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Herbst und Winter waren vorüber, und zwar unter der Macht der Alltäglichkeit sehr schnell vorübergegangen. Wie die Glieder einer Kette reihte sich ein Tag mit seinen kleineren oder größeren Zerstreuungen an den andern, und ohne es recht zu merken und ohne es recht zu wollen, war das junge Paar mit den guten Vorsätzen immer fester und fester mit der Welt verbunden. – Die Mutter hat in diesen Stücken wieder Recht, hatte Elisabeth oft gedacht, dieses Stadtleben, obgleich es uns eigentlich nicht schaden, nichts anhaben kann, weil wir darüber stehen, es liegt bedrückend auf unserem Seelenleben, wir können nicht so recht leben wie wir wollen. – Sie hatte im Herbst den besten Willen gehabt, ein neues Leben anzufangen und wenigstens so liebenswürdig als die Großmama zu sein; sie kam jetzt aber leider zu viel mit Menschen zusammen, die das ganze Leben in einem zu verschiedenen Lichte von ihr anschauten, sie konnte unmöglich da aus sich heraustreten, und ihr innerstes Herzens- und Seelenleben auch nur ahnen lassen. Sie gewöhnte sich im Gegentheil nach und nach förmlich, eine Rolle zu spielen, sie war übermüthig und neckte sich mit ihrem Mann, unter der Neckerei ließ sich recht gut Ernst und Scherz verbergen. Daß er denselben Ton annahm, sie wieder neckte, machte ihr oft Herzweh genug; aber es ging doch nicht anders, und das nächste Vergnügen verwischte solche Eindrücke schnell. Sie war auch gar zu frisch und freudig, und beruhigte sich immer wieder mit der Vorstellung, es fehle nichts ihrem Glücke, sie müsse nur nicht zu penibel sein.
Das unangenehmste Gefühl in ihren verschiedenen Stimmungen machte ihr das Mißlingen des Doppel-Umganges. Im Anfang war der Verkehr so hübsch angeknüpft, sie hatten so schöne Stunden mit den ihnen viel lieberen, ernsten und gescheiten Leuten verlebt, und Elisabeth hatte die Frau Assessor Borne besonders lieb gewonnen. Nach und nach aber, anfänglich kaum zu merken, zogen sich diese neuen Freunde mit eben dem Zartgefühl, mit dem sie den Umgang begonnen, wieder zurück. Elisabeth war viel zu harmlos und offenherzig gewesen, sie hatte ihre Ansichten über das Weltleben nie verborgen, und je mehr sie, um ihr Leben zu entschuldigen, den weltlichen Kreis, in dem sie vergnügt und sicher lebte, als höchstens langweilig aber nicht gefährlich schildern wollte, je mehr entfernte sie sich von der Gesinnung dieser ernsteren Freunde, und endlich zogen sie sich entschieden zurück.
Es war für Elisabeth sehr demüthigend, nur im Vorübergehen einen verlegenen Gruß zu erhalten, wo sie sonst mit herzlichem Händedruck begrüßt wurde. Dem Manne von ihren unangenehmen Gefühlen zu sagen, scheute sie sich, nein sie hielt solche Gedanken selbst von sich entfernt und war froh, daß ihr Mann sich nicht über diese christlichen Leute beklagte, die nach ihrer Meinung wirklich hart, einseitig und rücksichtslos waren. Kadden fühlte mit einer gewissen inneren Unzufriedenheit etwas Aehnliches, aber er war dabei zu aufrichtig und zu einsichtsvoll, um den Leuten, die einmal von der Welt nichts wissen wollten, zu verdenken, daß sie sich auch von ihnen zurückgezogen, die sie jetzt, wenn auch mit andern Gesinnungen als die Welt, doch mitten darin lebten.
Nach lauten und späten Gesellschaften, wo Elisabeth getanzt, zwar immer noch am liebsten mit ihm, doch auch mit anderen Herren, wenn sie dann am folgenden Morgen abgespannt und nicht sehr guter Laune war, sich selbst auch über dies ungewohnte Leben beklagte, dann klopfte eine Stimme an sein Gewissen: Bist du ihr auch ein guter Führer und Herr und Wächter? Ist in den Kreisen, wo du sie hinein bringst, Lebensluft für sie, oder Gifthauch, der ihr liebliches und kindliches Seelenleben verkümmern läßt? Ist sie hier bei dir nicht wirklich schon anders geworden, als damals, wo du sie kennen lerntest und wo sie dir mit Vertrauen von der ganzen Familie übergeben wurde? Dann seufzte er, legte die Hand vor die Stirn und dachte: Ja es soll anders werden, ich wollte sie ja so gern wie mein Herzblatt bewahren. Es wurde aber nicht anders, die Macht der Alltäglichkeit und Gewohnheit überwindet alle guten Vorsätze, besonders wo es gilt, eine Kette plötzlich zu zerreißen.
