Blux einer gewesen, der von draußen hineindrängt wie ein Großstädter ins Bauerndorf. Portugiesisch, spanisch und englisch, isländisch und norwegisch, in 17 jeder Sprache hatte er sich schließlich zurechtgefunden, – und doch blieb jedes Wort in diesen Sprachen Geheimnis.

Was konnte man vom Klangwert eines Grußes wissen, den Menschen, fremd wie Affen, einem boten? Wo blieb man, wenn zwei Eingeborene über einen weg sich verständigten, in beschleunigter Rede, in Dialekten einen lobten oder lächerlich fanden? Wo ließ sich in fremden Worten, fremden Gesichtern, ja selbst in fremden Armen das Wesen finden, das man suchte?

Hier war ihm alles seltsam vertraut. Er brauchte nur einen Menschen anzureden: was hast du gearbeitet, was hast du gegessen, wonach hungerst du?, da hätte er Wahres und Falsches am Klang unterschieden, hätte den Menschen mit jeder Bedingung seines Daseins erkannt. Hinleben durch eine deutsche Straße war das Ziel jeder Reise! Es tief auszukosten, bis zum letzten, reizte ihn irgendeine Erscheinung bei jedem zehnten Schritt.

Ob es frivol sei, an diesem ersten Abend so richtig Großstadt zu feiern, kam Blux nicht in den Sinn. Er wollte nach der langen Fahrt im Segelboot sein Fest haben und freute sich über sechs Goldstücke in seiner Tasche, die es ermöglichten. Sechs englische Pfund und ein Bündel Zeichnungen als Resultat der Reise, die er vor anderthalb Jahren mit leeren Taschen angetreten! 18

Daß dies Fest kein wildes wurde, aber schmerzhaft süß in irgendein Leben schnitt, dankte Blux nicht strengen Erwägungen, sondern dem Zufall. Denn plötzlich – in seinem Suchen und Wittern sah er selten, was vor ihm war, – prallte er fast auf eine kleine Gruppe von Damen, die ihm entgegenkam. »Er ist's wirklich, Muttel!« Drei Backfische kicherten. »Er träumt immer noch!« Dann hatte er Frau Ingwer und ihre Töchter erkannt.

Es ging los: »Nein, so ein Zufall!« – »Wir dachten, Sie sind auf dem Nordpol!« – »Hast du uns den Blaufuchs mitgebracht?« Und er:

»Wohnen Sie denn jetzt hier draußen? Mädels, ihr seid ja erwachsen geworden! Ihr habt ja schon Waden! Seid ihr keine Schulgören mehr?«

»Was haben Sie vor, heut abend?«

»Eben wollte ich bei Ihnen anläuten, gnädige Frau!«

Dann Haushaltsfragen, die offen verhandelt wurden.

»Muttel, wir haben doch den Rest kalte Gans, den für's Frühstück.«

»Ach was, der Blux soll sich freuen, daß er überhaupt was kriegt. Er hätt' ja aus Grönland schreiben können, wann er ankommt.«

»Keine Ausrede, Sie sind uns ins Garn gegangen.«

»Du hättest ja ausweichen können, kompakt genug sind wir zu viert,« sagte Inge, das Küken. 19

»Ich hätte dich doch gesehn,« behauptete Wally, »durch drei Arkaden! Schon an deinem Gang.«

»Eigentlich ist es kein Gang, sondern eine Fahrt. Er biegt sich so durch die Menschenwellen wie eine gut gebaute Yacht« rief die mittlere Schwester. Dann wieder Wally:

»Und mit wem soll man dich überhaupt verwechseln? Kein Hut und so blaue Augen, daß man glaubt, vor deiner Geburt hat's kein Blau gegeben.«

»Wir sagen nicht ultramarin, sondern bluxfarben,« rief das Küken dazwischen, tippte mit frechen Backfischfingern auf seinen Scheitel, der eine leichte Tonsur zeigte. »Außerdem, Meister, – wir werden alt!«

»Mach dir nichts draus, Blux! Da kommt's auch noch bluxblau heraus, wenn du kahl wirst!« tröstete Wally.

