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34. Thörichte Gefühle

Es war schon tief dämmerig, ihre Kinder schliefen sanft und süß, da saß sie noch auf dem grünen Vorsprung und schaute über das immer dunkeler werdende Meer. Im Norden stand ein hoher Wolkendamm. Wenn es morgen stürmt, können unsere Herren morgen nicht zurückkommen, hatte Anna gesagt, und hatte sich selbst bedenklich wegen des drohenden Wolkendammes mit ihrem alten Wirthe besprochen. Der Wind kommt aber aus Süden, war des Alten tröstliche Antwort, ich glaube nicht, daß es stürmisch wird. Der Herr wird unsere Lieben behüten, hatte Anna zu Elisabeth gesagt, und morgen freuen wir uns desto mehr, wenn sie zurück sind. Daß Elisabeth sich wirklich auf den morgenden Tag freute, konnte sie sich kaum gestehen, aber sie freute sich so sehr. Wenn die Nacht vorüber ist und der Himmel ist morgen früh licht und blau, will ich Dir, lieber Gott, von Herzen danken, dachte sie, als sie den grünen Vorsprung verließ und dann zur Ruhe ging.

In der Nacht wachte sie auf, sie hörte das Brausen des Meeres unter ihrem Fenster und fuhr erschrocken auf. Wenn die Seele sich vom Träumen losgemacht, ist es ihr auch noch im Wachen schaurig. Ist das wirklich Sturm? dachte sie bange, sie stand zitternd auf, sie hatte nicht Ruhe und mußte es untersuchen.

Sie ging leise in die Kinderstube, um einen großen Mantel umzuthun. Johanne war ganz verwundert. Das Meer braust, sagte Elisabeth, ich muß sehen, ob es sehr stürmisch ist. Johanne wollte sie beruhigen, es sei sicher nur die Fluth, und wenn es wirklich stürmte, würden die Herren gar nicht abreisen. Das war ihr aber keine Beruhigung, sie wußte, die Gesellschaft wollte mitten in der Nacht von Spiekeroge aufbrechen, weil einige Herren eine Seehundsjagd beabsichtigten, sie waren also jetzt vielleicht schon mit dem kleinen Kahn auf den tobenden Wellen.

Sie trat mit banger Erwartung aus dem Hause, – aber wie lieblich war es hier: die Fluth brauste zwar schäumend gegen die Dünen, aber gar nicht ungewöhnlich. Ein lauer Wind wehte von Süden, die Sterne blinkten am klaren Himmel und im Morgen verkündete ein lichter Streif den nahenden Tag. O wie sehnsuchtsvoll und selig und dankbar schaute sie hinauf zum Himmel, sie legte sich keine Rechenschaft ab über ihre Gedanken und ihre Gefühle, sie sah den nächsten Tag so licht und hell vor sich, und es war wieder ein Traum.

Sie ging in die Kinderstube, sie berichtete Johannen von der lieblichen Nacht, sie küßte ihre schlafenden Kinder und ging wieder in ihr Zimmer. Hier stand sie noch einige Augenblicke sinnend vor dem Tisch, auf dem ihres Mannes Sachen lagen. Papier, Federn, ein Messer und ein seidenes Ueberbindetuch, – sie stand davor gerade so wie damals vor dem Sträußchen Moos und Tannenzweigen, was er auch in seinen Händen gehabt.

Der Tag brach an, licht und warm und wunderschön, Elisabeth ging ihm mit frohem Herzen entgegen. Mit der freudigen Erwartung im Hintergrunde wollte sie es noch einmal mit der Freiheit versuchen, versuchen, ob es nicht doch eine rechte Erquickung sei, ganz ohne Furcht vor den Kämpfen ganz gemüthlich für sich zu leben. So ähnlich wird es dann in der Zeit bei den Großeltern sein, du wirst dich frei und doch bei den Lieben nicht einsam fühlen, und er wird jeden Tag kommen, – das Manöver sollte ja ganz in der Nähe von Braunhausen sein. – So dachte sie, als eine gewisse Unruhe sie wieder vor den Tisch, worauf seine Sachen lagen, geführt hatte.

Da war es ihr als ob sie bekannte Schritte hörte. Freudig fuhr sie zusammen, wie gern hätte sie den Tag der Freiheit doch daran gegeben. Aber sie war eine Thörin, sie konnte ihn nicht vor Abend erwarten.

