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28. Die Berge, von denen Hilfe kommt

Mit dem bangen Gefühl, wie er Elisabeth finden würde, trat Herr von Kadden wieder in das kleine Häuschen. Johanne stand bei den Leuten in der Küche, sie trat in die Thür und flüsterte: Sie schlafen alle.

Er ging leise in das Zimmer. Elisabeth saß im Sofa und schlief. Er trat näher, er sah, wie sie ganz verweint war, ihr müder Kopf ruhte auf der harten Sofalehne. Aber ein Buch lag in ihrem Schooß. Die Bibel!

Da ging ein Licht ihm auf in der Nacht seines Unglücks. Sie hatte doch Hilfe suchen können! Er beugte sich zu ihr, er sah in das aufgeschlagene Buch, seine Augen fielen auf den 130. Psalm: »Gebet um Vergebung der Sünden.« Er hätte niederknien und weinen mögen, er hatte sie ja zu herzlich lieb, trotz aller Sünde und aller Schwäche wollte er sie auf seiner Seele tragen. Wie war es ihm denn plötzlich so freudig und zuversichtlich zu Sinnen: – Sie wird Hilfe suchen, sie wird sich unter Gottes Gebot fügen, sie wird Furcht und Haß und Aerger bekämpfen, nicht auf Zureden von Menschen, sondern mit der Hilfe des Herrn, – das alles sagte ihm das Buch in ihrer Hand. Ja, wo nach armen menschlichen Gedanken keine Hilfe, keine Rettung ist, da kann der Herr helfen. – Wie wurde ihm die Seele so weit, so weit, wie waren die gescheiten und klugen Weltansichten verwehet und versiegen. »Meine Seele schauet auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt.«

Wie gern hätte er eine Bibel in der Hand gehabt, er wagte aber Elisabeths nicht zu nehmen, er konnte sie erschrecken. Unruhig ging er leise in die Kinderstube, er hatte sich nicht getäuscht, auf einem Tischchen lagen zwei kleine schwarze Bücher, er nahm davon die Bibel und trat vor die Hausthür.

Die Fluth war jetzt gestiegen, die Wellen brausten und schäumten bis an die kleinen Sanddünen. Etwas entfernt vom Hause setzte er sich auf den grünen Rand einer solchen Düne, er sah in die herbrausenden Wogen, eine jede schien Erquickung zu bringen seiner matten Seele. Er schlug gedankenvoll die Bibel auf, er las im Jesaia: – »Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen; aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen; aber mit ewiger Gnade will ich mich dein erbarmen. Ich habe geschworen, daß ich nicht über dich zürnen noch dich schelten will.« – Als er das gelesen, schaute er wieder in die Wellen, er that seine Brust weit auf, die prächtig daherrollenden Wogen, wie sie anbrausten und aufschäumten, brachten immer mehr Erquickung und Kraft und Muth. Er las den 121. Psalm: »Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt. Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht.«

Das sind Worte des ewigen Lebens. O selig, wer den Herrn fürchtet! Er will ihn frühe füllen mit seiner Gnade, er will ihn reich machen und hoch erheben, hoch erheben über jeden Schmerz, über jeden Kummer. Jetzt fühlte er sich erhoben in eine andere Welt, er hatte Frieden in der Furcht und in der Liebe und im Glauben, er gab seine Zukunft dem Herrn. Wenn man selbst im Unglück kann so friedevoll sein, als er jetzt es war, was war dann zu fürchten? Er schaute in die heranbrausenden Wellen und schaute in die Bibel. Er suchte den Spruch, den ihm sein Großvater mit auf den Lebensweg gegeben, und an den er lange nicht gedacht hatte. Er fand ihn Jeremiä am 31.: »Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.«

Aus lauter Güte! das war ihm so verständlich jetzt in einem anderen Sinne, als da er ihn damals der Großmutter sagte und ihn nur auf sein irdisches Glück bezog.

So in Gedanken vertieft, hatte er auf dem weichen Sandwege die nahenden Schritte nicht gehört, und sah plötzlich Herrn und Frau von Hohendorf an seiner Seite.