Mit Woltheim hatte das junge Paar im Winter wenig Verkehr gehabt, der Großvater lag länger an einer Grippe, nicht gefährlich, aber er bedurfte der Ruhe, und das Großmutterherz schenkte ihm ihre Liebe und Sorgfalt ungetheilt. Bald darauf hatte sich Charlottchen gelegt, der Arzt nannte es ebenfalls Grippe, sie nahm aber zugleich einen nervösen Charakter an, wenn es auch ganz gefahrlos schien.
Ende Februar fuhren eines Tages ganz unerwartet die Schimmel in Braunhausen vor. Elisabeth freute sich sehr, sie glaubte, es sei nach langer Zeit einmal wieder die Großmama. Aber der alte Friedrich hielt nicht lange mit seiner mündlichen Botschaft zurück: die jungen Herrschaften möchten eiligst kommen, – Charlottchen lag am Tode und hatte Verlangen, sie noch einmal zu sehen.
Elisabeth trug ihr Kleid, das sie eben zum heutigen Abend garniren wollte, fast mit Entsetzen fort, – anstatt zu Spiel und Tanz sollte sie an ein Sterbebette.
Schweigend saß sie neben ihrem Mann im Wagen, beide waren nachdenklich und bedrückt in der Erwartung, was sie jetzt erleben sollten. Beide hatten noch nie einen Menschen sterben gesehn, und die Religion, die nur ausreicht bei Glück und Gesundheit, fühlt sich nicht wohl an Sterbebetten.
Die Großmutter führte ihre Kinder sogleich zu Charlottchen. Sie lag still und friedlich. Mit dem gewissen und zuversichtlichsten Kinderglauben sah sie den Himmel vor sich und harrete, daß der Herr sie möchte träumend durch das Todesthal geleiten. Sie reichte Kadden und Elisabeth die Hand, hielt auch beider Hände einen Augenblick mit einander fest und flüsterte: Wir sehen uns wieder.
Von den anderen hatte sie in aller Demuth und Dankbarkeit Abschied genommen. – Der Großvater las noch ein Sterbelied, Onkel Karl hatte sein kummervolles Gesicht an die Scheiben gelegt, da deutete der Arzt das nahe Ende an. Ein Lungenschlag machte den Athem erst unregelmäßig, bis er leise ganz aufhörte.
Die Anwesenden waren um das Bett getreten. Ein solches friedliches, seliges Bild war herzbewegend. Ist das Sterben? – so ging die Frage durch die Seelen, und mit ihr eine Sehnsucht nach Frieden und ein wunderbar seliges Heimweh. Elisabeth stand erschüttert neben ihrem Gemahl, er war ebenso ergriffen, er fühlte wieder ein Wehen der Wunderwelt dort über sich, ein Wehen des Gottesreiches, in dem ein solches Sterben möglich ist.
Die Großmutter faltete Charlottchens Hände in einander und sagte dann leise: Man könnte wünschen, wie sie so selig auszuruhen.
Und der Großvater fügte hinzu: Mit des Herrn Hilfe und durch seine Gnade werden wir ja einst alle so selig ruhen, um die verklärte Welt mit dieser zu vertauschen.
Er umarmte seine Frau und seinen Bruder und seine theuren Kinder, dann verließen alle das Sterbezimmer, und Elisabeth fuhr mit ihrem Gemahl bald darauf wieder heim.
Am anderen Morgen lag sie auf dem Sofa und weinte. Sie weinte lange und wußte kaum warum. Sie weinte so lange, bis sie abgespannt und matt und müde entschlief. Das alte gute Kindermädchen glaubte, ihre junge gnädige Frau habe Charlottchen gar zu lieb gehabt, und sei darum so traurig; sie hielt den kleinen Friedrich in der Kinderstube zurück, damit er die Mutter, die übrigens auch noch gar nicht nach ihm gefragt hatte, nicht stören sollte. Sie wachte erst auf, als ihr Mann gegen Mittag in die Stube trat.