Gleich nach dem Baden und dem nöthigen Laufen am Strande holte sie Annchen und Paul zu sich, und zwar auf den ganzen Tag, Frau von Hohendorf hatte heftiges Zahnweh. Mit Kindern verkehrte sie im Grunde am liebsten, mit Annchen ließ sich auch so nett und vernünftig spielen, und nichts paßte zu ihrem Tage der Freiheit besser, als diese Gesellschaft. Um die Kinder in der Nähe des Hauses zu fesseln, denn sie durfte sich wegen der Rückkehr ihres Mannes natürlich keine Minute vom Hause entfernen, hatte sie etwas sehr Gutes ausgedacht. In dem kleinen Garten sollte auf dem Platz, wo sonst eine Bank und Stühle standen, ein Park angelegt werden. Sie hatten früher schon zuweilen am Strande mit Muscheln und Steinchen kleine Anlagen gemacht, die täglich von der Fluth weggewaschen wurden, es war den Kindern sehr einleuchtend, Zeit und Mühe hier an den solideren Boden zu verwenden. Es wurde nun ein förmlicher Plan entworfen, kleine Häuser und Ställe und Grotten und Gewächshäuser sollten zwischen Wiesen und Gartenanlagen sich erheben. Elisabeth ordnete an, und Annchen und Paul gingen, zu des kleinen Friedrichs Entzücken, tapfer an das Werk. Das Wert war mühsam, da man aber den Tag vor sich hatte, wurde keine Arbeit gescheut. Elisabeth half den Kindern, sie ging aber auch hin und her, sie stand am Staket, schaute nach dem Meer, oder stand an der andern Seite und beobachtete die Fußstege, die zwischen den kleinen grünen Hügeln hindurch nach dem Waat führten. Sie saß gedankenvoll auf dem Vorsprung, dann ging sie ebenso gedankenvoll in das Zimmer und legte das seidene Ueberbindetuch in die Kommode, bis sie erröthend sich ihrer Unruhe schämte und wieder an ihre Arbeit zu den glücklichen vergnügten Kindern ging.

Nachmittag waren die Anlagen ziemlich fertig, als Annchen sagte: Nun müßten wir nur kleine Figuren haben, kleine Menschen und Pferde und Hunde und Schaafe und Hühner.

Die werde ich zeichnen, sagte Elisabeth, und Ihr malt sie an.

Das war aber ein Jubel! An Ort und Stelle wurde das Atelier eingerichtet, Elisabeth auf einer Fußbank sitzend und die Kinder knieend vor der Bank. Ueber dieser sehr interessanten Unterhaltung vergaß Elisabeth ihre Unruhe und ihre Erwartung, es fielen ihr immer neue Ideen ein und die ganze kleine Schöpfung an ihrer Seite war zu niedlich. So hörte sie wirklich die Schritte ihres Mannes nicht, der vom Strande herauf in das Haus trat.

Er sah in die Stuben, niemand war da, auch im Leinwandhäuschen war es still. Von niemanden erwartet zu werden, war ihm nicht recht; von Johannen und den Kindern hatte er es wenigstens gehofft. Daß Elisabeth gern die Tage allein war, das hatte er mit sich durchgekämpft, darum wollte er ihr nicht böse sein; aber es betrübte ihn, und der Empfang jetzt bestärkte ihn in seiner Stimmung.

Als er in das Wohnzimmer und an das Fenster dort trat, hörte er Stimmen und erblickte die Kindergesellschaft. Er ging in den Garten und blieb an der Giebelecke stehen, – es ging ihm wie damals, wo er über Elisabeths Berathung mit dem alten Friedrich zur Befriedigung ihrer Reitlust auf dem sanften Ypsilanti seinen eigenen Kummer vergaß. – Der Anblick war zu lieblich. Elisabeth im weißen Mullkleide, sie wußte eigentlich nicht recht, warum sie es angezogen, saß zwischen den Kindern und zeichnete gerade eifrig.

Aber Tante, sagte Paul, warum hast Du denn den Pferden so lange Ohren gemacht?

Ich sage Dir aber, lieber Junge, entgegnete Elisabeth gereizt, es sind keine Pferde, es sollten nur welche werden, da sie aber mehr wie Esel aussahen, habe ich ihnen gleich lange Ohren gemacht!

Wir haben aber nun keine Pferde, die den Acker bestellen, warf Paul ein.

O wir bestellen mit Ochsen, es ist ja Sandboden hier, tröstete Annchen.

Deine Ochsen, Tante Elisabeth, haben aber viel zu lange Beine, kritisirte Paul wieder.

Es sind ja die magern Ochsen, sagte Elisabeth ganz ärgerlich, die kommen in den Futterstall, nun mache ich die fetten ganz rund und mit kurzen Beinen.

Dann nimm Dich nur in Acht, daß sie nicht wie die Schweine werden, warnte Paul.

