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42.
Begnadigt

Sieger gab sich alle Mühe, seines Freundes Lebensmut wieder zu heben; doch hatte er zunächst wenig Erfolg.

»Niemand kann den Fluch des Brudermörders von mir nehmen!« sagte er immer wieder dumpf.

»Doch!« entgegnete der Ingenieur, als Helling wieder einmal diese hoffnungslosen Worte äußerte: »Hat nicht Gott selber von Kain den Fluch genommen und ihn gezeichnet, damit niemand seine Tat räche, nachdem der Brudermörder seine Schuld bekannt und sein Verzweifeln an der Möglichkeit ihrer Vergebung ausgesprochen hatte.«

»Das Kainszeichen!« sagte der Leutnant schaudernd: »Ja, ich trage es unsichtbar mit mir herum: unstet und flüchtig muß ich sein auf Erden.«

»Freund, du verkennst das Kainszeichen, wie so viele, die es als ein schreckliches Zeichen der Blutschuld ansehen, da es doch vielmehr ausdrücklich als ein Zeichen der Begnadigung dargestellt wird, zum Schutze des Mörders vor Rächerhand. So hat auch Jesus am Kreuz dem reuigen Schächer vergeben. Wozu sind wir Christen, wenn wir an der Gnade verzweifeln wollen? Es hat keinen Zweck, ein lähmendes Schuldbewußtsein durch das ganze Leben gleich einer Kette zu schleppen: der Reuige muß an die Vergebung glauben und in der Kraft dieses Trostes ein neues Leben anfangen. Am Leben verzweifeln und nur den Tod herbeiwünschen, ist eine neue Schuld, die uns nur hindert, die Pflichten zu erfüllen, die Gott uns noch angewiesen hat.

»Denke dir, wenn Paulus in solcher Verzweiflung, wegen seiner Schuld am Tode des Stephanus und so vieler anderer von ihm verfolgter Christen, hätte dahinleben und nur noch den Tod suchen wollen, welch ein herrliches, gewaltiges Werk wäre unvollbracht geblieben!«

»Ja, wenn ich ein Paulus wäre!«

»Du brauchst nur Siegmund von Helling zu sein, der noch so viel für das Wohl seiner Mitmenschen tun kann, der mir und den Meinigen ein solcher Trost, eine so unschätzbare Hilfe und Stütze gewesen ist, in so vielen Jahren der Gefangenschaft, ein treuer Genosse unserer Leiden, ein Lehrer meiner Kinder. Lebe, wolle leben, damit du uns ferner ein Trost sein kannst und später noch vielen Menschen nützen könnest.«

»Wenn ich es recht überlege, so sprichst du wahr,« gab der Leutnant nachdenklich zu. »Meine Sehnsucht nach dem Tode entspringt wohl einer gewissen Selbstsucht, dem Wunsch nach Erlösung von meinen Gewissensqualen, ohne Rücksicht auf meine Mitmenschen und das, was ich für sie noch tun könnte. Ja, männlicher und edler ist es, auch ein schweres Leben geduldig und stark zu tragen und es dem Dienste Gottes und der Nächsten zu weihen, was ja beides auf eines herauskommt. Diese Erkenntnis soll mich aufrecht erhalten und mich befähigen, auch die Qualen dieses schauerlichen Gefängnisses zu ertragen. Wahrhaftig, ich muß mich ja sonst vor dir und Jussuf schämen, die ihr so heldenmütig in dieser Hölle ausharret, obgleich ihr ein solches Schicksal nicht verdient habt, wie ich mir bewußt bin, es verdient zu haben!«

Inzwischen drängte Emin Gegr um Salama den Kalifa täglich, er solle die Gefangenen hinrichten lassen, zuvor aber verstümmeln.

Allein Abdullahi ließ sich nicht dazu herbei, und er hatte zu dieser Weigerung wohlerwogene Gründe.