Die Schwestern waren sich nicht einig in ihrem Urteil, ob Blux weltmännisch kühn oder grotesk wirkte. Aber sie waren einig, daß er mit nichts zu verwechseln sei.

Mit einem Strauß, der rennt, aber nicht weiß, wohin? Mit einem Neger, der sich in der blauen Grotte verfärbt hat?

Schließlich erkämpfte sich wieder Frau Ingwer das Wort gegen ihre schnatternde Brut.

»Vielleicht sind wir nicht mehr sehr attraktiv – jetzt wo Sie berühmt sind?« 20

»Was bin ich?«

»Berühmt! Als Reisender und als Zeichner! In der Schule renommieren wir mit deiner Bekanntschaft. Keine glaubt's uns, daß wir »du« zu dir sagen.«

In einer Reihe konnte man zu fünft nicht gehn. Die Backfische mußten vornweg, Wally hing sich links bei Blux ein, so daß er zwischen ihr und der gnädigen Frau ging.

»Endlich ist die Wally wieder stolz« erklärte Frau Ingwer. »Sie sind nicht schön, hat sie immer behauptet, aber Sie stehen ihr!«

»Wenn ich jetzt noch mein graues Georgettekleid anhätte,« dachte Wally, »Aber es muß auch so gehn.«

Während Frau Ingwer mit der Köchin verhandelte und die Mädels, um einen sorglosen Abend zu haben, ihre Schultaschen für den nächsten Tag packten, saß Blux ein paar Minuten lang allein in der Wohnstube. Er feierte auch hier ein Wiedersehn mit Photos, Möbeln, Teppichen. Seine eigene Jugend höhnte aus schlampig gezeichneten Skizzen! Aber die altgewohnten Dinge schienen in Frau Ingwers neuer Wohnung fremd zu tun.

Da stürmte Wally herein, die er doch auch seit zwei Jahren nicht gesehen hatte. Ohne die Tür hinter sich zu schließen, drängte sie sich an ihn und küßte ihn auf den Mund. Die Hände hingen ihr 21 dabei schlaff am Leib, als hätte sie nicht Zeit, ihn zu umarmen.

»Ich bin froh, daß du wieder da bist! Die andern mögen mich nicht, Muttel nicht, die Mädels auch nicht. Daß ich krank bin, ist ihnen ekelhaft. Ich hasse sie alle!«

Blux wollte ihr blasses Gesicht streicheln, aber sie wehrte seine Finger ab, hob sich wieder auf die Zehen und küßte ihn ein paarmal, wie ein Blinde, ins Gesicht, auf die Nase, auf die Wange, wohin sie traf.

»Wo wohnst du? Ich komm morgen zu dir, darf ich? Mir ist alles egal. Aber das mußt du erlauben!«

»Wally, ich bitt dich . . .«

»Was! Du verbietest mir . . .!«

Sie zitterte und biß sich auf die Lippen. Er fürchtete einen Anfall und sagte halblaut, als wäre es gar kein Geheimnis:

»Doch, doch, um drei Uhr.«

Da lächelte sie und warf sich erleichtert in einen tiefen Stuhl. Langsam wurde ihr Atem ruhig.

Spät abends saß Frau Ingwer mit Blux allein im roten Schein der großen elektrischen Lampe, die mit ihrem Fußgestell und dem runden Tischchen ein äußerst häßliches, aber besitzanzeigendes Möbel war. Die Backfische schliefen schon lang. Auch Wally war überraschend gehorsam eine Stunde nach den Schwestern zu Bett gegangen. Auf einem Tablett 22 neben Blux standen Wein und eine Schachtel Zigaretten.

