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32. Neue Kämpfe

Elisabeth saß denselben Abend beim Licht allein in der Stube, sie wollte lesen und konnte nicht, ihr Herz war wieder so schwer, so kummervoll. Sie hatte dem Herrn gern danken wollen für den Tag, und hatte auch genug zu danken gehabt. Mußte sie sich nicht gestehen, daß jeder glückliche Kampf, den sie mit ihren bösen Gedanken kämpfte, ihr immer Frieden brachte und sie reicher machte? Wenn auch diese Gedanken sich dagegen sträubten, ihr demüthiges Herz sammelte doch ein jedes verwehtes Blättlein ihres Glückes und hatte seine Freude daran. Die Ereignisse in ihren einförmigen Tagen, und wenn sie noch geringer waren als das Gutenacht-Sagen, wollte sie gern pflegen und nicht wieder durch eigne Schuld veruntreuen. Heute hatte ihr Mann, als sie nicht so lange mit den Kindern bei den Freunden bleiben wollte, sie selbst zurückgeleitet, er hatte ihr auch freundlich erzählt, daß sein Kopfweh nicht schlimmer geworden war. Er hatte mit ihr und den Kindern zu Abend gegessen, er hatte ihr Adieu gesagt, als er nachher nach dem Strand hinab ging, und als sie beim Lichte schon in der Stube saß, kam er, um ihr gute Nacht zu sagen, – sie sollte nicht wieder auf ihn warten, und es gefiel ihm noch im Vollmondschein dort auf und ab zu gehen.

Gleich nachdem er fortgegangen war, hatte ihr Kampf begonnen. Ihr Herz wollte dem Herrn danken für alle diese Kleinigkeiten, die sie beglückten; aber da ward es ihr mit einem Mal so bange. Diese armseligen Beweise der Aufmerksamkeit, der Herablassung, die sollen dich beglücken? dachte sie: o wie bist du so arm und gering geworden! Kann dir denn an der Liebe dieses Mannes so viel liegen, daß du darum betteln könntest? Hast du gar keinen weiblichen Stolz, kein Ehrgefühl mehr? – Sie dachte an den Ball, an das erste Begegnen mit ihm, wie da seine Augen die Bewegungen des Herzens nicht verbergen konnten, wie sie sein ganzes Wesen in ihrer Gewalt fühlte, wie sie später dann die kleine Königin spielte, wie sie so zuversichtlich und übermüthig gegen alle Welt die Unwandelbarkeit ihres Glückes, ihrer Macht behauptete. Und dagegen das düstere Bild in Bremen, wo er drohend vor ihr stand – – Nein, es war unmöglich, das zu vergessen, ihr Herz sträubte sich mit Gewalt, nur anzuknüpfen an ein neues Glück; Schaam und Kummer mußten sie immer verfolgen. Wie konnte sie Nachmittag so weich und mild gegen ihn sein?

»Was zerstört ist, ist zerstört,« hatte er heute zu ihr gesagt, die Worte brannten in ihrem Herzen und führten sie mit Gewalt in die entsetzliche Vergangenheit, in ihr Unglück hinein. Sie hatte täglich freilich dasselbe gedacht: was zerstört ist, ist zerstört; aber in ihrer tiefsten Seele hatte sie doch gehofft. »Abraham hat Gott geglaubt, das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet, und er hat geglaubt auf Hoffnung, da nichts zu hoffen war,« das hatte sie nur in der Sehnsucht ihres einsamen Herzens gesprochen. Ihre Hoffnung und ihr Glaube war durch das Gespräch mit ihrem Manne heute erschüttert, obgleich sie ja äußerlich viel gewonnen hatte. Ein Leben wie Tante Elisabeth führen zu müssen, so schwer tragen und dulden zu müssen, durfte sie nicht fürchten; aber war ihr das jetzt ein Trost? Nein, heute war es ihr klar geworden, daß die alte Tante das Wesen ihres Mannes, der ihrem Seelenleben ganz fern stand, den sie nur aus Vernunft und Ehrerbietung geheirathet, wohl ruhiger tragen konnte, sie hatte es kaum viel anders erwarten können und war auch nicht schuld daran; das Leben ohne Sonne und Blumen war ihr keine große Entbehrung, in der Erfüllung ihrer Pflicht und in der Liebe und dem Glauben zum Herrn war sie ganz befriedigt. Konnte Elisabeth mit ihrer Vergangenheit, mit der Erinnerung an ihr Glück und an die eigene Schuld, die es zerstörte, wirklich Frieden finden? Das zu hoffen und zu glauben war heute zu schwer. Sie war zu unglücklich, sie überlegte, warum sie nicht lieber entgegnet hatte: Ja, was zerstört ist, ist zerstört, laß uns nicht uns gegenseitig plagen durch ein Halten an Gottes Gebot, das unter solchen Umständen zu bitter ist.