Aber, schalt ihn Annchen, die Tante macht den Ochsen so schöne große Hörner!

In dem Augenblick entdeckte Friedrich seinen Papa und lief ihm jubelnd entgegen. Elisabeth stand schnell auf ihm auch entgegen zu gehen, weil er aber erst Friedrich begrüßte und dann erst Anna und Paul, hatte sie Zeit sich zu fassen und seinen ruhigen freundlichen Gruß ebenso zu erwiedern. Friedrich zog den Papa zu dem kleinen Kunstwerk, er sollte alles sehen und alles bewundern, und er that es auch, und Elisabeth stand still dabei. Und es war ihr als ob sie einen guten Traum gehabt, und als ob sie sehr thöricht gewesen.

Tante Elisabeth, sagte Anna plötzlich, Herr von Kadden müßte uns einige Pferde zeichnen.

Unwillig blitzte es in Kaddens Augen, doch zwang er sich zu scherzen. Anna, zu ihr sagst Du Tante und zu mir Herr von Kadden; Du weißt doch, daß es meine Frau ist?

Ja, das weiß ich, sagte Anna harmlos; sie überlegte auch nicht, warum sie so gesagt, aber er war doch ganz anders als ihr Papa mit seiner Frau. – Wenn Sie uns zwei Kutschpferde und vier Ackerpferde machen könnten! bat Annchen.

Er sah fragend auf Elisabeth, sie reichte ihm Bleistift und Papier, und er zeichnete wirklich. Aber nicht nur die Pferde, nein, er war sehr gütig, er verbesserte die mageren Ochsen, er zeichnete auch einige Kühe und Schaafe, und ging dann in das Zimmer.

Elisabeth konnte unmöglich länger mit den Kindern spielen. Sie saß auf ihrer Bank mit dem Arbeitszeug in der Hand und dachte kaum etwas. In vier Tagen wollten sie abreisen, da zwang sie sich das Packen zu überlegen, und wenn die Gedanken abschweifen wollten, holte sie sie mit Gewalt zurück.

Anna und Paul wurden abgerufen, sie mußte mit ihren Kindern allein zu Abend essen, weil ihr Mann bald nach seiner Rückkehr mit einigen Herren an den Strand gegangen war. Johanne berichtete nur, daß die Herren gekommen waren und ihn zu einem weiteren Spaziergang aufgefordert hatten; nach der unangenehmen Seefahrt in dem kleinen Kahne sollte ihnen der Gang wohlthun. Herr von Hohendorf war wegen der Zahnschmerzen seiner Frau nicht dabei gewesen.

Elisabeth hatte ihre Kinder wie gewöhnlich zur Ruhe gebracht. Sie war in der letzten Zeit des Abends nie mehr allein gewesen, und je länger ihr Mann ausblieb, je schwächer ward ihr Kampf gegen die Gedanken, die ihr doch zu nahe lagen, sie ließ ihnen endlich ihre Freiheit. Im Norden stand wie gestern Abend der dunkele Wolkendamm, da hatte sie bange über das weite Meer geschaut und ihr Herz war doch glücklich in der Sehnsucht. Ja sie war sehr thöricht gewesen, gestern und heute den ganzen Tag! Sie schämte sich ihrer Thorheit, und schämte sich, als sie sich jetzt gestehen mußte, daß ihr schwaches Herz gar zu schwach war, daß es vergessen konnte all das Entsetzliche, was es erleben mußte, daß es noch so empfinden konnte, wie in früherer glücklicher Zeit. Ihres Mannes Rückkehr stimmte mit dem Abschied gestern überein, wenn sie es sich recht überlegte, war er aber bei beidem nicht unfreundlich. Auch daß er heute länger ausblieb, war nichts ungewöhnliches, es war allein ihre Schuld, wenn sie in den letzten beiden Tagen thöricht war, und wenn sie sich jetzt nach seiner Rückkehr getäuscht fühlte. Das Versprechen, sie sollte sich nie wieder einsam fühlen, hatte er damals aus Mitleid gegeben; es war zwar bitter, daß er es so schnell vergessen konnte, aber es war auch ganz natürlich. Sie nahm sich ernsthaft vor, sich ihre Thorheit gewiß nicht merken zu lassen, gar nicht zu thun, als ob sie heute von ihm etwas besseres erwartet hätte. Sie wollte jetzt immer sehr vernünftig und ruhig sein. Sie mußte sich nur gewöhnen, ihre Gefühle und Stimmungen besser zu verbergen, sie mußte lernen verschlossen und kühl sein; solchen Frauen wird das Leben weit leichter, sie haben viel weniger Herzweh, weil die Männer ein warmes thörichtes Herz nicht verstehen und nicht würdigen können, und es so oft kränken und beunruhigen, dachte sie. Aber waren diese vernünftigen Vorsätze nicht bedenklich? Hatte sie sich nicht ihr ganzes Leben lang vorgenommen sich zu ändern? Schon als Kind, wenn sie meinte, von Eltern und Geschwistern und Freunden mißverstanden zu sein, entschloß sie sich, alle Gefühle für sich zu behalten, sie nie auszusprechen, überhaupt mehr ernst und ruhig zu sein; und ehe sie es sich versah, war sie wieder so froh, so offenherzig, und drückte alle in Liebe an ihr Herz. – Für jetzt war freilich ihr ganzes Liebesleben erschüttert, besonders heut Abend, wo der Versuch, wieder warm und glücklich zu fühlen, nur wie eine neue Demüthigung auf ihrer Seele ruhte. Sie überlegte sich sehr genau, wie sie gegen ihren Mann sein müßte, wenn er zurückkehrte, sie mußte jedenfalls freundlich und unbefangen sein, weil er nicht ahnen durfte, daß sie thöricht war und etwas von ihm erwartete, das er selbst ihr, trotz seines Bestrebens freundlich und gütig gegen sie zu sein, als etwas Zerstörtes angekündigt.