Er hatte sie den Morgen weinend verlassen und setzte sich theilnehmend zu ihr, aber er saß nur wenige Augenblicke, da kämpfte sie wieder mit den Thränen und weinte dann wieder bitterlich. Nun sage mir, liebe Elisabeth, warum Du weinst, bat er freundlich, Charlottchens Tod kann Dich nicht so betrüben. – Elisabeth schüttelte den Kopf. – Du hast noch nie jemand sterben sehen, fuhr er fort, das hat Dich so bewegt? – Sie nickte nur. – Der Tod war aber so schön, sagte er wieder.
Da weinte sie heftiger und sagte: Mir ist es eben, als ob ich nie so sterben könnte. Es ist mir so öde und leer in der Seele, es ist mir, als ob ich kein Herz in der Brust hätte, und dafür etwas so Schweres und Banges, was mir Furcht macht.
Er tröstete sie freundlich, er sagte auch, sie sei angegriffen, weil sie in den letzten Tagen so unruhig lebten.
Ich habe aber auch in der Nacht einen Traum gehabt, begann Elisabeth etwas ruhiger, er ist eigentlich gar nichts und doch quält er mich. Ich stand auf einem hohen Felsen und unter mir war es unabsehbar tief und grau wie ein Nebelmeer. Da sagte eine Stimme: Jetzt springe hinab, es ist die Ewigkeit. Ich wachte erschrocken auf. In dem kurzen Traume und mit dem einen Bilde habe ich aber noch so viel erlebt, was ich fühle und empfinde, was ich aber nicht beschreiben kann. Es ist, als ob ich mein ganzes Leben im Traume gefühlt hätte, und auch meine Zukunft, so trostlos und so grau und so unabänderlich. Jetzt springe hinab! sagte die Stimme. Ich fühlte: also wirklich doch die Ewigkeit steht vor dir, du mußt hinab, es ist kein Ausweg, was du dir nie hast deutlich vorstellen können, der Schritt vom Leben zum Tode, jetzt ist er da.
Nun muß es Dich doch freuen, daß es nur ein Traum war, sagte er freundlich.
Aber Otto, entgegnete sie ernst, der Augenblick wird und muß kommen, und ich werde dann eben so trostlos sein, als jetzt.
Er hatte seinen Arm um sie geschlungen und sah ernsthaft vor sich hin. Konnte er ihr denn gar nichts Tröstendes sagen? Von seinem Himmel des guten Gewissens? Von dem Bewußtsein der Rechtschaffenheit? Der Himmel war langst erschüttert, und vor dem furchtbaren Geheimnisse des Todes brachen auch die letzten Stützen. – Unsere Seele wird fortleben, das ist sicher, wenn es auch dem Verstande so unbegreiflich ist, als der Ursprung der Seele. Wir sind in das Leben gerufen, wir werden mit Wohlthaten überschüttet, alles ohne unser eigenes Verdienst. Wir fühlen es, wir sind von einer unsichtbaren Gnade und Liebe und Weisheit und Allmacht umgeben, diese unsichtbare Gnade und Liebe, diese dem Verstande unbegreifliche Macht kann uns auch nur fortleben lassen, – also nur einen Himmel aus Gnaden. Wie kann man nur so wahnwitzig sein und einen Himmel schaffen wollen aus eigenem Verdienst? – Das hatte Kaddens Seele schon oft bewegt. – Aber in diesen Himmel aus Gnaden schaut und gelangt man nur durch einen festen Glauben, und der Glaube läßt sich auch nicht durch eigenes Verdienst erwerben. Läßt uns denn die unsichtbare Liebe und Gnade, die uns umgiebt, die auch der schärfste weltliche Verstand nicht leugnen, nur unbegreiflich finden kann, läßt uns denn diese Liebe ohne Rath und ohne Trost vor dem größten Räthsel, das unsere Seele mit Furcht und Entsetzen erfüllt? Nein, diese Liebe zeigt uns den einfachsten und sichersten Weg zum Glauben und zum Himmel, sie will unsere Seele erfüllen, anstatt mit Furcht und Entsetzen, mit Entzücken und Seligkeit. Es ist unbegreiflich, daß nicht eine jede Menschenseele mit größter Lust und Freudigkeit diesem Rufe zur Seligkeit folgt, oder es ist nur begreiflich, weil hinter dem schaurigen Geheimniß des Todes nicht nur ein lieber barmherziger Vater, ein Himmel aus Gnaden, sondern auch der mächtige Gegensatz, der Teufel mit seinem höllischen Reiche verborgen ist. Beide Mächte streiten hier um die Seelen, die Macht der Gnade und die der Sünde, die Macht des Himmels und der Hölle. – Kann denn der Verstand die Himmelsahnungen, welche die Seele zuweilen so mächtig bewegen und ihr das Reich Gottes nahe bringen, verbannen? Kann er