Es giebt viel Unglück in der Welt, eine unglückliche Ehe ist das schwerste. Ein jedes andere lindert die Zeit, der Schmerz stumpft sich ab, hier bringt jeder Tag neue Kämpfe, jeder Kampf bringt einen neuen Stachel, der Schmerz und Groll müssen zunehmen. Auf einem solchen schlimmen Dornenwege giebt es nur eine Hilfe, nur einen Trost, das ist der Herr und sein Wort. Wer Kämpfe und Groll und jeden Stachel Ihm bringt, dem wird der Dornenweg zum Friedenswege.

Heute konnte Elisabeth den Friedensweg nicht finden, sie plagte sich damit, den Dornenweg recht zu empfinden; sie wollte sich überzeugen, daß es für sie und für ihren Mann eine Qual sei, neben einander zu leben; sie sehnte sich nach der Zeit, wo sie mit den Kindern bei den Großeltern sein sollte. Sie ließ sich von bösen und hochmüthigen Gedanken immer mehr umspinnen, bis es grau in ihr und über ihr und um sie ward. Bist du treu? fragte wohl mahnend ihr Gewissen, du sollst nicht in Zweifel rückwärts sehen, du sollst in Glauben vorwärts sehen; kann der allmächtige Gott, der ein Herz sanft und eines heftig, eines ernst und eines leichtsinnig geschaffen, nicht auch ein neues Herz schaffen? Der Herr kann es, du darfst ihn und sollst ihn darum bitten, aber soll er dich hören, mußt erst du ihn hören. Er thut auch zuweilen, als ob er nicht hören wolle, so sollst du nur fester an ihm halten. – Sie schlug traurig ihr Buch auf, den 1. August. Sie las hier:

»Aber bei der herrlichsten Verheißung muß man am längsten warten.

Zuletzt giebt Gott, wonach wir uns gesehnet.
Wenn Glaub und Lieb im Kreuz bewähret ist,
Und man Geduld an unsern Stirnen liest.«

War denn Glaub und Lieb an ihr in Kreuz bewährt? Nein, sie wollte eben noch im Anfang ungeduldig und untreu werden.

Bei allem Unglück, mag es der Herr von außen schicken, oder mag es die Sünde im Herzen schaffen, ist immer einzig und allein Gottes Wort der sichere Trost und die feste Stütze. Wenn es noch so düster in der Seele ist, wenn das Leben gar keinen Reiz hat, wenn das Herz und die Gedanken nicht wissen, woran sie sich halten sollen, wenn sie keinen Zweck, keine Zukunft vor sich sehen, wenn die Seele auch trotz alles Seufzens nicht glauben und beten kann, dann kann sie sich doch noch immer an Gottes Wort und Gebote halten, von einem eng begrenzten Tage zum andern sehen, wie sie auf dem schmalen Wege wandelt. Das Leben bringt, ohne daß wir es wollen, ohne daß wir Interesse daran haben, doch die Versuchungen für uns, es geht seinen unaufhörlichen Gang, es richtet fortwährend in Glück oder Unglück an uns die bedenkliche Frage: Willst du den Himmel oder die Verdammniß? und unser Thun ist die entscheidende Antwort. Die Kinder Gottes, sie mögen noch so schwach und sündhaft und elend sein, sie sehnen sich nach dem Himmel, und auf die entscheidende Frage sind sie zur entscheidenden Antwort bereit; sie thun, was der Herr fordert, sie achten auf seine Gebote. In diesem Thun hat das Leben schon einen Zweck, eine Zukunft, denn jeder kurze Tag schließt oft genug die Frage für uns ein: Willst du den Himmel oder die Verdammniß? Die Frage mit Zittern und Zagen immer deutlicher zu beantworten, ist Arbeit genug für jeden kurzen engbegrenzten Tag. Aber ein Arbeiter ist seines Lohnes werth. Ein jedes Kind Gottes mag nur erst thun, was ihm befohlen ist zu thun, wenn auch mit noch so kummervollen Herzen: der Segen, der denen, die den Herrn fürchten, so hundert- und tausendfach verheißen ist, wird nicht ausbleiben.

