Helmuth von Moltke
Unter dem Halbmond
Helmuth von Moltke

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6.
Spaziergang durch Tophane – Öffentliche Briefschreiber – Galata

Konstantinopel, den 4. Januar 1836

Ich schrieb dir in meinem letzten Brief, dass mein Aufenthalt sich hier unerwartet verlängert. Der Seraskier lässt mich jede Woche ein paarmal rufen; da die Türken aber jetzt den Ramadan feiern, wo alle Geschäfte des Tages über ruhen, so finden die Besuche des Nachts statt. Das zehnrudrige Kaik des Seraskiers erwartet mich zu Galata und am jenseitigen Ufer des Hafens finde ich seine Pferde. Ebenso geht es zurück. Voraus schreitet ein Kawass oder Polizeisoldat, der mit seinem langen Stock unbarmherzig auf alles losschlägt, was nicht aus dem Wege geht. Dann folgt der Imrohor oder Stallmeister des Paschas und zwei Fackelträger zu Fuß; dann ich auf einem schönen türkischen Hengst mit Tigerdecken und goldenen Zügeln, begleitet vom Dolmetscher.

Was die Lebensweise hier anbetrifft, so ist sie außerordentlich einförmig. Nach dem Frühstück mache ich bei gutem wie bei schlechtem Wetter eine Promenade, gewöhnlich durch die Hauptstraße von Pera zu dem großen Begräbnisplatz. Die hohen hundertjährigen Zypressen beugen unter der Last des Schnees ihre grünen Zweige zur Erde und die zahllosen aufrecht stehenden Leichensteine sind mit einer Eisrinde wunderbar überzogen. Da, wo der Weg aus dem Zypressenwald tritt, öffnet sich eine herrliche Aussicht auf den Bosporus. Unten liegt Beschik-tasch, ein Schloss des Großherrn, denn das alte Serai hat er für immer verlassen, weil daran zu fürchterlich blutige Erinnerungen kleben; auch ist ihm prophezeit, dass er dort sein Leben enden werde. Jenseits erheben sich die schneebedeckten Berge Asiens, Skutari, die Vorstadt mit 100 000 Einwohnern und mitten im Wasser der Leanderturm.

Begleite mich nun auf meiner Wanderung, die steile Höhe, welche der Begräbnisplatz krönt, hinab an das Ufer des Bosporus. Wir bleiben ein Weilchen stehen und sehen den Wellen zu, die sich mit Macht an den steinernen Kais brechen und schäumend weit über die vergoldeten Gitter bis an den Kiosk des Großherrn spritzen. Griechen sammeln die Austern, welche die bewegte See ans Ufer wirft, und ganze Herden von Hunden verzehren die Reste eines gefallenen Pferdes. Wir wenden uns nun rechts an einem prachtvollen Marmorbrunnen vorüber und treten in eine lange Reihe von Kaufläden, deren Dächer oben fast zusammenstoßen. Dort sind es vor allem die Esswaren und Früchte, die meine Aufmerksamkeit erregen; wüsste ich nur ein Schiff, so würde ich euch einen schönen Korb füllen. Da gibt es Datteln, Feigen, Pistazien, Kokosnüsse, Manna, Orangen, Rosinen, Nüsse, Granatäpfel, Limonen und viele andere gute Sachen, von denen ich die Namen nicht einmal weiß. Da gibt es Honigbrei, Reisspeisen, Ziegenrahm und Traubengelee, alles aufs Reinlichste und Beste bereitet; dann kommt der Gemüsemarkt mit Blumen, Kohl, Artischocken, ungeheuren Melonen, Kürbissen, Karden und Pasteken. Gleich daneben liegen die Erzeugnisse des Meeres: ungeheure Fische wie der riesenhafte Thon, die silbernen Palamiden, der Goldfisch, die Steinbutte und alle die Meeresungeheuer, die doch so gut schmecken, die Austern, Hummer, Krebse und Krabben.