aber auch die Todesschauer, das Grausen vor dem, was kommen könnte, den Einfluß einer unheimlichen Gewalt aus der Seele bannen? Nein, er kann nichts, aber da er voll Hochmuth ist, will er nicht glauben. Der Glaube, der die Seele selig macht, würde ihn und den alten Menschen vernichten müssen, darum läßt er sich lieber von der Macht des Bösen helfen, um die Seele zu streiten; er läßt sich helfen, obgleich sein Hochmuth auch nicht leidet, an diese Macht zu glauben, er will selbst allmächtig sein. Bei Bosheit und schauerlichen Verbrechen, davon die Erde voll ist, die ihm fortwährend unter die Augen kommen, gesteht er auch eine Macht des Sündenreiches zu, das von einem Schritt zum andern drängt. Daß der Teufel, wie an rohen und verwahrlosten Seelen seine Macht durch Verbrechen übt, so auch an seinen Leuten durch feinere Sünden, kann er nicht glauben, oder es ist ihm unbequem zu glauben. Ebenso daß es ein bestimmtes Entweder-Oder giebt, und daß man nicht Gott und der Welt zu gleicher Zeit dienen kann. Der eine Ausweg, damit der ungläubige Mensch seine schwankenden Brüder, oder vielmehr einer den andern in die Irre führen möchte, ist der: den Weltdienst als unschuldig und gar als Gottesdienst hinzustellen. Aber das wird nie eine Entschuldigung sein. Gottes Gebote sind zu deutlich und klar, Gottes Wort läßt uns auch nicht in den kleinsten Dingen zweifelhaft, was wir thun und lassen sollen, und die Unlust, diese Gebote zu erfüllen, es recht genau damit zu nehmen, vielmehr die Lust, sie nach ihrer Neigung und Bequemlichkeit zu deuten, sollte die Weltmenschen, auch die rechtschaffenen, honetten, aufmerksam machen, in welcher Gewalt sie sich befinden.
Herr von Kadden saß gedankenvoll neben seiner Frau. Alle diese Anschauungen waren ihm in den letzten Jahren nahe getreten, zum Theil auch wohl lebendig in seiner Seele geworden. In dem aufrichtigen Verlangen, die Himmelsahnungen, die seine Seele bewegt hatten, zu verstehen, hatte er sich gern zu den Freunden gewandt, die dem Reiche Gottes, dem wundersamen, geheimnißvollen Reich dort über ihm, näher standen. Er war dem Zuge seiner Seele demüthig gefolgt, er wollte sich belehren lassen und um Glauben bitten lernen. In aller Stille, ohne daß es selbst den Nahestehenden bemerkbar wurde, war die Erkenntniß in seiner Seele gewachsen. Er sah entschieden das Reich Gottes und das Heil oder die Welt und die Unseligkeit vor sich, die Sehnsucht nach dem Frieden, der höher, ist als alle Vernunft, dessen Ahnungen ihm schon die seligsten Momente seines Lebens waren, hatte eine bestimmtere Gestalt in ihm gewonnen, der neue Mensch aber, ohne dessen Geburt das Reich Gottes uns allen verschlossen bleibt, war damit immer noch nicht in ihm geboren. Er gehörte noch zu den rechtschaffenen, honetten Weltleuten, die gern selig werden wollen, die aber Gottes Gebote nicht ganz genau nehmen, die sie der Bildung und den Zeitumständen anzupassen suchen. Besonders aber das Gebot, der Welt Freundschaft offenbar und unumwunden abzubrechen, ihr entschieden Feindschaft zu erklären, und den Herrn Christus zu bekennen, das schien ihm unausführbar. Wenn ihm die Worte des Herrn: »Wer mich bekennet vor den Menschen, den will ich bekennen vor meinem himmlischen Vater, und wer mich verleugnet vor den Menschen, den will ich vor meinem himmlischen Vater auch verleugnen,« mahnend vor die Seele traten, wenn er sie zu einfach, wahr und gerecht finden mußte, dann suchte er noch den Ausweg, sich dies »Bekennen« nach seiner Meinung auszulegen, und ebenso das: »in der Welt leben.