Ein Tag ging nach dem anderen hin, ein jeder Tag brachte das Ende der Badekur näher. Elisabeth mußte oft an die Abreise denken und mit sehr gemischten Empfindungen. Welche schweren Tage standen ihr wohl noch bevor? Das abgeschlossene und einförmige Leben hier war ihr lieb geworden, aber so konnte es nicht bleiben. Die Heimath, die Menschen dort, die nah- und die fernstehenden, wie sollte sich ihr Leben dazwischen gestalten? Der Verkehr hier mit den Freunden war, seitdem sie wenigstens äußerlich mit ihrem Manne unbefangener sein konnte, leichter geworden, Berührungspunkte mit der Vergangenheit und allen äußeren Verhältnissen konnten so leicht vermieden werden, man lebte für die Gegenwart und besprach meistens geistige Interessen, die für Elisabeth immer tröstlich und belehrend waren. An Gelegenheit zu inneren Kämpfen fehlte es ihr zwar keinen Tag, besonders schwer war es ihr, als anhaltender Regen und Sturm sie veranlaßte, das Leinwandhäuschen zu verlassen und im Zimmer Platz zu suchen.

Den ersten Tag richtete sie sich mit ihren Arbeiten in der Kinderstube ein, es war ihr leichter für sich, und auch der Gedanke, ihrem Manne lästig zu werden, zu demüthigend und unerträglich. Sie überlegte sich, daß er zu Hause auch seine eigene Stube habe und es ihr im letzten Jahre nie eingefallen war, sich aus Vergnügen zu ihm zu setzen, es konnte ihm also nicht auffallen, wenn sie bei den Kindern blieb. Als er aber, nachdem das Baden und das nöthige Spazierengehen vorüber war, sie in der Kinderstube sitzend fand, sah er fragend und ernsthaft auf ihre kleine Einrichtung hier, und verließ das Zimmer, ohne etwas zu sagen. Mittag sprach er nur die nöthigsten Worte, auch wenig mit den Kindern; Nachmittag, als eine gewisse Unruhe sie in sein Zimmer führte, fand sie es leer. Seine Unzufriedenheit war nicht zu bezweifeln, er sagte nur nichts, weil sie nach Gefallen leben durfte.

Sie begann nun zu überlegen, und mußte diese Unzufriedenheit ganz unverzeihlich finden. Warum konnte er sie nicht bitten herüber zu kommen, dachte sie, warum sollte sie zuerst kommen? Das war ihr ja früher, als sie seiner Liebe ganz sicher war, unmöglich gewesen, sie hatte damals gedacht: wenn er es aushalten kann, mußt du es auch können. Ja selbst nachdem der Großvater ihr gerathen, der klugen Großmama zu folgen, und sie selbst die größte Lust dazu hatte, konnte sie sich doch dazu nicht überwinden. Jetzt wo alles so ganz anders, so schwer und traurig war, jetzt sollte sie ihre unangenehmen Gedanken überwinden? Ihre bösen Gedanken sträubten sich, dagegen, sie blieb dabei: er mußte es wissen, daß sie nur aus Bescheidenheit nicht kam, nur weil sie fürchtete ihn zu stören; darum mußte er sie auffordern, zu kommen. Neben all diesen herrlichen Gedanken fühlte sie deutlich, daß sie ihm Unrecht that, daß sie angenehmen Fantasien und nicht der Wahrheit folgte. Sie fühlte recht gut, daß es ihn gefreut hätte, wenn sie vertrauend zu ihm in dasselbe Zimmer kam, seine Güte und Rücksicht gegen sie hatten Vertrauen verdient; aber es ist leichter, jemand anzuklagen, als sich selbst zu überwinden. Als sie so allein im stillen Zimmer stand, und im Sturm und Unwetter auf die kleinen grünen Hügel schaute, ward sie sehr traurig und mußte weinen.

Am anderen Morgen war es noch trüber und stürmischer, der Arzt hatte Elisabeth das Baden untersagt; während ihr Mann fort war, nahm sie entschlossen ihr Arbeitszeug, ihre Mappe, ihre Bücher, verließ die Kinderstube und richtete sich in der eigentlichen kleinen Wohnstube ein. Sie dachte: es mag kommen was da will, mein Gewissen soll wenigstens Frieden haben. Wenn sie den Tag vorher so tapfer gekämpft hätte, wäre es ihr leichter geworden; die unangenehmen demüthigenden Gefühle waren heute doppelt schwer zu tragen.