»O Kalifa,« sprach der Einäugige eines Tages wieder: »Du wirst es noch bereuen, meinem Rate nicht gefolgt zu haben.«

»Emin Gegr spricht nach seinem Verstand, der Nachfolger des Mahdi el Monteser handelt nach seiner eigenen Einsicht. Hinrichten kann ich sie lassen, wenn es mir gefällt. Reut es mich aber hernach, sie getötet zu haben, dann kann ich sie nicht mehr ins Leben zurückrufen. Sage mir, Um Salama: wer wird mir Kanonen bauen, wenn ich Abd el Ziger und Ismain el Heliki köpfen oder hängen lasse?«

»Du hast ja gesehen, daß der Betrüger dir kein brauchbares Geschütz liefern will!«

»Allah sieht die Gedanken der Menschen, Emin Gegr kann sie nicht sehen: wie willst du erkennen, ob er nicht gewollt oder aber nicht gekonnt hat? Ich habe nicht gesehen, daß er mir keine guten Kanonen bauen will, ich habe nur gesehen, daß er mir eine Kanone gebaut hat, und daß diese nicht gut war. Abd el Ziger hat aber nicht gelernt, Geschütze herzustellen. Ist seine erste Kanone zu schwach gewesen, wird er, nachdem er das gesehen, nicht stärkere bauen?«

»Wenn er das wollte!«

»Kann ich ihn nicht zwingen, es zu wollen? Er wird bald genug haben vom Seier!«

»Der Wille des Menschen ist frei, niemand kann ihn zu etwas zwingen.«

»Allah will, was er will; allein die Menschen müssen wollen und tun, was Allah im Buche des Schicksals ausgezeichnet hat. Hat Allah gewollt, daß die Kanone zerspringt, was hat Abd el Ziger dagegen tun können?«

Emin Gegr mochte einwenden, was er wollte, der Kalifa hatte seine eigene Meinung.

Er ließ jetzt die drei Gefangenen alle Tage vor sich kommen und suchte, sie zum Islam zu bekehren. Diese Stunden, die sie außerhalb des Vorhofes der Hölle zubringen durften, waren ihnen eine rechte Erquickung, auch sahen sie die Bekehrungsversuche des Tyrannen als ein immerhin gutes Zeichen an: offenbar war ihre Hinrichtung noch durchaus keine beschlossene Sache, sonst wären diese Bemühungen sinnlos gewesen. Denn daß Abdullahi sie lediglich zum »wahren Glauben« bringen wollte, damit sie nach einem gewaltsamen Tode ins Paradies kämen, war undenkbar.

Andererseits konnte allerdings der hartnäckige Widerstand, den sie allen seinen Versuchen entgegensetzten, ihren Tod zur Folge haben. Dieser Gefahr waren sie sich wohl bewußt, doch hätte sie nie vermocht, sie dazu zu bewegen, ihren Christenglauben zu verleugnen.

Der Kalifa konnte jedoch nicht umhin, ihre Standhaftigkeit, die durch keine Leiden noch Drohungen zu brechen war, innerlich zu bewundern. Mannhaftigkeit und Heldenmut flößten ihm immer Hochachtung ein.

Auch sagte er sich, daß Männer, die ihrem Glauben so treu blieben, daß keine Todesfurcht sie von ihm abbringen konnte, viel vertrauenswürdiger seien als solche, die so leicht, wie Um Salama, ihren himmlischen Herrn verrieten und ihren irdischen nicht minder. Hatte der Einäugige geholfen, Khartum zu verraten, hatte er um irdischer Vorteile willen seinen Glauben gewechselt, so würde er sicher auch den Kalifa verraten, sobald ihm dies vorteilhaft erschien.

Solche Erwägungen bewogen den Herrscher, wieder einen Versuch zu machen, ob Sieger nicht doch noch seine Wünsche bezüglich der Geschütze erfüllen werde.