»In einer Stunde müssen Sie leider gehn, Blux. Um neun Uhr morgens halt ich Sprechstunde im Verein. Acht Stunden Schlaf brauche ich. Außerdem sind die Kinder unglücklich, wenn ich nicht zum Frühstück komme und ihnen die Butterbrote streiche. Aber die eine Stunde will ich ausnützen. Sie können sich denken, wie neugierig ich bin.«

»Und ich beichte Ihnen gern, was Sie nur hören wollen. Genügt die Wahrheit nicht, dann lüge ich Schandtaten auf mein Konto, die ich später begehen kann. Mein einziger Wunsch ist, Ihnen nach Kräften zu dienen. – Zunächst also Brasilien –«

»Daß Sie sich durchgebracht haben, ist bewundernswert! Meine Kinder haben in Geographie Einser, seit Sie unterwegs sind. Wovon haben Sie nur gelebt?«

»Das war natürlich überall leichter als hier, wo keiner was hatte. Drüben war ich noch dazu Ausländer. Grade in diesen Ländern ist man selbst als Deutscher interessant.«

»Sörissen-Gorissen hat Ihre Reise nicht finanziert?«

»Lieber den Finger abgebissen.«

»Er oder Sie?«

»Beide.« 23

Dann kam eine Pause voll Spannung.

»Werden Sie Ursel sehn?«

Blux lag sehr bequem, halb ausgestreckt, in einem Polsterstuhl und trank tüchtig von Frau Ingwers Burgunder für seltene Gäste.

»Das erste und schwerste liegt hinter mir. Sie spielt Klavier und hat mich nach einer halben Stunde ganz versöhnt rausgeworfen.«

»Was ihr für kindische Menschen seid! Ihr habt euch also friedlich gezankt, als ob nichts geschehen wäre?«

»Aber natürlich, dazu war man doch verheiratet.«

»Ist die Scheidung eigentlich ausgesprochen?«

»Das wissen Sie nicht?«

»Sie schreiben ja nie, und Ursel sehe ich selten. Ihre Leute sind »Schuß« mit mir, sie glauben, ich bin an eurer Ehe schuld. Also, wie hat sie sich damals bei der Scheidung benommen?«

»Sie hat mich enttäuscht. Mit dem böswilligen Verlassen haben wir, wie Sie sich besinnen werden, mehr als ein Jahr verzettelt. Nie wollte sie meine Böswilligkeit so recht einsehn. Sie ließ mich wie eine Marionette tanzen, tauchte von Zeit zu Zeit unerwartet in Berlin auf . . . Wegen Haus, Kind, Gottweißwas mußte ich manchmal wieder nach Bremen kommen. Danach ging sie jedesmal zu ihrem Anwalt und bat ihn, die Sache hinauszuziehn. Auf diese Art hätten wir dereinst silberne Hochzeit gefeiert.« 24

»Und dann gab es wieder eine ganz skandalöse Geschichte? Ich habe Andeutungen gehört . . .«

»Skandalös? Im Gegenteil, sauber und appetitlich! Auf mein Bitten klagte Ursel endlich wegen Untreue und versprach, bei diesem Sühnetermin einmal unversöhnlich zu sein. Damals hing der eigentliche Scheidungsgrund noch in der Luft. Dann fand ich rasch eine Dame, die aus purer Liebenswürdigkeit vor Gericht diese Rolle übernahm. Aber weil mit Ursel doch nie zu rechnen war, holten wir sie zur Verhandlung ab und fuhren zu dritt aufs Gericht. Unterwegs sprachen wir ununterbrochen auf sie ein: Ursel, sei ein Mann! Ursel, wir beschwören, was du willst, aber laß uns zum Schwur kommen! Zuletzt wurde ich energisch und schrie: Wir sind geschiedene Leute, wenn du dich heut nicht scheiden läßt!

Es war wirklich feierlich – sie in ihrer rührenden Weiblichkeit, ich männlich entschlossen. Dann ging alles glatt.

Aber wie ich in Montevideo ankam, fand ich ein Schreiben von meinem Anwalt! Ich sollte mir die Sache überlegen, Ursel hätte gegen alle Abrede haarsträubende Alimente eingeklagt. Ob ich unter diesen Umständen meinen Ehebruch aufrechterhielte? Ich verhökerte ein Plakat »Die Attraktion von Las Plantas«. Eine Roulette, vorn ein ganz ausgebeutelter Spieler, der sich erschießt, an der Tür der dicke Roulette-Besitzer mit vollen Taschen. 25

Als Reklame für Las Plantas! Aber die haben Humor da drüben.