Ihr Mann kam zum Mittag erst zurück. Sie hörte wieder mit großer Spannung seine Tritte; als er in das Zimmer trat, sagte sie zuerst ihm in höchster Verlegenheit guten Tag. Er trat in das andere Fenster, er ging zur Thür, er ging wieder zurück, dann trat er zu ihr.

Warum bist Du gestern drüben geblieben, Elisabeth? fragte er ganz ruhig.

Es war ihr unmöglich etwas zu sagen, sie reichte ihm die Hand und sah ihn bittend an. Es war gerade so wie in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft, wo sie bange war ihn heftig zu sehen, und doch mit Worten nicht reden konnte.

Er schien mit dieser Erklärung auch völlig zufrieden, er erzählte ihr freundlich von einem weiten Gang, den er ganz allein nach den hohen Dünen machte, und daß er das Meer noch nie so schön gesehen als jetzt im Sturm. Elisabeth bat ihn zaghaft, sie dort auch hin zu führen, und er war dazu bereit.

Nachmittag als der Regen etwas nachgelassen, aber der Sturm Wolken und Wogen jagte, ging Elisabeth wohl eingehüllt an ihres Mannes Seite über den Strand hinauf. Auf den ersten hohen Dünen standen sie still. Das war wohl ein majestätischer Anblick, die dunkelen mächtig daherrollenden Wogen, der weiße Schaum und die Sturmvögel darüber kreisend. Das tobende Meer schien die kleine Insel verschlingen zu wollen, es brauste daher und schäumte zurück, um wieder mit neuer Macht heran zu toben. Wenn man glücklich ist, sieht sich so etwas besser an; Elisabeth ward es bange bei dem Anblick. Ihr ganzes Leben erschien ihr trüb und grau und kummervoll. Sie meinte, dies fortwährende Kämpfen mit sich selbst nicht ertragen zu können, sie hoffte fast, der Herr wolle sie durch Trübsal zu sich ziehen und dahin nehmen, wo alle Noth und aller Unfrieden ein Ende hat. Wie thöricht hatte ihr Herz an der Welt gehangen, wie hatte sie von Glück und Lust geträumt, und jetzt war sie arm und hatte nicht einmal mehr den Muth zum Glücklichsein.

Elisabeth, kannst Du mir nicht sagen, warum Du gestern bei den Kindern bliebest? bat ihr Mann freundlich.

Das würde Dich nur betrüben, sagte sie traurig.

Also wirklich – begann er und schwieg dann.

Elisabeth sah ihn nachdenklich an, ihre Traurigkeit gab ihr Muth zum Reden, sie hoffte ja auf kein Glück, sie wollte ihn aber nicht kränken, sie wollte nicht mißverstanden sein. – Ich sprach neulich erst mit Frau von Hohendorf, fuhr sie fort, daß es eine große Gefahr ist, besonders für Frauen, den eigenen Fantasien zu folgen; man kann in Verstimmungen sich Dinge vorreden, die, wenn gewissenhaft überlegt, unwahr und thöricht sind; solche Fantasien muß man nie aussprechen, weil man andern damit weh thut. Ich darf Dir darum nicht sagen, was ich mir gestern vorgeredet habe, ich müßte gleich hinzufügen, daß ich es selbst nicht geglaubt habe.

Hast Du bedacht, daß auch Männer in der Verstimmung etwas thun und sagen können, was ihnen später leid ist und was sie selbst nicht glauben möchten? fragte er.

Als sie jetzt zu ihm aufsah, war es ihm, als ob doch wohl in diesen Augen Hoffnung für ihn lebe, als ob sie die Vergangenheit vergessen und mit neuem Vertrauen und neuer Liebe zu ihm aufschauen könnten. Elisabeth war durch seine Frage seltsam bewegt, ihre hellen Augen konnten das schnelle Gefühl nicht verbergen, in dem Augenblick aber erschrak sie vor dem eigenen Herzen. – Sie standen einige Minuten schweigend neben einander, dann sprach er ruhig mit ihr vom Sturm und Meer, und führte sie sorglich nach Hause.