« Er hatte im Herbst den guten Vorsatz gefaßt, als ein Feind der Welt in der Welt zu leben. Die Begriffe von Welt und Welt, dachte er, sind so verschieden: die Welt, wie sie ihm entgegen trat, war noch nicht arg, in einer so nüchternen, elenden, armseligen Gestalt konnte sie ihn nicht stören, nicht wankend machen in seinem Glauben, nicht ärmer an Erkenntniß, er war längst über sie hinaus, ja in dieser Welt seine Richtung nicht zu verleugnen, war sein fester Entschluß. Ein Bekenntniß lag seiner Meinung schon genugsam darin, wenn er sonntäglich mit seiner Frau den gläubigen Prediger hörte, dessen Predigten gegen seine Kameraden vertheidigte, und auch außerdem mit gläubigen Leuten Umgang hatte. – Als ein Feind der Welt dennoch in der Welt leben, hatte er in diesem Winter zuerst versucht, aber mit traurigem Erfolg. Wenn er bis vor wenigen Jahren ganz harmlos als ein Freund der Welt mit ihr lebte, so war das nicht schwer, er wußte es nicht besser. Die Gegenwart befriedigte ihn zwar nie, er schaute mit Ungeduld und Erwartung in die Zukunft, als ob sie einen großen Schatz für ihn bewahre, es trieb ihn von einer Zerstreuung zur andern, und wenn es dann so leer und leer und immer leerer in der Brust blieb, schaute er nur ungeduldiger und sehnsuchtsvoller in die Zukunft. Stottenheim hatte ihm öfters in vertraulichen Stunden ganz väterlich versichert: Lieber Junge, laß Dir rathen, lebe Du in der Gegenwart, genieße die Jugend, glaube mir, es kommt nichts Besseres. Gerade die Sehnsucht, die Erwartung, ist das Glück der Jugend; die Täuschung, daß nichts dahinter sitzt, ist der Schmerz des Aelterwerdens. Ich versichere Dich, ich habe eben so ungeduldig als Du in die Zukunft gesehen, bis ich mich nach und nach überzeugte, daß nichts dahinter war, und bis ich so vernünftig war, zu resigniren und mich dennoch glücklich zu fühlen. – Kadden hatte sich mit dieser vernünftigen Resignation nie zufrieden geben können. Die Gesellschaften, die Vergnügungen, die ihm geboten wurden, hatten ihn nie eigentlich befriedigt. Es waren dabei die nichtigsten Dinge, die ihn quälten: ob er dumm oder klug in der Gesellschaft gesprochen, ob er von der Hausfrau genug berücksichtigt oder überhaupt von dem und dem aufmerksam behandelt war, ob man ihn liebenswürdig fände. Ebenso war es im Verkehr mit seinen Oberen und Kameraden, er war reizbar und heftig, er hatte oft etwas zu rügen oder auszugleichen, seine Stimmung ward, wenn er sich auch mit Jugendlust, Jugendfrische und Harmlosigkeit in die Welt hinein begab, immer wie ein wogendes Meer, hoch hinauf uns tief hinab getragen. Nein, diese Gegenwart war noch nicht schön, die Zukunft mußte etwas Besseres bringen. – Mit seiner Verlobung hatte sich ihm ein Himmel aufgethan, Elisabeths Liebe, ihr Glaubensleben, ihre Himmelshoffnung, bewegten seine Seele mit wundersamem Glück. Die Zuversicht, daß die Sehnsucht der Jugend wirklich ein seliges Ziel habe, ein sicheres unfehlbares Ziel, die Zuversicht, daß von einer vernünftigen Resignation nicht die Rede sei, sondern nein, daß man immer reicher und reicher und glücklicher in die Zukunft schauen müsse, immer mehr empfange, nicht von der nichtigen, leeren, leeren Welt, sondern von der geheimnißvollen Liebesmacht dort oben, die hatte seine Seele erfaßt und sie wurde genährt durch den Verkehr mit den Gotteskindern, deren Einfluß er sich nicht entziehen konnte. Wie der alte Herr von Budmar ihm damals schon gesagt: Unsere Liebe wird Sie beunruhigen, unsere Gebete werden Sie drängen. Mit diesen Anschauungen, mit dieser Erkenntniß in der Seele, konnte er da noch harmlos wie früher in der Welt leben? Er wollte der Himmelssehnsucht nachleben, und fortwährend stand ihm Gottes Gebot drohend vor der Seele. Gottes Gebote lassen sich von der Welt und vom bösen Willen wohl mißverstehen, ein aufrichtiges Herz aber wird sich nicht lange darüber täuschen können, es kann höchstens einen unglücklichen Versuch damit machen. Ja, das Wort Gottes nicht ganz wörtlich zu nehmen, es den Verhältnissen und Rücksichten etwas anzupassen und dennoch Frieden zu haben, ist ein thörichtes Hoffen und wird nur Unsegen und Unfrieden bringen. Diesen Unfrieden, den Stachel im Gewissen hatte Kadden in der letzten Zeit immer tiefer gefühlt, und je mehr er es bekämpfte mit den Mitteln, die sein jetziges Leben ihm bot, je matter fühlte er sich, je mehr fehlte ihm die Kraft, sich heraus zu reißen. In dieser Stimmung verstand er Elisabeths Thränen nur zu gut, jede Thräne aber fiel auf sein Gewissen, – hatte er sie denn nicht in dieses Elend hineingeführt?