Unwillkürlich war es als müßte er die Bibel verbergen: – ein Buch, das von der Welt so wenig geachtet ist, – über das gebildete und kluge Leute weit hinaus sind, – das ein vernünftiger Mensch nicht auf einsamen Spaziergängen mit sich nimmt, um sich zu erbauen, – was möchten sie von ihm denken? Das wäre vielleicht eine von den Verlegenheiten der Welt gegenüber gewesen. Umrauscht von der Gnade des Herrn, sieht die Welt mit ihren Rücksichten jämmerlich aus. Die Bibel war der Anker seiner Hoffnung, seines Glaubens, der Reichthum seines Glückes, die Zuversicht seines Friedens und seiner Seligkeit, er hatte Muth das vor der ganzen Welt zu bekennen, und stand, das Buch ruhig in der Hand, ernsthaft grüßend vor den beiden Freunden.

Wir haben Sie gestört, sagte Herr von Hohendorf freundlich.

Daß er diesen Leuten gegenüber mit der Bibel in der Hand ein sehr werthgeschätzter Mann war, wußte er nicht; ihnen war es ein Zeugniß, das alle Schranken des Fremdseins, der weltlichen Formen niederriß, sie standen sich unbekannt gegenüber und doch bekannt, und fühlten sich in Theilnahme zu ihm hingezogen. Selbst Herr von Hohendorf hatte keine Scheu ihm das zu zeigen, und hatte ihn gerade deshalb, weil er die Bibel in seiner Hand sah, jetzt so offen und herzlich gegrüßt.

Das Meer ist so schön, entgegnete Herr von Kadden.

Sie haben in der Bibel gelesen, entgegnete Frau von Hohendorf; wie schön müssen die Psalmen dieser großen und mächtigen Natur gegenüber der Seele klingen! Lieber Ernst, wandte sie sich zu ihrem Mann, die Bibel muß man hier immer mit sich führen. – Sie sagte das vielleicht unwillkürlich, um dem Fremden zu zeigen, daß sie Gesinnungsgenossen wären.

Herr von Hohendorf griff in seine Brusttasche und sagte unbefangen: Ein Neues Testament mit den Psalmen habe ich, wenn Du das willst.

Sie nahm es freundlich dankend und sagte: Wenn ich diese mächtigen Wellen sehe, muß ich an die Worte denken: »Wenn gleich das Meer wüthete und wallete, von seinem Ungestüm die Berge einfielen; dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein.«

Die Großartigkeit des Meeres kann man sich nicht vorstellen, ehe man es gesehen hat, sagte Kadden. Herr und Frau von Hohendorf waren einverstanden.

Sie wunderten sich jetzt über die Einsamkeit des Strandes, und es ergab sich im Gespräch, daß es Mittagszeit für die Badegäste war, die an der Table d'hôte essen, daß sie aber beiderseitig die Absicht hatten, nicht an der großen Gesellschaft theilzunehmen und ganz für sich und mit dem schönen Meer zu leben. Frau von Hohendorf erkundigte sich theilnehmend nach Elisabeth, und Kadden berichtete, daß sie, noch von der Reise angegriffen, ruhen müsse.

Das Kindermädchen hat mir schon erzählt, wie sehr zart und schwach sie ist, sagte sie theilnehmend.

Er bejahte es. Sie ist leidend seit dem vergangenen Winter, so lange das kleine Mädchen lebt, sagte er.

Wir müssen sie recht sehr pflegen, fuhr sie fort; ja, Sie müssen mir schon einen Antheil an der Pflege erlauben, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr herzlich lieb ich Ihre Frau gewonnen habe von dem Augenblick an, wo ich sie gesehen.

Kadden war etwas verlegen, und Herr von Hohendorf sagte: Die Offenheit meiner Frau macht es Ihnen zur Pflicht, eben so offen zu sein und sie zu versichern, daß Sie ihre Hilfe nicht wünschen und lieber allein die Pflege übernehmen.

Ach nein, entgegnete Kadden freundlich, ich verstehe es gar nicht, meine arme Frau zu pflegen.

So müssen Sie es hübsch lernen, fiel ihm Frau von Hohendorf in die Rede. Von einer Frau, die älter ist als Sie, können Sie schon guten Rath annehmen, fügte sie freundlich hinzu.

Herr von Hohendorf fürchtete, seine Frau möchte etwas zu voreilig sein mit ihrem guten Rath, möchte gar jetzt schon von vernünftigen Männern reden, und unterbrach sie scherzend: Ich wollte mich eigentlich als viel passender zum Rathgeber anbieten, aber meine Frau würde mich nicht empfehlen; sie ist so unartig, zu behaupten, daß ich nie unliebenswürdiger sei, als wenn sie angegriffen ist.