Nach Tische saß Elisabeth mit einer Handarbeit beschäftigt ihrem Manne gegenüber, er las ihr vor. Das hätte sie freuen müssen, aber sie konnte sich heute nicht freuen, sie hatte weder Kraft noch Muth dazu. Sie hatte sich vor Tische sehr zusammen nehmen müssen, weil seine fragenden Blicke sie beunruhigten, wenn sie öfters auf die kindlichen fröhlichen Fragen des kleinen Friedrich keine Antwort gab und sich dann selbst aus tiefer Traurigkeit aufraffen mußte. Er legte plötzlich das Buch fort und fragte theilnehmend: Elisabeth, bist Du unwohl?

Nein, – ich glaube nicht, – war ihre zögernde Antwort.

Hast Du heute einen besondern Grund traurig zu sein? fragte er ebenso.

Sie verneinte es wieder, und er nahm das Buch und las weiter.

Einen besonderen Grund hatte sie nicht. Vielleicht ist es das trübe Wetter, dachte sie tröstend. Sie konnte sich nicht losreißen, sie mußte immer an die Heimath denken, wie es dort werden sollte, und daß sie doch wohl zu schwach sei, immer so zu kämpfen. Es kamen ihr auch wunderliche Bilder, sie sah ihren Mann in den alten Kreisen, sich an seiner Seite unglücklich und schweigsam. Er mußte das unendlich langweilig finden und sie konnte doch nicht fröhlich sein, mit Adolfinen nicht scherzen und lachen. Wenn die anderen ihm dann rathen werden: da es einmal so weit mit euch ist, so laß sie lieber und sei mit einer anderen glücklich! Der Umgang dort war ein anderer als der Umgang hier, und der Einfluß ein anderer. War es einmal so weit gekommen, konnte es auch noch weiter kommen; sie wußte nicht, was der Herr mit ihr vor hatte.

Sie wurde in ihren Gedanken gestört durch das Läuten der Glocke, die eigentlich zum Baden ruft. Herr von Kadden wollte hinaus gehen und sich nach der Ursache des Läutens erkundigen, als die Wirthin ihm entgegen kam und ihm sagte, daß die Glocke die Badegäste auf das Meerleuchten aufmerksam machen solle. Sturm und volle Fluth und Meerleuchten, das mußte wohl ein großartiger Anblick sein. Elisabeth hüllte sich wieder ein und trat mit ihrem Mann auf den kleinen grünen Vorsprung, um das Wunderschauspiel anzusehen. Mit ihnen traten überall aus den kleinen Häusern die Zuschauer herbei. Auch Herr und Frau von Hohendorf kamen mit dem Pastor und einer Frau Brandes und ihrer Tochter. Beide Damen wohnten mit Hohendorfs in einem Hause und die jugendliche Tochter hatte sich an Frau von Hohendorf sehr angeschlossen.

Das Ufer war belebt von dunkeln vermummten Gestalten, und Bewunderung und Entzücken ward überall laut. Das Meer in stürmischer Bewegung, und jede brausende Woge mit Feuer gekrönt, das im Hinabstürzen mit hunderttausend schäumenden Feuertropfen die dunkele Fluth übersäete. In einiger Entfernung vom Strande, wo ein früherer Strand eine Erhöhung bildete und auch bei ruhiger See immer eine kleine Brandung zu sehen war, überstürzte sich ein haushoher feuriger Wasserfall in prächtigen, großartigen und immer wechselnden Formen in das tiefe mächtige Meer.

Elisabeth stand an der Seite ihres Mannes und schaute die Herrlichkeit Gottes an. Die Größe und Macht des Schauspiels konnte sie auch jetzt nicht erheben, ihr trauriges Herz wurde nur bedrückter. Frau von Hohendorf war so glücklich, so freudig und so bewegt neben ihr, die Allmacht und Größe des Herrn hatte für sie nichts erschreckendes, es war ja ihr Gott, der sich hier so herrlich kund gab, dem sie mit neuer Bewunderung und Liebe und festerem Glauben sich hingeben konnte. Elisabeth stand wie in einem unglücklichen Traume, es war ihr aber, als müsse sie sich dies Bild genau einprägen. Es konnten Zeiten kommen, die noch trauriger waren, wo sie auf diese als auf eine glückliche herab sah. Sie schaute auf das Feuermeer, nach den dunkeln jagenden Wolken, und schaute nach den Zügen ihres Mannes, der unbekümmert um sie mit dem prächtigen Anblick beschäftigt war und mit den Freunden darüber sprach.