Lieber Otto, sagte sie, nachdem sie sein Schweigen eine ganze Zeit getragen, und sah ihn mit ihren wunderlieblichen hellen Augen bittend an: Willst Du mich denn nicht trösten?
Ich Dich trösten, entgegnete er seufzend, ich kann Dich nicht trösten, Du mußt Dich dahin wenden, wo Du Dir immer Trost geholt.
Sie schüttelte den Kopf.
Elisabeth sprich doch! bat er dringend.
Ich möchte, ich könnte Dir alles sagen, war ihre Antwort.
Du sollst mir auch alles sagen, bat er wieder und forschte, und sie klagte ihm ihre Seelennoth, wie sie erst ganz leise angefangen und in der letzten Zeit sie immer mehr bedrückte. Es war dies das getreue Abbild seines eigenen Unfriedens: mit dem Stachel der Erkenntniß, mit der Sehnsucht nach Glück und Seligkeit, ein Leben in der Welt, nur daß Elisabeths Glaubensleben lebendiger, ihre Sehnsucht und Liebe zum Herrn wärmer, und die Ursache und die eigene Schuld an der Seelen-Noth ihr unklarer war. Sie hatte sich immer damit beruhigt, daß ihres Mannes Stellung nicht zuließe anders zu leben, und wenn sie sich unbehaglich und unbefriedigt gefühlt, stand ihr immer wieder das Beispiel der Mutter vor der Seele, die ja auch so oft sich über das Bedrückende des Stadtlebens beklagt hatte. Aber die Mutter war fester, sie war nicht so eitel, hing nicht so sehr von der Welt ab! klagte sie und machte sich wohl bittere Vorwürfe, denn sie fühlte sich umsponnen von unzähligen kleinen nichtigen Fäden, die ihr alles Seelenleben nahmen. Sie war so schwach und matt, zum Gebet hatte sie keine Kraft und keine Lust, und wenn die Sehnsucht dann ihr Herz doch einmal mächtig bewegte und sie gern zum Herrn kommen wollte, dann ward es ihr bange, dann wagte sie nicht zu sagen: »Herr ich lieb Dich, Herr ich lieb Dich, ach von Herzen lieb ich Dich!« Dann ward es ihr klar, daß sie ungetreu geworden.
So klar als heute war es ihr noch nie geworden, so bange hatte sie sich noch nie gefühlt. Wenn ich jetzt sterben müßte, es wäre entsetzlich, klagte sie. O, lieber Otto, Du glaubst nicht, wie unglücklich ich bin! fügte sie hinzu und sah ihn wieder so bittend an, als ob er ihr helfen müsse.
Ich glaube es und weiß es, sagte er. Und ich bin auch sehr unglücklich, fügte er nach einer Pause traurig hinzu.
Da richtete sie sich plötzlich auf und sah ihn fragend an. Du bist auch unglücklich? fragte sie. – Er sah sie nicht an, es war, als ob er ihre Frage nicht gehört hätte.
Sie war so verwundert, sie konnte kaum einen Gedanken fassen. Anstatt daß er ihr das böse Gewissen ausredete, als rechtschaffener, braver Mann sie tröstete, daß sie auch nichts Unrechtes gethan, daß das Leben nicht anders sei und sie sich an solche vorübergehende Stimmung gewöhnen müsse, – diese Hoffnung hatte der alte Mensch in ihr gehegt, – anstatt dessen erkannte er ihr Elend und hatte keinen Trost für sie, weil er eben so elend war. Plötzlich ward es ihr klar, daß es nicht anders sein konnte; sie wollte aber selbst lieber unglücklich sein, als den Mann, den sie so herzlich liebte, unglücklich wissen.