Frau von Hohendorf lächelte und kündigte Herrn von Kadden ihren Besuch zu morgen an, worauf sie am Arme ihres Mannes weiter ging.

Wie kannst Du ihm das sagen? begann sie etwas vorwurfsvoll: nun kann ich Dich ihm nicht zum Muster stellen.

Es ist aber doch die Wahrheit, entgegnete ihr Mann.

Lieber Ernst, Du mußt das nicht glauben, sagte sie bittend; ich sage so etwas nur, wenn ich ärgerlich und verdrießlich bin.

Ich glaube es auch nicht, war seine schnelle Antwort, und in seinen Zügen war die Bestätigung seiner Worte zu finden.

Kadden wanderte nachdenklich seinem Hause zu. Nach den wenigen Worten, die er mit den Leuten gesprochen, konnte er sich ein genaues Bild von ihnen machen, und erkannte dankbar die Fügung des Herrn in diesem Zusammentreffen. Wenn wir nur erst Augen haben zu sehen, und Ohren zu hören, so werden wir merken, daß der Herr jedes Haar auf unserm Haupte gezählet hat, und seine Gnade uns leitet auf allen unseren Wegen. – Welch ein Trost war es ihm zu hören, daß auch gläubige Leute, und Leute, die sich lieb haben, sich nicht immer liebenswürdig finden. Auch der versprochene Besuch machte ihm nicht bange, er freute sich vielmehr für Elisabeth auf diesen Umgang.

Er betrat jetzt das Zimmer mit anderen Gefühlen als vorhin. Er fand Elisabeth noch in derselben Sofaecke, aber wachend. Sie sah die Bibel in seiner Hand, sie sah hin und wieder hin, ihr Herz begann ganz wunderbar zu klopfen. Die Kämpfe und Thränen, die ihrem eigenen Bibellesen vorangingen, waren veranlaßt besonders durch die Frage, ob sie die Einsamkeit hier mit der Nähe und mit dem Wesen ihres Mannes tragen könne, ob sie sich nicht zu den Großeltern flüchten müsse, um dort Schutz und Theilnahme, Liebe und Trost zu finden. Ihr Herz klopfte heftiger, als er sich zu ihr setzte, aber etwas sehr Schlimmes konnte er ihr mit der Bibel in der Hand nicht sagen, das war eine Beruhigung.

Elisabeth, bist Du einverstanden, begann er mit bewegter Stimme, daß wir uns in Gottes Gebot fügen und in Geduld und Demuth neben einander bleiben? – Er hielt inne, sie hatte die Augen niedergeschlagen und konnte nichts entgegnen. – Wenn Du Sehnsucht zu den Deinen hättest, möchte ich Dich nicht zurückhalten, fuhr er fort; wir sind aber Deiner Gesundheit wegen hergegangen und wollen hoffen, daß Du recht gesund und frisch hier wirst. – Seine Augen fielen indem auf die Rosen, die in einem Glase so frisch und duftend neben Elisabeths Bibel standen. – Nun wollen wir auch diese Blumen für eine Bestätigung Deines Wunsches halten, sagte er mit einem Lächeln, das freilich traurig genug war. – Elisabeth schwieg noch immer. – Und wenn wir zurückkehren, bleibt es bei der Verabredung, daß Du mit den Kindern zu den Großeltern gehst, fügte er hinzu und er erklärte ihr nun noch so schön und zart er es nur konnte, sie sollte die Zeit hier ganz nach ihrem Gefallen leben und thun, ganz wie es ihre Stimmung verlangte. Sie konnte reden oder schweigen, weinen oder freudig sein, gehen oder ruhen, ja allein wandeln am Meer so viel es ihr gefiel, sie hatte niemand zu fragen, niemanden von ihrem ganzen Thun Rechenschaft zu geben. Sie sollte sich frei fühlen, auch nie fürchten, ihn zu verletzen oder zu erzürnen; sie sollte nur an ihre Genesung denken, – und an ihren Frieden, setzte er leiser hinzu.