Frau von Hohendorf machte den Vorschlag, noch nach den höheren Dünen zu gehen, von wo aus der Blick über das Meer noch weiter war: ein so wunderschönes und seltenes Schauspiel, das sie vielleicht nie wieder erleben würden, mußte trotz des Sturmes und unheimlichen Wetters genossen werden. Von Elisabeth wurde gar nicht angenommen, daß sie mitgehen könne, Anna bedauerte sie darum, ihr Mann wünschte ihr gute Nacht und rieth ihr freundlich, jetzt hinein zu gehen.

Sie gingen fort, Anna am Arme ihres Mannes, der Pastor führte Frau Brandes, die nicht sehr bereitwillig zu dem stürmischen Spaziergang war, Herr von Kadden reichte ihrem sechszehnjährigen Töchterlein den Arm. Elisabeth sah ihnen gedankenvoll nach, sah ihre dunkeln Gestalten unter dem Leuchtturm verschwinden, der, als die schwarzen Wolken aus einander rissen, wie ein Riese aus der Nacht heraustrat und auch wieder verschwand.

So unglücklich wie jetzt hatte sie sich noch nie gefühlt. Warum war sie nicht aufgefordert, warum durfte sie nicht am Arm ihres Mannes dahin gehen? Sie fühlte zum ersten Mal in ihrem Herzen Eifersucht, zu der sie doch kaum ein Recht hatte. Ihr Mann that nichts Unrechtes, er konnte nicht glauben, daß sie gern mit ihm ginge, da sie in der ganzen Zeit ihm nicht verhehlt hatte, daß sie lieber allein als mit ihm zusammen war. Aber wenn sie die Zeit ihrer Brautliebe betrachtete, wenn er sie da hätte sollen ruhig zurücklassen und am Arme eines jungen Mädchens spazieren gehen! Das Bild, das vorhin sie quälte, ward ihr jetzt noch deutlicher: ihr Mann konnte unmöglich ihre unglückliche Nähe ertragen, und sie konnte doch nicht glücklich und fröhlich sein. Sie weinte bitterlich.

Als die Zuschauer in ihrer Nähe den Strand verlassen, setzte sie sich noch auf den Vorsprung, schaute wie im Traum auf das brausende Feuer unter sich, und vertiefte sich in quälende Gedanken. Ihre Vergangenheit, ihre Fröhlichkeit, ihre Zuversicht – und ihre Untreue, ihre Untreue, trotz des Beispiels und der Ermahnungen und der Liebe der Großeltern, trotz des Kummers ihrer Mutter, trotz der Warnungen Emiliens, – alles stand wieder so anklagend vor ihr. Sie konnte sich nicht entschuldigen und wollte es auch nicht, aber sie hätte sich so gern trösten lassen.

Nahende Stimmen schreckten sie auf, sie kannte die Stimmen wohl und eilte in das Haus. Sie bereute es, so lange außen geblieben zu sein, und fürchtete ihren Mann noch sehen zu müssen; sie hatte aber kaum ihr Hüllen abgeworfen, als er in das Zimmer trat. Sie entschloß sich, wenigstens ihre Stimmung ihm zu verbergen: wenn er am Arme eines jungen Mädchens fortgehen, sie allein und ohne Theilnahme zurücklassen konnte, durfte er nicht ahnen, was ihr Herz bewegte; es wäre ihm gewiß nur drückend und unangenehm gewesen und sie hätte sich auch schämen müssen.

Warest Du bis jetzt außen? fragte er beim Eintreten verwundert.

Ich konnte mich nicht trennen, war ihre Antwort ohne aufzusehen.

Hat es Dich gefreut? fragte er weiter und beobachtete sie aufmerksam.

Wenn sie jetzt mit dem Kopf genickt hätte und noch einmal gute Nacht gesagt, dann wäre die Sache am kürzesten abgemacht. Aber eine Unwahrheit wollte sie nicht sagen, sie nickte nicht, sie schüttelte den Kopf.

Es hat Dich nicht gefreut? fagte er gedankenvoll, dann trat er näher. Elisabeth, sieh mich an, sagte er bittend, sage mir was Du hast.

Es war mir so einsam außen! entgegnete sie traurig.

Hättest Du gern gesehen, wenn ich bei Dir blieb? fragte er zagend.

Ach ja, – sagte sie ebenso und hielt mit Gewalt ihre Thränen zurück.