Zwischen mehr als hundert Läden, in denen Tschibuks oder Pfeifenrohre, Köpfe aus rotem Ton und lange Spitzen aus Bernstein gefertigt werden, kommt man endlich nach Tophane, dem Viertel der Artilleristen. Die von dem jetzigen Großherrn erbaute Moschee Nusrethieh (die Siegreiche) zeichnet sich aus durch ihre beiden Minaretts, die hundert Fuß hoch sind und deren unterer Durchmesser doch nicht über neun Fuß misst. Wie gut müssen solche schlanken Türme gebaut sein, um Stürmen, oft auch Erdbeben widerstehen zu können. Im Vorhof, der mit schönen Säulen umgeben ist, waschen, trotz der kalten Witterung, in langen Reihen von Wasserbecken die andächtigen Moslems Gesicht, Hände und Füße, denn sonst wird das Gebet nicht akzeptiert. Nach dieser etwas frischen Prozedur kniet der Gläubige, das Gesicht gegen Mekka gewendet, nieder, sagt seinen Spruch, zieht seine Stiefel an und geht davon.

Nahebei ist die große Moschee Kilidsch-Aly. In dem schönen Vorhof befinden sich Kaufläden mit anmutigen Sachen. Unter einem Bogen sitzt ein türkischer Briefschreiber, ein Stück Pergament auf dem Knie und eine Rohrfeder in der Hand. Frauen in weiten Mänteln und gelben Pantoffeln, das Gesicht bis auf die Augen verhüllt, erzählen ihm mit lebhaften Gebärden ihr Anliegen und mit regungslosen Zügen schreibt der Türke das Geheimnis des Harems, eine Prozessangelegenheit, eine Bittschrift an den Sultan oder eine Trauerpost, faltet das Blatt zusammen, wickelt es in ein Stück Musselin, drückt ein Siegel von rotem Wachs darauf und empfängt 20 Para für eine Freudenpost wie für eine Todesnachricht.

Die zahllosen Cafés gewähren jetzt einen eigenartigen Anblick, alles drängt sich um die Feuerbecken, aber der liebliche Dampf des Kaffees und der Pfeife fehlt; es ist das Fest des Ramadan und vor Einbruch der Nacht darf kein Rechtgläubiger essen, trinken, Tabak rauchen oder sich nur den Geruch einer Blume erlauben. Die Türken schleichen langsam in den Straßen herum und schneiden grimmige Gesichter vor Hunger und ungewohnter Kälte. Sobald aber die Sonne hinter der Moschee Suleimans des Prachtvollen untergeht, rufen die Imams von allen Minaretts: »Es gibt keinen Gott als Gott«, und nun ist es sogar die Pflicht des Moslems, die Fasten zu brechen.

Wir sind nun bis an die Mauern von Galata gekommen und steigen zu jenem großen weißen Turm empor, von dem man wieder einen prachtvollen Anblick auf die Stadt jenseits des Hafens, auf Skutari, jenseits des Bosporus, und auf das Marmarameer, die Prinzeninseln und den asiatischen Olymp hat. Rechts breitet sich die mächtige Stadt von einer halben Million Einwohner aus.

Die äußerste Spitze mit den hohen Mauern, den vielen Kuppeln und dunkelgrünen Zypressen ist das Seraj, eine Stadt für sich mit 7000 Einwohnern, mit ihren eigenen Mauern und Toren. Dicht daneben wölbt sich die mächtige Kuppel der Sophienkirche, jetzt eine Moschee, welche das Vorbild zu so vielen anderen Kirchen, selbst zu St. Peter in Rom, geworden ist. Weiter rechts ragen die sechs prächtigen Minaretts der Moschee Sultan Achmeds hervor. Wegen ihrer schlanken Form sehen diese Minaretts ungleich höher aus als die höchsten Türme unserer christlichen Kirchen. Den höchsten Punkt aber bildet der schöne Turm des Seraskiers. So weit das Auge reicht, nichts als flache Dächer, rote Häuser und hohe Kuppeln, überragt von der Wasserleitung Kaiser Valens, welche mitten durch die Stadt geht und noch heute, nach sechzehn Jahrhunderten, das Wasser für hunderttausende von Menschen herbeileitet. Durch die weiten Bogen flimmert jenseits der Hellespont, und die asiatischen Berge schließen dies Bild.


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