Lieber Otto, sagte sie bittend und legte ihre Hand auf seine Stirn, ich kann Dich nicht traurig sehen, ich habe Dich ja so sehr lieb.
Er bedeckte die Augen mit der Hand und sagte leise: Und doch kann Deine Liebe mich nicht trösten, ebenso wenig ich Dir mit meiner Liebe helfen kann.
Elisabeth war von diesen Worten noch mehr erschrocken, sie konnte nichts entgegnen. Ihre Liebe, mit der sie so sicher und gewiß glücklich sein wollten, konnte ihnen nicht helfen? Das sagte der Mann selbst, auf dessen Schutz und Hilfe sie sich in Glück und Unglück geborgen fühlen wollte. Und doch hatte er Recht, – sie fühlte es deutlich. Nicht in der geringsten Seelennoth hatte ihr diese Liebe helfen können, sondern der Herr allein hatte immer helfen müssen. So lange ihr schwaches und thörichtes Herz noch hoffen konnte, ihr Mann werde ihr die Seelennoth ausreden, werde mit seiner Liebe trösten können und entschuldigen und zerstreuen, so lange war es der Seele bange, weil sie im tiefsten Grunde doch keine Hilfe sah, weil es nur ein Ausreden, aber kein Trösten sein konnte. Von dem Augenblick, wo ihr kein Zweifel der Schuld und Hilflosigkeit mehr blieb, sah sie sehnend zum Herrn hinauf, ja in der Theilnahme an der Traurigkeit des Mannes richtete sich die eigene Glaubenskraft nur lebendiger auf. – So müssen wir beide den Herrn bitten, sagte sie.
Wer wirklich beten kann, dem ist schon geholfen, entgegnete er wieder.
Wenn wir nicht beten können, fuhr sie tröstend fort, so können wir doch sagen: »Aus tiefer Noth schrei ich zu Dir!« und können sagen: »Denn so Du willst das sehen an, was Sünd und Unrecht ist gethan, wer kann, Herr, vor Dir bleiben!« Das kannst Du doch auch aus voller Seele sagen? fügte sie zagend und doch mit dem Ton der beweglichsten Liebe hinzu.
Seine Augen wurden feucht, es zuckten seine Lippen, er nahm hastig ihre Hände, küßte sie und sagte bewegt: Ja liebe Elisabeth, das kann ich auch sagen.
Dann wird der Herr uns auch hören, fuhr Elisabeth freudiger fort.
Wenn er uns hören soll, müssen wir ihn aber auch hören, sagte er wieder.
Das wollen wir ja auch, unterbrach ihn Elisabeth.
Er lächelte traurig. Gedachte er der guten Vorsätze? War er nach den traurigen Erfahrungen im Winter vielleicht fester geworden sie auszuführen? Nein. Er stand den Rücksichten, den Verlegenheiten, der Furcht lächerlich zu werden, mißverstanden zu werden, fast noch machtloser gegenüber als im Herbst, trotzdem das Verlangen und die Sehnsucht, sich heraus zu reißen aus dem Unfrieden und Ungenügen, nur noch mächtiger war.
Ja, Elisabeth, sagte er plötzlich, wir müssen den Herrn bitten, daß er uns hilft, wir sind schwach ohne ihn, ohne ihn kann ich Dich nicht beschützen. – Er hatte sie innig umfaßt, er sah ihr fragend in die Augen und darinnen war ein Hoffen und ein Glück voll Zagen. – Wir wollen getrost sein, weil wir uns auf den Herrn verlassen, fuhr er fort. Jetzt ist Charlottchens Tod uns schon eine Hilfe, wir können uns für jetzt von aller Welt zurückziehen und für uns leben. Das soll uns eine Erquickung sein. Und der Herr wird weiter helfen, durch Glück oder Unglück, wir wollen mit allem zufrieden sein.
