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26.
Die Erlösung von dem Übel

Einige Wochen nach dem so erschreckenden und doch so harmlos verlaufenen Vorfall mit den Schlangen, saßen unsere Freunde wieder am Sonntagnachmittag auf ihrem Lieblingsplätzchen am Bach.

Sie unterhielten sich über die Fortschritte, die der Maulwurf gemacht hatte, und die Aussichten auf einen baldigen Durchbruch, der ihnen einen Weg zur Flucht öffnen würde.

Helling fragte seinen Freund: »Wie lange glaubst du, daß es noch dauern kann, bis der Durchschlag erfolgt?«

»Zwei Monate zum mindesten, im schlimmsten Falle deren acht. Der Spielraum ist ziemlich weit, weil mir die nötigen Anhaltspunkte fehlen, um genau zu berechnen, wie weit es von der Höhle bis zum Tale ist, in das mein Tunnel münden soll. Erschwerende Zufälle befürchte ich jetzt nicht mehr: solche könnten allerdings die Vollendung des Werkes um Monate verzögern, wenn nicht ganz in Frage stellen. Für alle Fälle habe ich übrigens jetzt schon alle Vorbereitungen zur Flucht getroffen und die Ballen gepackt, in denen wir das Notwendigste mitnehmen.«

»Wie denkst du dir das eigentlich?« fragte der Leutnant. »Wir können uns doch auf einer Flucht zu Fuße nicht mit allem Bedarf beladen, mit Lebensmitteln und Wasserschläuchen?«

»Daran ist natürlich nicht zu denken; doch werden wir in der Bayudasteppe am Wadi Mokattam gewiß auf Araberstämme treffen, von denen wir Kamele, Speise und Wasserschläuche einhandeln können; denn das betreiben sie dort als Gewerbe. An Geld fehlt es uns ja glücklicherweise nicht. Eine Flucht durch die Wüste ohne Kamele wäre aussichtslos.«

Nachdem sie noch eine Weile über diesen Gegenstand geredet hatten, bat Helling den Ingenieur, nunmehr das so oft unterbrochene Gespräch über das Übel in der Welt zum Abschluß zu bringen, und seinen begierigen Zuhörern auseinanderzusetzen, auf welchem Wege er glaube, daß die Menschheit zu einer Erlösung von allem Übel gelangen könne.

Sieger ergriff alsbald das Wort, indem er begann: »Nach allem, was wir bisher über diesen Gegenstand geredet haben, werden wir zugeben müssen, daß weitaus das meiste und schlimmste Übel dasjenige ist, das wir selber verschuldet haben oder das andere Menschen uns zufügen. Das sind also vermeidliche Übel. Schalten wir diese alle aus und nehmen wir an, daß kein Mensch mehr dem anderen etwas Böses zufügen würde, weder mit der Tat, noch mit Worten oder auch nur Mienen und Gebärden, ja nicht einmal in Gedanken, daß alle einander von Herzen lieben lernten, wie es Gottes und Jesu Gebot ist, daß jeder nur noch bestrebt wäre, dem anderen Freude zu machen, Gutes und Liebes zu erweisen und ihn glücklich zu machen, – was bliebe dann noch übrig an Übel in der Welt?«

»Nichts als die wenigen Gebrechen und Krankheiten, Unglücksfälle und Schicksalsschläge, an denen kein Mensch schuld trägt,« beeilte sich Helling zu erwidern.

»Gut! Es könnte also noch ausnahmsweise einige Blindgeborene, Taubstumme und von Geburt an verkrüppelte Menschen geben. Aber schon jetzt kann man sehen, daß die meisten dieser ›Unglücklichen‹, wie wir sie zu nennen pflegen, durchaus nicht so unglücklich sind. Ich habe mich oft genug gewundert, wie fröhlich, ja wie glücklich gerade Blinde und Taubstumme zu sein pflegen, besonders aber auch Blödsinnige und Geistesschwache. Wenn nun vollends alle ihre Mitmenschen wetteiferten, diesen Armen, sowie den wenigen Kranken oder Verunglückten, die es noch gäbe, alle Liebe zu erweisen, gewiß! auch sie alle könnten glücklich sein: Hilfe, Trost, alle möglichen Erleichterungen, Freundlichkeiten und Freuden würden ihnen in besonders reichem Maße erwiesen.«

»Das ist wahr!« sagte Josef: »Und daß dann auch Alter und Tod keine schlimmen Übel mehr wären, haben Sie schon gesagt und es ist sehr wohl glaubwürdig.«

»Bleiben also noch die Schicksalsschläge,« bemerkte der Leutnant.