Dann kabelte ich: ja.

Als ich ein Jahr später in Reykjawik ankam, Gottlob, war längst alles geschieden! Es war eine lange Reise.«

»Aber hätten Sie nicht Gegenklage stellen können? Ursel hatte doch auch . . .«

»Ursel hatte mir keinen Anlaß gegönnt.«

»Und Sie müssen die phantastische Rente zahlen?«

»Gar nichts, natürlich. Sörissen-Gorissen könnte sich nicht mehr auf dem Rialto zeigen, wenn ich seinen Enkel oder gar seine Tochter ernährte. Es wäre sein Tod, glaub ich. Das tu ich ihm nicht an.«

»Aber was hat das alles für einen Sinn?«

»Das hat einen tiefen Sinn, gnädige Frau. In legitimen Dingen bin ich für den Rest meines Lebens eine Art Kastrat, wenn Ursel es will. Ich bleibe ihr jedes Jahr eine Phantasiesumme schuldig, etwa das Doppelte meines Einkommens, falls ich nicht überfleißig bin. Wenn ich aber wie ein Kuli arbeite, bleib ich ihr nur so viel schuldig, wie ich verdiene. Angenommen nun, ich wollte es wieder einmal mit dem Bund fürs Leben versuchen – schickt sie mir den Gerichtsvollzieher. Hinfüro also kann ich nur noch um meiner selbst willen geliebt werden, und das scheint Ursel irgendwelche Genugtuung zu geben.« 26

Frau Ingwer dachte nach, schüttelte den Kopf, sah Blux mit guten Augen an.

»Das ist furchtbar ernst! Mir tut das Herz weh, wenn ich es zu Ende denke. Nicht nur, daß Sie nicht mehr heiraten können, aber Sie sind ja hilflos den Launen dieser launischen Frau preisgegeben! Für alle Zeit!«

In ihrer Erregung nahm sie seine Hand in ihre beiden, sehr weichen Hände:

»Armer Junge! Sie werden leiden – ich kenne Sie!«

Er küßte flüchtig ihre Finger, sie ließ ihn los. Dann nahm er das Glas und trank ihr mit Hingebung zu.

»Gott verhüte, daß Sie mich kennen lernen! Dann könnten Sie die Sachlage zwar würdigen, aber es würde mich Ihre Freundschaft kosten.«

»Ich kenne Sie eigentlich zu gut, als daß ich Ihre Freundin sein dürfte. Trotzdem bin ich es und male mir gern Ihre Zukunft aus. Den schönen Weg. den Sie jetzt gehen werden!«

Er lachte und trank so durstig, daß sie, sich überwindend, nach einer neuen Flasche klingelte.

»Nehmen Sie nur, was jeder weiß, Sie ahnungslose Engeldame. Nur das rein Tatsächliche. Ein Mensch, der mit dreißig Jahren nichts gelernt und keinen Beruf, aber auch kein Vermögen, nur Ansprüche hat.«

»Sie haben Talent und haben einen Beruf! . . .« 27

»Mein bißchen Zeichnen kommt grad in eine Mode hinein, die morgen vorbei sein kann. In zehn Jahren ist sie sicher vorbei.«

»Dann lernen Sie um.«

»Umlernen kann nur, wer etwas gelernt hat. Meine Eltern haben sich gehaßt, in mir rebellieren zwei unverträgliche Sorten Blut. Ich weiß nur ein erkennbares Ziel: als warnendes Beispiel für meinen Sohn pädagogisch zu wirken. Meine Lebensführung ist so geordnet, daß es schlichten Heldenmut bedeutet, wenn ich eine Stadt zum zweitenmal betrete.«

»Ihre Uebertreibungen mag ich nicht mehr. Jetzt, wo Sie die halbe Welt durchreist und viel geleistet haben, könnten Sie sich auf konventionellere Art interessant machen.«