Bei ihren Gedanken überwachte ihr Auge suchend den Strand. Die letzten einzelnen Spaziergänger verloren sich, und sie überzeugte sich, daß ihr Mann bei irgend einem Bekannten eingekehrt und zu Abend gegessen. Sie ging in das Zimmer, sie nahm ihre Bücher um zu lesen. Sie überlegte vorher noch einmal ihre guten Vorsätze, recht vernünftig und ruhig und kühl zu sein und ihre thörichten Gefühle zu verbergen. – Aber mitten in der Arbeit brach das schöne Luftgebäude, das ihr Verstand so künstlich aufgebaut, zusammen. Sie beugte sich mit der Bibel in der Hand auf den Tisch und weinte bitterlich. – Nein, Herr, ich kann nicht verschlossen und kühl und ruhig sein, ich kann nur thöricht sein; aber Dir will ich meine Thorheit übergeben, Du wirst mich entweder glücklich machen, oder mich trösten. Ich habe ihn doch von ganzem Herzen lieb, ich kann es nicht ändern, mein Verstand kann mir mit klugem Rath nicht davon helfen.

Ihr Herz klopfte freudig als sie die Schritte ihres Mannes hörte. Er stand vor der Hausthür noch einmal still, es war ihm sonderbar, als ob er ein böses Gewissen hatte. Früher hatte er gegen das Gefühl ein kurzes Mittel: er trat Elisabeth unbefangen und ruhig entgegen; wenn sie dann gereizt, verletzt und schweigsam blieb, glaubte er mit Recht ebenso sein zu dürfen. Heute wies er mit Unwillen diesen Gedanken zurück, mit einiger Spannung aber trat er in das Zimmer.

Du hast doch mit dem Abendbrot nicht lange auf mich gewartet? fragte er verlegen.

Nein, nicht lange, war ihre freundliche Antwort. Es ward an seinem Herzen unruhig, er mußte sich entschuldigen. Ich bin heut lange ausgeblieben, fuhr er fort, aber ich weiß, es ist Dir nicht unlieb.

Sie schaute unwillkürlich schnell zu ihm auf, aber eben so schnell wieder nieder, sie konnte nichts entgegnen.

Er trat jetzt zu ihr, nahm ihre Hand und sagte seufzend: Ich glaubte, Du warest froh gestern über mein Fortreisen.

Ich glaubte es auch, war ihre leise Antwort.

Verzeihe mir, Elisabeth! bat er – und stockte dann, er konnte nichts hinzufügen. Er konnte nicht sagen: es soll dir nie wieder einsam sein; nein, er war betrübt über sich, daß seine Schwäche selbst jetzt größer gewesen als seine guten Vorsätze.

Es war ihm heute wirklich ein Trost, daß er ihr aus der Bibel vorlesen durfte. Er nahm im ersten Korinther-Briefe das dreizehnte Kapitel und las »von der christlichen Liebe Langmuth und Vortrefflichkeit.« Als er geschlossen hatte, reichte ihm Elisabeth die Hand und sagte ihm gute Nacht. Sie dachte: es ist nur gut, daß der Herr nicht verlangt, daß man kühl und abgeschlossen und vorsichtig sein soll; Geduld und Liebe und Demuth üben, ist doch seliger. Und als sie ihren Mann kindlich und vertrauend ansah, da ward es ihm wieder so hoffend und tröstlich zu Sinne.


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