»Ja!« sagte Sieger: »Aber was gäbe es noch für schwere Schicksalsschläge? Verluste an Hab und Gut? Die uns liebenden Mitmenschen würden sich beeilen, sie uns zu ersetzen, Krankheit, Unglücksfälle oder der Tod eines unserer Lieben? Unser Glaube, unsere Hoffnung würden sie uns erleichtern und die herzliche Teilnahme und Liebe unserer Nächsten würde ihnen den bitteren Stachel nehmen. Ich bin aber der festen Überzeugung, daß alle unvermeidlichen Übel von selber verschwinden würden, sobald kein Mensch dem anderen mehr Böses zufügen würde, denn sie stehen ja doch in der Hand unseres himmlischen Vaters, der sie als Zucht- und Erziehungsmittel braucht, und auf sie verzichten könnte und würde, sobald wir dieser Zucht und Züchtigung nicht mehr bedürfen. Da würden Krankheiten, Unfälle und Gebrechen aus der Welt verschwinden, wie Jesaias sagt: ›Ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk: und soll nicht mehr darinnen gehöret werden die Stimme des Weinens, noch die Stimme des Klagens. Es sollen nicht mehr da sein Kinder, die ihre Tage nicht erreichen, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern die Knaben von hundert Jahren sollen sterben.‹«

»Das Schwierige ist es eben, die sündigen Menschen dazu zu bringen, daß sie einander nichts Böses mehr zufügen,« warf Helling ein.

»Gewiß! Zunächst müssen wir lernen, bei uns selber anfangen und nicht immer nur die Anderen tadeln, ermahnen und anders machen wollen. So lange jeder die Welt verbessern will, sich selber aber nicht bessert, wohl auch meint, es nicht nötig zu haben, weil seine Fehler ihm nicht so wehe tun, wie die Fehler der Anderen, so lange wird auch die Welt nie besser, weil jeder einzelne dieser unverbesserlichen Weltverbesserer ein Teil dieser Welt ist. Das ist auch der Fluch unseres Parteiwesens: alle behaupten, bessere Zustände schaffen zu wollen, verfolgen aber nur selbstsüchtige Ziele, wollen ihre Mitmenschen, die Zustände und die Welt so umwandeln, daß sie den Vorteil und Genuß davon hätten, aber sich selber zu bessern, daß auch die anderen eine Freude an ihnen haben könnten, daran denken sie nicht im entferntesten.«

»Ich glaube,« sagte der Leutnant, »wenn wir selber niemand mehr Böses zufügten, so wären wir so glücklich und zufrieden mit unserem guten Gewissen, daß wir fröhlich Unrecht dulden und alle Lasten des Lebens tragen könnten. Ach! hätte ich das nur früher erkannt, so müßte ich keine so schwere Bürde durchs Leben schleppen!«

»Sollen wir nur uns selber bessern?« fragte Josef, »und die Andern sein lassen, wie sie wollen?«

»Nein!« erwiderte Sieger: »Wir sollen Alle mild und liebevoll mahnen und auf den Weg des Guten zu führen suchen, der ja auch für sie der einzige Weg zum Glück ist. Aber, wie Onkel Helling sagte, das ist sehr schwierig. Da müssen wir vor allem an der Jugend arbeiten, die leichter zu lenken, zu belehren und zu überzeugen ist. Die Schule müßte den alten chinesischen Wahn aufgeben, daß alles Heil an Wissen, Wissen und noch mehr Wissen hänge, und daß glänzende Prüfungsergebnisse höheren Verstand, höhere Bildung, höhere Gaben und Fähigkeiten gewährleisten. Das ist zurzeit die herrschende Meinung bei uns, wie sie es in China seit Jahrtausenden ist. Nur haben die Chinesen vor uns den unendlichen Vorzug voraus, daß sie die Erziehung zur Elternverehrung und zur Höflichkeit gegen jedermann noch höher schätzen, als den eitlen Bildungswahn, der auf aufblasender Vielwisserei beruht.«

Hier fiel Helling wieder ein: »Ich glaube auch, wenn unsere Schule zu einer Bildungsanstalt für Geist und Gemüt würde, auf lebendig christlicher Grundlage für alles Edle und Gute begeistern würde, statt sich vor allem mit der Überlastung des Gedächtnisses zu bemühen, so würde bald ein besseres und glücklicheres Geschlecht heranblühen. Allein die Erlösung von allem Übel, wie du sie erträumst, halte ich für ausgeschlossen, so wie die Menschen nun eben leider sind.«

»Nicht aber wenn sie anders werden, und das können sie. Denn zweifellos hat es in grauer Vorzeit Zeiten gegeben, wo die Menschen besser und daher glücklicher waren, oder vielmehr wirklich gut und deshalb auch wirklich glücklich gewesen sind?

»Das ist die Sage vom verlorenen Paradies,« seufzte Onkel Siegmund.

»Es handelt sich nicht um Sagen, sondern um geschichtliche Tatsachen, sonst wären diese Erinnerungen nicht so lebendig bei allen Völkern des Erdballs.«


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