Sie hatte zu allem geschwiegen. Er schwieg jetzt auch. – Nach einer Pause sagte er schnell: Jetzt nur, Elisabeth, sprich ein Wort.

Ich danke Dir, sagte sie, – und er verließ schnell das Zimmer.

Aus Großmuth und Güte handelt er so, dachte ihre Seele, und die Anerkennung lag in ihrer Antwort. Als er aber das Zimmer verlassen hatte, nahten sich bald genug wieder sehr traurige Gedanken. – Die Großmuth wird ihm nicht schwer, – es ist ihm keine Entbehrung, von mir nicht viel zu hören, weil er mich nicht mehr lieb hat, – meine Nähe ist ihm so drückend als mir die seinige, – er wird sich gern freier fühlen. – Und doch ist es so am besten, mußte sie schließlich hinzufügen, der Entschluß ist weise, – und daß er mit aufrichtigem Herzen und mit dem Herrn gefaßt war, das fühlte sie in seinem ganzen Wesen.

Sie stand jetzt auf, sie wollte seinen Rath, so viel als möglich in der Luft zu sein, befolgen. Sie stellte sich vor den Spiegel, strich die verwirrten Locken glatt zurück und knüpfte ein leichtes Spitzentuch über das schlichte Haar. In dem Augenblick trat Johanne herein mit dem neuen Hut und dem Sammttuch. Elisabeth sah es verwundert an.

Nun, gnädige Frau, müssen Sie sich putzen, begann das Mädchen, die ganzen vornehmen Herrschaften gehen am Strand spazieren. Da müssen wir mit den Kindern doch auch hin.

Woher hast Du das? fragte Elisabeth mit stockender Stimme.

Das hat der gnädige Herr in Bremen selbst gekauft, sagte Johanne schmunzelnd, dafür müssen Sie sich recht schön bedanken.

Elisabeth nahm beide Sachen dem Mädchen aus der Hand, legte sie in den Schrank, der in ihrer Stube stand, und sagte: Ich gehe ja jetzt nicht an den Strand, ich will hier auf der Bank an unserm Hause mit den Kindern bleiben.

Johanne wußte, daß ihre junge Frau eigensinnig war, und sagte nichts weiter.

Elisabeth blieb den ganzen Abend am Giebel des Hauses sitzen, wo eine Segeltuch-Wand sie vor den Vorübergehenden verbarg, und sie das Meer doch so schön vor sich hatte. Ihr Mann war fortgegangen, sie aß mit den Kindern allein hier ihr Abendbrot, und saß allein hier, bis die Sonne als ein großer Feuerballen sich leise hinabsenkte zu der dunkelblauen Fluth.

Elisabeth saß mit gefalteten Händen, es war ganz still und friedlich in ihrem Herzen, sie hatte in der Bibel lesen können und hatte beten können; jetzt war ihr geholfen, es mußte ihr Trost werden. Der Herr hatte sie auch schon erhört, hatte er denn nicht alles über Erwarten gut gefügt? Seitdem ihr Mann mit ihr gesprochen, war Bangigkeit und Angst aus ihrer Seele, die Tage hier konnten ihr nicht gar zu schwer werden. In die Zukunft wollte sie nicht sehen, nur immer beten für den einen nächsten Tag. Sie hatte die Abendstunden mit den Kindern wie ein Kind verspielt und hatte jetzt weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft gedacht. Nun die Kinder zu Bett waren, saß sie ganz still und gedankenvoll, sie schaute unverwandt auf das Meer, sie dankte dem Herrn für die letzten guten Stunden, und bat um eine gute Nacht für sich und ihre Kinder.

Als die Sonne fast ganz hinab gesunken und nur noch wie ein kleiner goldner Nachen auf dem Wasser ruhte, trat ihr Mann plötzlich zu ihr. Sie stand unwillkürlich schnell auf.

Ich wollte Dich nicht stören, sagte er ruhig und war im Begriff zurückzugehen.

O nein, sagte sie schnell, – die Sonne ist so schön jetzt.

Er blieb einige Schritte von ihr an der Wand des Hauses gelehnt stehen, beide sahen der sinkenden Sonne nach, bis zuletzt nur ein Stern noch seine blitzenden Strahlen über die silberumsäumten, leise auftauchenden Wogen sandte. Der Stern war auch versunken und ein immer tiefer werdendes Roth legte sich über das dunkele nächtige Meer, das so weit hin, so grenzenlos, ja fast schaurig, seine wogenden Arme um die kleine Insel ausbreitete.