Sein Herz zitterte vor Freuden, er nahm ihre Hand und sagte: Wenn ich das gewußt hatte, wäre ich nicht fort gegangen, es soll Dir nie mehr einsam sein. Wenn ich es nur immer wüßte! fuhr er fort und in seinem Ton lag ein leiser Vorwurf. Wenn Du aber nicht reden kannst, will ich es zu errathen suchen, setzte er hinzu.

Elisabeth stand wieder wie im Traume. Sie hatte ihm Unrecht gethan. Wie gern hätte sie etwas gesagt, aber sie konnte nicht, und doch schien er eine Antwort zu erwarten. Es war ihr bange. Sie sah endlich zu ihm auf und sagte: Verzeihe mir! – Das war ein Wort, was ihr jetzt so viel auf den Lippen schwebte, nicht allein zu ihrem Mann, auch zum Herrn, ach fast zu allen Menschen, die ihr nahe standen, selbst auf Johannen erstreckte sich das Gefühl: das gute Mädchen hatte genug von ihrem Eigensinn und ihren Launen leiden müssen, jetzt, wo sie demüthig vor dem Herrn und gegen ihren Mann sein wollte, war sie es auch gegen ihre Dienstboten.

Ihr Mann schien mit dieser kurzen Antwort ganz zufrieden. Du bist heute schon den ganzen Tag traurig gewesen, sagte er theilnehmend, ich möchte Dich gern trösten, aber ich verstehe es schlecht, ich will Dir nur etwas vorlesen. Er griff zur Bibel, Elisabeth sah ihn freudig an. Sie setzten sich beide, er schlug den 121. Psalm auf und las:

»Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt. Meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht. Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht. Der Herr behütet dich, der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand, daß dich des Tages die Sonne nicht steche, noch der Mond des Nachts. Der Herr behüte dich vor allem Uebel; er behüte deine Seele. Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.«

Als er geendet, sah er sie fragend an und sagte dann: Ist es Dir noch einsam und traurig?

Nein, entgegnete sie gedankenvoll.

Du mußt wieder lernen Deine Noth dem Herrn bringen, wie Du es früher so gut konntest, sagte er leise.

Elisabeth entgegnete nichts und sah vor sich nieder. Sie kämpfte, ihn um etwas zu bitten, und wagte es doch nicht. Wenn sie es aber unterließ, so war es Unrecht, und es mußte sie vielleicht später sehr gereuen. Lieber Otto, bat sie plötzlich, willst Du mir jeden Abend etwas vorlesen?

Recht gern will ich das, entgegnete er schnell.

Aber auch wenn wir zu Hause sind? fügte sie stockend hinzu.

Immer und immer, sagte er wieder.

Beide schwiegen jetzt. Sie stellte die Bibel fort, sie sagte ihm noch einmal gute Nacht und war sehr getröstet.

Warum war sie denn so sehr getröstet? warum waren denn die traurigen Vorstellungen wie Nebelbilder verflogen? Wenn er jeden Abend mit mir in der Bibel liest, so ist das ein Band was dich und ihn zusammen mit dem Herrn verbindet, mit dem Herrn und mit der Furcht Gottes im Herzen wird er dir nie untreu werden, wenn er auch nicht glücklich mit dir ist. Das waren die einfachen richtigen Gedanken, vor denen alle Unruhe weichen mußte, Gedanken, die ihr Trost und Frieden brachten. Daß ihr Mann seit der Gesellschaft neulich jeden Mittag laut betete, und daß er mit ihr in der Bibel lesen wollte, waren zwei Ereignisse für jeden Tag, für die sie dem Herrn recht zu danken hatte. So immer fester gerüstet, getraute sie sich auch in ihren alten Kreis zu treten.

Warum aber, fragte ihr Gewissen, hatte sie nicht gleich nach ihrer Verheiratung sich gezwungen, warum hatte sie damals die Scheu nicht überwunden und an ihren Mann dieselbe Bitte gerichtet wie sie es heute gethan? Ihr zu Liebe hätte er es sicher gethan, aber sie hielt es damals für unnöthig, für unwichtig, das Band, was ihre Herzen verbunden, brauchte der Herr nicht zu halten, es war fest genug, konnte auch ohne des Herrn Hilfe der Welt von außen und der Sünde im Herzen widerstehn. – Verzeihe mir! schloß sie ihre Betrachtungen, die Worte auf den Lippen schlief sie friedlich ein.


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