»Weil ich in einem Hotel gewohnt hab, in dem schon die kleinsten Liftboys spanisch sprechen? Ich versichere Ihnen, daß dort schon ganz uninteressante Leute abgestiegen sind!«

»Aber wissen Sie nicht, daß diese merkwürdige Ehescheidung Sie buchstäblich aus der Gesellschaft stößt?«

»Das schützt mich und andere vor Illusionen. Ich bitte in dieser Angelegenheit um strengste Indiskretion. Mir macht es Freude, so bewußt und ganz in der Luft zu hängen. Ein bißchen mehr in Gottes Hand, als es dem frömmsten Muselmann lieb wäre.« 28

Frau Ingwer dachte nach, wie ihm beizukommen, vielleicht sogar zu helfen wäre. Sie war eine Frau von Gemüt und immer auf den Beinen. Blux stieg der alte Burgunder in den Kopf, wohltuend und die Zunge lösend.

»So retten Sie mich doch! Ich liebe Sie und Ihre Kinder innig genug, um mich von Ihnen retten zu lassen. Den Schwimmgürtel Ihrer Beredsamkeit her! Ihnen zulieb will ich ihn ergreifen.«

Dann, als sie noch immer überlegte:

»Sie retten mißhandelte Kinder, gefallene Mädchen, notleidende Klassen. Im Heim der mißhandelten Kinder finden Sie hilfsbedürftige Eltern, Sie versagen den Verführern Ihrer gefallenen Mädchen den Schutz der neuen Ethik nicht, nehmen sich warm der Kapitalisten und ihrer Weltordnung an, die Ihre notleidenden Klassen auffangen. Dies alles – ich erkenne es an! – zu Fuß, nichts per Leitartikel oder Broschüre. Sie können an einem Tag zwanzig Besuche empfangen und vierzig Besuche machen, um die Mängel der Schöpfung – wenigstens in Ihrem kleinen Reiche – auszugleichen.«

Er kramte, glückselig, sie ins Gesicht hinein karikieren zu können, in seinem Gedächtnis, verdrehte Tatsachen und traf doch ins Schwarze.

»Wegen einer niedlichen Kindsmörderin haben Sie sich doch mit Ihrem Herrn Ex, der als Anwalt 29 groß geworden ist, wieder in Verbindung gesetzt, und die niedliche Kindsmörderin ist freigesprochen worden. Es war wohl Ihr schwerster Fall, der Herr Justizrat soll sich anfangs glänzend verteidigt haben. Dann ist er wieder ganz unter Ihren Einfluß geraten und hat über diesem Prozeß jeden Vorteil seiner Trennung verloren. Stimmt's? Meine Befreiung vom nachehelichen Joch berechnen Sie augenblicklich auf insgesamt siebzehn Besprechungen, mit denen Sie mich gleich großmütig akkreditieren. Eigentlich kommen davon auf mein Konto nur acht und eine halbe, denn zugleich läßt sich mit diesem Fall für einen jungen Anwalt, den Sie etabliert haben, eine Spezialpraxis eröffnen.«

Als er ging, wußte Blux nicht mehr genau, was er seiner Gönnerin an Infamien und Galanterien gesagt hatte. Er war von seiner Heimkehr berauscht, verliebt, – Gott weiß in wen, wen nicht, – und wenn er getrunken hatte, sprangen die Antithesen seines Weltbildes aus ihrem Rahmen. Frau Ingwer hatte vielleicht Grund, beleidigt zu sein, war aber beglückt.

»Ich bin froh, weil Sie wieder da sind,« sagte sie, als Blux mit Handkuß, Diener und strahlendem Lachen Abschied nahm. »Auch Wallys wegen. Das arme Kind hat wenig Freuden zu erhoffen!«

»Sie ist sehr krank? . . .«

»Ja.« 30

Dann ging Blux, um recht bald, morgen schon, wiederzukommen.

»Das geht nicht,« dachte Frau Ingwer im Bett. »Es ist ungerecht, ich dulde keine Ungerechtigkeit.«

Im Einschlafen dachte sie:

»Wenn er nur gut zu Wally ist!«

 


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