Jetzt wird es kalt, sagte Herr von Kadden. Er hätte gern hinzugesetzt: es ist Dir besser, Du gehst in das Zimmer; aber er wollte ja nicht einreden, sie sollte allein nach ihrem Gefallen leben, darum sagte er nichts weiter.

Er hatte es kaum ausgesprochen, so nahm Elisabeth ihre Sachen zusammen und ging in das Zimmer. Der Bediente folgte ihr mit dem Licht.

Sie holte schnell ihr kleines Gebetbuch, das ihr die Großmutter schon als Kind geschenkt, daraus sie viele Jahre jeden Abend den Abschnitt, der für den Tag bestimmt war, für sich gelesen. Erst den Winter, wo sie viel in Gesellschaft war und meistens sehr spät nach Hause kam, entwöhnte sie sich von dem Lesen, und später, wo sie überhaupt matt und verstimmt, nicht zu solchen Dingen kommen konnte, hatte sie das Buch höchstens einmal im Vorübergehen und mit getheiltem Herzen angesehen. Sie hatte es mit hierher genommen, weil sie von Jugend auf gewöhnt war, es überall mit der kleinen Bibel zusammen mit sich zu nehmen.

Als sie das liebe getreue Buch wieder zur Hand nahm, schämte sie sich wohl und hatte ein böses Gewissen, aber mit großer Sehnsucht schlug sie den heutigen Datum, den 14. Juli, auf.

»Mein Herz hält Dir vor Dein Wort: Ihr sollt mein Antlitz suchen; darum suche ich auch, Herr, Dein Antlitz. Ich bin Dein, hilf mir: denn ich suche Deine Befehle. Die mich frühe suchen, finden mich. – Die Elenden sehens und freuen sich: und die Gott suchen, denen wird das Herz leben. Wer da suchet, der findet. Wer aber mich findet, der findet das Leben.

Willst du vor Gott nicht eher treten, als bis dein Herz erwecket ist,
So würdest du wohl gar nicht beten; drum bet auch, wenn du schläfrig bist.
Und mußt du dich gleich ernstlich zwingen, halt an, es wird schon leichter gehn.
Es wird dir vielen Segen bringen; drum bleib nicht in der Trägheit stehn.
Gott wird dir viele Kräfte geben, halt ihm sein wahres Wort nur für;
Es soll dir noch das Herze leben, suchst du nur Jesum mit Begier.«

Als sie die erste Hälfte gelesen, trat ihr Mann in das Zimmer. Es lag ihr so nahe, das Buch zu verbergen; sie fühlte, wie sie feuerroth wurde, er sollte von ihren Stimmungen nichts wissen. Er wollte es auch nicht, setzte sie hinzu, er hatte es ihr abgewöhnt, bei ihm Theilnahme und Trost zu finden. Ihm lag nicht daran, wie es in ihrem Innern aussah. Heute und mit dem Buche in der Hand, war sie darüber getröstet; – wenn der Herr es nur wußte. Aber in dem letzten Gedanken konnte sie auch das Buch nicht fortlegen, sie las um des Herrn willen weiter, freilich sehr zerstreut, – von der letzten Hälfte würde sie wenig gewußt haben, wäre es ihr durch den früheren langen Gebrauch nicht gar zu bekannt und heimathlich nahe gewesen.

Jetzt stand sie auf und sagte, nachdem sie es erst überlegt, ihrem Manne gute Nacht. Er reichte ihr nicht die Hand, und sie war es zufrieden.

Sie lag noch länger wachend, sie hörte die nahende Fluth immer lauter unter dem Fenster heranbrausen, sie dachte an die nächtige dunkele grenzenlose Wasserfluth und dachte: Wenn ich da auf einer Insel Schiffbruch gelitten und getrennt wäre von allem was mein Herz liebt! Sie gedachte ihrer lieben, lieben Kinder, sie konnte dem Herrn so aufrichtig danken. Wie viel zu ihrer Ruhe das Gefühl beitrug, hier in der weiten Fremde nicht allein und ohne Schutz zu sein, dort nebenan jemand zu wissen, auf dessen Großmuth wenigstens sie bauen konnte, das machte sie sich nicht klar.


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