Er ließ ihn eines Tages allein vor sich bringen und fragte ihn: »Abd el Ziger, meine Gnade und meine Freundschaft leuchteten dir, mein Herz hat dir vertraut. Ich habe dich zum Herrn über viele hundert Sklaven gemacht, ich habe dir Geld gegeben, soviel du brauchtest, – warum hast du mich betrogen und mir eine Kanone gebaut, die nichts wert war?«

»Herr, ich habe dir gesagt, daß ich die Kunst, Geschütze herzustellen, nicht gelernt habe: ist es ein Wunder, daß mein erster Versuch nicht gelang?«

»Das wundert mich nicht, aber warum bist du heimlich entflohen und hast den Berg durchgraben in langer Arbeit, so daß ich sah, du hast immer nur gedacht, zu fliehen und die Flucht vorbereitet.«

»Ich wußte, daß meine Versuche fehlschlagen könnten und daß sich dann dein Zorn gegen mich und meine schuldlosen Lieben wenden werde, darum wollte ich uns einen Weg zur Rettung schaffen.«

»Du hattest mir aber versprochen, nicht zu fliehen: wie soll ich deinen Worten noch trauen?«

»Herr, ich gelobte dir, keinen Fluchtversuch zu machen, solange du uns nicht an Leib und Leben bedrohtest. Nun hast du mir über gedroht, du werdest uns alle verstümmeln und töten lassen, wenn ich dir nicht in drei Tagen eine brauchbare Kanone liefere. Allein ich hatte erkannt, daß mein Werk noch nicht so war, wie es sein mußte, daß ihm noch die nötige Festigkeit fehlte und es bald zerspringen werde. Darum mußte ich suchen, die Meinigen vor deinem Zorn zu retten. Du hast uns bedroht, darum hast du selber unseren Vertrag gebrochen und er konnte mich nicht länger binden.«

»Deine Worte sind Wahrheit! Jetzt aber künde mir: nachdem du erkannt, daß dein erster Versuch fehlerhaft war, könntest du das nächste Mal den Fehler vermeiden und bessere Geschütze bauen, die nicht zerspringen?«

»Ich glaube, daß es mir gelingen würde.«

»Und wenn ich dich frei ließe samt Ismain el Heliki und Jussuf, würdest du mir brauchbare Kanonen schaffen?«

»Ich würde es versuchen und hoffe, daß es mir diesmal gelingt, wenn du Geduld hast und mir die nötige Zeit lässest.«

»So will ich dir noch einmal vertrauen; aber versuche nicht, mich zu täuschen, denn das wäre dein und der Deinen Verderben. Daß ihr nicht wieder entfliehen könnt, dafür werde ich sorgen: deinen Tunnel durch den Margayaberg, den du selber zur Hälfte zerstört hast, werde ich ebenso bewachen lassen wie den Eingang des Tales. Aber du sollst mir auch Gewehre machen.«

»Gut, Herr! Doch gib mir einige zur Probe, daß ich sie zerlege und ihr Geheimnis kennen lerne.«

»Du sollst sie haben!«

Damit endete dieses folgenreiche Gespräch: unsere Freunde wurden wieder in Freiheit gesetzt und bezogen aufs neue die Fabrik, zur größten Freude Osmans und Fatmes, aber auch Alis und der Arbeiter, die wieder ihre Arbeit unter dem geliebten Herrn aufnehmen durften.«

Bald war die Fabrik wieder im Betrieb, und es herrschte die alte rege Tätigkeit in ihren Mauern.

Sieger war entschlossen, diesmal brauchbare Kanonen fertigzustellen, nicht aber, um sie dem Tyrannen zu liefern, daß er damit seine bluttriefende Herrschaft befestige und wohl gar noch europäische Heere zusammenschieße, sondern um ihm womöglich Trotz zu bieten.

So hatte er gleichzeitig mehrere Stück in Arbeit, hütete sich jedoch, eines vor den anderen zu vollenden.


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