Elisabeth hatte ihre Hände gefaltet. Durch Glück oder Unglück! – sprach sie glaubensvoll im Herzen nach. Wie war es doch so wunderbar, daß nach diesem Ausspruch der Demuth sie ihn nur männlicher und höher und zuversichtlicher über sich sah. Ja, es giebt nichts Schöneres und Vertrauen Erweckenderes, als wenn ein kluger begabter und stolzer Mann in Demuth seinen Sinn beugt vor Einem, der größer und erhabener über ihm ist. Elisabeth fühlte wieder eine demüthige Brautliebe im Herzen. War es denn aber jetzt noch nicht zu spät, wie die kluge Großmama zu leben? Ihr Mann war zwar freundlich und gut gegen sie, war es aber doch nicht zwischen ihnen beiden ganz anders geworden? Wie war es denn mit dieser Liebe, die einst allmächtig sein sollte? Sie half ihr nichts mehr. Dem Herrn zu bringen, was sie hindern wollte in dieser Liebe, war sie erst selten und endlich gar nicht mehr in der Stimmung gewesen. Lieber war es ihr, der Noth nicht zu gedenken, sich mit und in der Welt zu helfen. Wenn sie verstimmt war, nun gut, so war sie verstimmt, bis sie durch eine Zerstreuung, durch ein Vergnügen wieder fröhlich wurde. Sie machte es gerade so, wie es die anderen Frauen machten. Wenn sie nur nicht etwas Besseres gekannt hätte, nicht die heiße Sehnsucht nach einer Brautliebe und nach dem schönen Beruf einer stillen Hausfrau immer wieder in ihr aufgetaucht wäre. Was war denn aus ihrer Liebe geworden, und wie stimmte ihr Leben zu dem Bilde einer frommen stillen Hausfrau, die selig ist in ihrem Beruf? Sie erschrak vor sich selbst. – Aber erweckte dies Bild nicht doch ihre Sehnsucht, ihr Verlangen?
Ihr Mann war von ihr abgerufen. Es war ja auch zwischen ihnen alles gut und abgemacht. Sie eilte jetzt in ihr Schlafzimmer, schloß die Thür, beugte ihre Knie und schüttete ihr Herz nach langer Zeit einmal dem Herrn aus. Sie kam nicht mit guten Vorsätzen, sie wollte nicht durch ihre Liebe glücklich sein, sie wollte nur zu des Herrn Füßen ruhen, sie wollte, wie sie es in ihrer Confirmationszeit gekonnt, nur selig hinaufschauen, nichts denken, nichts wollen, nur ihn lieb haben, nur an seiner Gnade und Barmherzigkeit hangen. Konnte sie es heute mit weniger Hingabe als damals thun? O nein, sie hatte ihm ja mit bitterlichen Thränen ein so banges Gewissen zu bringen. Er sollte ihr so viele Schuld erlassen, mußte sie nicht weit demüthiger und inniger zu seiner Liebe und zu seinem Erbarmen hinaufschauen?
Aber Herr, wirst Du auch Wunder an mir thun, kannst Du die Flitterwochenliebe zu einer Brautliebe, kannst Du aus einer zerstreuten unbefriedigten Frau eine selige stille Hausfrau machen? Ist es denn möglich, daß alle diese verkümmerten und zerwehten und vernachlässigten Kleinigkeiten wieder aufblühen können? – Ach nein, ein Leben ohne Liebes-Sonne und ohne Blumen, die darinnen sprießen, das lag wie eine schwere bange Ahnung auf ihrer Seele. Wenn auch zuweilen noch ein beweglicher Schein in ihr Leben hinein fiel, so war es doch im Ganzen recht einförmig und nüchtern geworden. Ihr Mann war ja gutmüthig und brav gegen alle Menschen und war es auch gegen sie, er war aber auch heftig und auffahrend gegen sie, und daß sie dann verstimmt und gereizt wurde, machte selten einen großen Eindruck auf ihn; er zerstreute sich und sie zerstreute sich, und die Alltäglichkeit heilte den Riß.
Wie traurig und demüthigend waren aber für Elisabeth diese Betrachtungen, wenn sie damit das Leben der Großeltern und ihr eigenes Ideal vergleichen wollte. O wären die letzten Jahre nur ein thörichter Traum gewesen, könnte sie wieder vor ihrem Hochzeitsmorgen stehen! Aber das Eine bat sie den Herrn mit den bitterlichsten Thränen: wenn sie auch ohne Sonne und ohne Blumen und ohne Brautliebe weiter gehen sollte, daß Er möchte sich nicht von ihr wenden, daß es nie möchte öde und leer in ihrem Herzen sein, daß der Herr sie möchte trösten in jedem Unglück. Ja in jedem Unglück! Im Glück ist so ein leichtsinniges und oberflächliches und innerlich unbefriedigtes Leben noch erträglich, die Welt mit ihren Zerstreuungen ist zu helfen bereit, wenn aber der Herr ein Machtwort spricht und Kraft und Muth zu solchen Zerstreuungen nimmt, wo ist dann Hilfe?